Thomas von Aquin: Ein theologisch-philosophisches Auslaufmodell?
Carlo Crivelli, Public domain, via Wikimedia Commons
Podcast vom 11. Juni 2024 | Gestaltung: Henning Klingen*
Es gibt Autoren, um die machen Theologie- und vermutlich auch Philosophie-Studierende heute aus den unterschiedlichsten Gründen einen weiten Bogen. Karl Rahner gehört dazu. Das haben wir in einer früheren Podcastfolge schon mal besprochen. Aber gerade die als Klassiker gehandelten Autoren haben es tatsächlich oft schwer, sich heute Gehör zu verschaffen. Was soll mir als junger Studierender bitte ein Platon, ein Aristoteles oder ein Thomas von Aquin sagen?
Auf letzteren wollen wir heute etwas genauer blicken, denn wir sind gerade sozusagen eingezwängt in ein kalendarisches Thomas-Gedenken: Am 7. März wurde sein 750. Todestag begangen und rund um Neujahr 1225, also vor 800 Jahren, wurde er in Italien geboren. Alles Weitere, wie er zu einem der bedeutendsten Kirchenlehrer wurde und heute mit dem etwas despektierlichen Abwinken 'Ach, Scholastik...' gerne abgetan wird, wollen wir uns in den nächsten knapp 30 Minuten ansehen.
Zugeschaltet sind heute drei ausgewiesene Experten aus unterschiedlichen Disziplinen: Zum einen begrüße ich Professor Markus Moling. Er ist Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen (PTH), und er war einer der Organisatoren einer Thomastagung, die an der Hochschule vor kurzem über die Bühne ging. Dann Professor Josef Quitterer, er ist ebenfalls Philosophieprofessor, und zwar an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Innsbruck. Und schließlich begrüße ich den Salzburger Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie, Martin Dürnberger. Er ist derzeit Vertreter des Lehrstuhls Fundamentaltheologie an der Uni Regensburg und außerdem Obmann der renommierten Salzburger Hochschulwochen.
Um mit Ihnen, Herr Professor Dürnberger, gleich zu beginnen. Sie haben ein viel beachtetes Einführungswerk geschrieben, das jetzt auch in zweiter Auflage inzwischen erschienen ist - die "Basics systematischer Theologie". Darin kommt auch Thomas vor. Über sich selbst haben Sie in einem Interview zu dem Buch mal gesagt, Sie seien "ein Kind der anthropologischen Wende, das ein gewisses Faible für Erkenntnistheorie, Elemente kommunikativer Rationalität und neuerdings einen leichten Crush für Thomas hat" - also eine neu entbrannte Liebe. Was ist da geschehen und wie vermitteln Sie diese Liebe an junge Studierende?
Dürnberger: "Komplexe Frage, auf die ich wahrscheinlich am Beginn einfach die einfachste Antwort geben will, die man so geben kann: Thomas ist ein Klassiker. Klassiker kommt meines Wissens vom lateinischen 'Classikus', Steuerklasse eins, das sind die, die viel einzahlen, so dass dann viel Infrastruktur etc. damit gebaut werden kann. Und Thomas gehört meines Erachtens einfach zu diesen Klassikern, wo sich es immer noch lohnt zu überlegen, was lässt sich damit heute noch bauen. Und das ist uns zwar über die Jahrhunderte wahrscheinlich fremd geworden in Teilen, aber es gilt halt das, was in vielen anderen Bereichen auch gilt: Wenn ich Fußball verstehen will, dann reicht es halt nicht, mir nur Pep Guardiola anzuschauen, sondern er muss sich halt auch in der Tiefe und Weite auch mal Johan Cruyff anschauen. Das heißt, ich brauche für die Weite und Größe einfach den Blick, der über die Jahrhunderte geht. Und da ist Thomas einfach nach wie vor die Referenz, würde ich sagen - neben Augustinus -, die man innerhalb der katholischen Theologie sich angeschaut haben muss."
Prof. Martin Dürnberger
... und da zünden die Studierenden sofort und sagen "Ja, will ich"...?
Dürnberger: "Nein, es ist sogar noch schlimmer... Denn das ist natürlich befremdend und verfremdend, was Thomas macht, wenn der von Gott spricht als 'ipsum esse subsistens'. Dann entzündet das jetzt nicht sofort helle Augen und alles fängt zu glänzen an, aber genau dieser verfremdende Zugang ist ja eigentlich auch für einen Lerneffekt wichtig; und es ist spannend zu sehen, wie da jemand vorgeht, der jetzt losgelöst von den üblichen personalen Beziehungs-Analogien über Gott nachdenkt und sagt 'Jetzt machen wir mal Metaphysik' und wir schauen uns dann das in der Größe und Tiefe des Problems an und bleiben nicht auf einer oberflächlichen Metaphorik, sondern überlegen: Was heißt es wirklich, dass dieser Gott Schöpfer ist? Und wie kann ich das auch philosophisch verantwortet im Gespräch beispielsweise mit einem Aristoteles rekonstruieren? Das heißt, ich suche mir tatsächlich Gesprächspartner in den Wissenschaften, die zu den Besten gehören, die es gibt, und versucht das furchtlos. Und das ist für die Theologie, würde ich sagen, nach wie vor eine Haltung, die man zu kultivieren hat."
Dennoch, glaube ich, kann man sagen, dass Thomas heute kein Zeitgenosse mehr ist, der sich leicht erschließt. Professor Moling und Professor Quitterer, vielleicht können Sie ein bisschen Licht ins mittelalterliche Dunkel, auch ins biographische Dunkel bringen. Wie müssen wir uns Thomas von Aquin auch und die Zeit, in der er gewirkt hat, vorstellen, um zu verstehen, was er Umwälzendes gebracht hat?
Quitterer: "Um darauf mit meiner eigenen Biografie zu antworten: Ich habe in Regensburg begonnen, Theologie zu studieren, und mich hat Thomas deswegen so fasziniert, weil er einfach in einer Umbruchzeit auch sein Leben, sein akademisches Leben begonnen hat. Und zwar in einer Umbruchszeit, in der die Universitäten entstanden sind. Und Thomas war Dominikaner. Er ist in diesen neuen Orden eingetreten, der damals sehr modern war, der Aufbruchstimmung in die Kirche gebracht hat. Er hat aber vor seinem Eintritt in den Orden eine akademische Geschichte: Er hat studiert an der ersten staatlichen Universität, nämlich an der Universität Neapel. Und dort konnte er fast ohne kirchliche Restriktionen, die damals noch andere waren wie heute, Schriften studieren, die einfach nicht erlaubt waren damals, zu denen zum Beispiel die Schriften des Aristoteles gehörten. Also das hat mich sehr fasziniert - und auch seine sehr frühe Bekanntschaft mit dem islamisch-arabischen Denken, das ja verantwortlich war für die Aristoteles-Rezeption. Und dort konnte er aus Quellen schöpfen, die Menschen des Mittelalters so nicht so zugänglich waren. Das hat mich sehr fasziniert und auch das, was er daraus gemacht hat."
"Keine Angst vor der Moderne haben"
Also wir haben einen Denker, der selber im Dominikanerorden lebte, ein Kirchenmann war und der zugleich aber philosophische Quellen erschloss und rezipierte. Das ist ja an sich auch schon eine Besonderheit damals gewesen, nehme ich an, oder Professor Moling...?
Moling: "Ja, im frühen Mittelalter kannte man natürlich die Schriften des Platon. Die waren über Augustinus und andere christliche Denker auch neuplatonisch durchdacht, beispielsweise von Bischof Ambrosius von Mailand, im christlichen Denken durchaus verwurzelt und bekannt. Die Gestalt des Aristoteles allerdings weniger. Und diese Gestalt des Aristoteles ist dann über die Kreuzzüge und den Austausch mit der arabischen Welt nach Europa gekommen. Und dann hat eine Aristoteles-Rezeption begonnen, die die Kirche zuerst einmal abgelehnt hat. Man hat in dieser aristotelischen Philosophie ein Feindbild des Christentums gesehen, aus mehreren Gründen: etwa, weil Aristoteles die Ewigkeit der Welt angenommen hat und das Christentum natürlich von einem zeitlichen Beginn der Schöpfung ausgegangen ist. Weil bei Aristoteles dann nicht ganz klar ist, ob die individuelle Seele unsterblich ist oder nicht. Das waren alles Punkte, die das Menschen- und Weltbild betreffen, wo man gesagt hat: Dieser Aristoteles ist uns aus einer christlichen Perspektive sehr verdächtig. Und es hat einige Denker gegeben, die sich Aristoteles angeschlossen haben und die von der Kirche dann auch verurteilt worden sind. Man hat also zuerst einmal den Aristoteles abgelehnt, und dann kommen solche Leute wie Albertus Magnus, der Lehrer von Thomas von Aquin, und eben Thomas von Aquin selber, die eine neue Form der Aristoteles-Rezeption beginnen und denen es gelingt, Aristoteles für das christliche Denken fruchtbar zu machen und aufzuzeigen, dass die aristotelische Philosophie nicht im Gegensatz zum Christentum steht, sondern durchaus integrierbar ist in das christliche Welt- und Menschenbild. Und dass Thomas das wesentlich gelungen ist, scheint mir sein großer Verdienst zu sein, und darin kann er uns auch Vorbild sein für unsere heutige Zeit, dass wir vor den Herausforderungen der Wissenschaft, der Moderne nicht Angst haben müssen, sondern er lädt uns gleichsam ein, in einen konstruktiven Dialog mit den unterschiedlichen Wissenschaftsformen zu treten."
Jetzt haben Sie schon Aristoteles erwähnt, und vielleicht können Sie noch ein wenig die inhaltlichen Leitlinien skizzieren: Was muss man wissen, um Thomas zu verstehen? Was ist das Besondere des damaligen Menschen- und Gottesbildes, seines Denkens insgesamt?
Quitterer: Vielleicht beginne ich mit dem Menschenbild. Das, was bei Aristoteles neu ist und was Thomas von Aquin dann auch übernimmt in seine Theologie, ist ein ganzheitliches Menschenbild, in dem auch der Körper eine sehr wichtige Rolle spielt. Er hat auch mit Aristoteles argumentiert für die Auferstehung des Leibes und hat sich da sehr stark dieses aristotelischen Denkens bedient. Man muss ja sehen, dass die Seele bei Aristoteles nicht so ist wie bei Platon, dass sie also kein 'kleiner Mensch' ist, der da in uns sitzt, sondern sie ist das Lebensprinzip eines Organismus insgesamt, ein biologisches Prinzip. Und dieses Prinzips hat Thomas eigentlich übernommen, um für diese Leib-Seele-Einheit zu argumentieren. Das war sicher etwas völlig Neues in seiner Zeit und er hat damit auch Widerstände ausgelöst. Aber eben die ganzheitliche Sichtweise des Menschen war sicher eines seiner Hauptthemen in der Anthropologie."
Moling: "Gern kurz auch zum Gottesbild des Thomas: Für mich ist ein Schlüssel bei diesem Gottesbild der Begriff der Bewegung. Ganz am Beginn der 'Summa' als eines seiner Hauptwerke formuliert er ja vielleicht seine bekanntesten Texte, die sogenannten 'Fünf Wege', wo er versucht, ausgehend von Phänomenen der kontingenten Welt Gottes Existenz aufzuweisen. Und der erste Weg, so sagt er es, startet aus der Bewegung, und es steht fest, dass wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, dass sich die Welt um uns herum und auch wir selbst verändern. Um das richtig zu verstehen, muss man das aristotelische Bild der Veränderung im Hintergrund haben: Veränderung ist letztlich für Aristoteles – und das übernimmt Thomas eigentlich immer – ein Ausdruck von Unvollkommenheit. Wenn ich vollkommen bin, wenn ich also alle Möglichkeiten realisiert habe, dann brauche ich mich nicht zu verändern, denn dann bin ich ja schon im Besitz der Fülle. Und so stellt sich Thomas Gott vor: als im Besitz der Fülle. Er muss sich also auch nicht verändern. Während wir alle und die Schöpfung in steter Bewegung und Veränderung sind, auf sein Ziel hin gedacht und deshalb würde er sagen, ist Gott unveränderlich. Weil er eben die Fülle ist. Das ist vielleicht etwas, was man in der heutigen Zeit nicht mehr so leicht nachvollziehen kann. Weil Bewegung und Veränderung für viele ja zusammenhängt mit vielen Möglichkeiten, sich zu entwickeln, fortzubilden usw. – und dagegen das optimistische aristotelische Gottesbild davon ausgeht, dass Gott schon alles hat, dass er sich eben nicht verändern muss, weil er schon die Fülle besitzt."
Dürnberger: "Dann kann ich noch ergänzen, was ich im Blick auf das Gott-Mensch-Verhältnis auch immer Studierenden zu Thomas nahzubringen versuche: Wie denkt Thomas dieses Verhältnis? Da gibt es diese schöne, eingängige Formulierung von der Grundidee her: Wer gering vom Geschöpf denkt, denkt auch gering vom Schöpfer. Anders herum: Groß vom Geschöpf zu denken heißt auch, groß vom Schöpfer zu denken. Und das umschließt eben auch das leibliche Element. Und das ist innerhalb der Theologie etwas, was prägend ist, zumindest vom Grundansatz her für das, was Thomas uns heute noch ins Stammbuch schreibt."
Prof. Josef Quitterer
Quitterer: "Ich glaube, Thomas war sicher einer der Denker im Mittelalter, der eigenständig gedacht hat und das sieht man schon in seinen Schriften. Er beginnt also nicht damit, irgendwelche Lehren aufzustellen, sondern er beginnt damit Fragen zu stellen. Und am Beginn der Diskussion dieser Fragen stehen zunächst mal die Positionen, gegen die Thomas argumentieren möchte. Das heißt, man bringt an prominenter Stelle eigentlich die kritischen oder die problematischen Positionen, um sie dann zu diskutieren. Und das finde ich einen sehr spannenden Zugang, dass man nicht beginnt damit, was man selber so alles weiß, sondern dass man einfach mal schaut: Was sagen andere zu diesem Thema? Das ist eine sehr schöne, sehr attraktive Methode, die Thomas durchzieht, eigentlich in seinem ganzen Werk. Und er zeigt darin auch die Autonomie des Denkens. Es kommt auf Argumente an, es kommt nicht so sehr auf Autoritäten an. Thomas von Aquin diskutiert Autoritäten unabhängig von ihrem Status einfach nach dem, was sie argumentativ zu sagen haben. Und das ist sehr attraktiv – auch in Bezug auf die aktuelle Studiensituation."
Mit Thomas über Thomas hinaus
Wie ist denn dann durch die Jahrhunderte Thomas zu dem geworden, der im 19. Jahrhundert dann quasi zum offiziellen Gold-Standard der katholischen Lehre wurde?
Moling: "Zuerst einmal gab es wie gesagt Ablehnung auch von kirchlicher Seite. Und erst allmählich wurde er dann rehabilitiert. Und dann hat es im Laufe der Geschichte so verschiedene Phasen gegeben, in denen seine Schriften zu einer Art Schultheologie geworden sind. Ich würde schon sagen, dass es ihm persönlich wichtig war, ein Werk zu verfassen, das ein Standardwerk in der Theologie wird. Ich denke, bis zu ihm hin war es vor allem Petrus Lombardus mit seinen Sentenzen, die ein Referenzwerk für alle Lehrenden an den Universitäten darstellten. Wir haben einen Kommentar dazu auch von Thomas, aber auch von anderen großen mittelalterlichen Denkern. Und ich glaube, dass er versucht hat, vor allem mit seiner 'Summa' ein Referenzwerk zu schaffen, dass die Rolle von diesem Sentenzen-Kommentar ein stückweit übernimmt. Tatsächlich ist die 'Summa' ja das Standardwerk von ihm schlechthin, dass man heute auch, glaube ich, am meisten kennt und am häufigsten zitiert. Und dieses Werk zeichnet sich durch eine Klarheit aus und auch durch eine Begrifflichkeit, die, wenn man die Begriffe einmal kennt und wenn man die Bedeutung weiß, es einem leicht machen, sich darin zurechtzufinden. Und ich kann mir vorstellen, dass diese Klarheit und auch die Stringenz in der Argumentation Menschen angesprochen hat."
Es ist ja auch interessant, dass sie beiden Lehrstühle für Philosophie innehaben, also nicht dezidiert als Theologen hier über Thomas sprechen. Daher nochmal nachgefragt: Wie wird denn Thomas in der Philosophie rezipiert?
Quitterer: "Ich meine, da gibt es eigentlich zwei Dinge: die eine Geschichte stellt vielleicht ein bisschen die negative Seite von dem dar, was Kollege Moling gesagt hat: Diese 'Kanonisierung' des Thomas von Aquin in der späten Neuzeit hat natürlich auch eine negative Seite. Denn da ist so etwas entstanden wie der Thomismus oder Neuthomismus. Und ich glaube, das ist eine gewisse Erstarrung des thomistischen Systems. Dabei ist Thomas doch eigentlich ein sehr dynamischer Denker, gegenüber dem die Schulmetaphysik des 19. Jahrhunderts oder des beginnenden 20. Jahrhunderts doch etwas erstarrt wirkt in ihrer Argumentation und vielleicht zu stark an so einer Bauklötzchen-Metaphysik festgehalten hat, die Thomas eigentlich so nicht kennt. Was meine Biografie angeht und mein Wiederentdecken von Thomas: Ich habe ihn eigentlich wiederentdeckt durch die analytische Philosophie, die überhaupt nicht so katholisch oder christlich war, sondern die in Thomas von Aquin eigentlich einen klaren Denker gesehen hat. Also eigentlich einen Vorläufer der analytischen Philosophie, die mit klaren Begriffen versucht, bestimmte Fragen zu beantworten, Argumente zu entwickeln. Und dort, in dieser Philosophie, hat Thomas eine sehr starke Renaissance erfahren, also auch unabhängig von der Theologie. Da hat man Thomas wieder anders fruchtbar gemacht für die Diskussionen, als er eben in diesem Neuthomismus etwas abgekapselt in der Theologie gedacht wurde."
Nun gibt es aber doch Dinge, die man bei ihm durchaus als problematisch markieren könnte: sein Verhältnis zu Frauen etwa, dann sein Verständnis der Hölle, oder auch die Tatsache, dass er nichts hatte gegen Hinrichtungen von Häretikern. Wenn man das so liest, dann rückt er für heutige Leser doch wieder weiter weg, oder?
Quitterer: "Thomas von Aquin wirkt sehr monolithisch, wenn man seine Werke anschaut. Sehr klar, sehr systematisch. Wenn man aber genauer nachliest, auch vor allem in seinen Kommentaren usw., dann merkt man schon Widersprüche, auch in seinem Denken. Er ist ein lebendiger Mensch mit Widersprüchen, wo auch in seiner Philosophie nicht alles zusammengeht. Also es ist zum Beispiel dieses nicht sehr freundliche Umgehen mit Häretiker. Was er da gefordert hat, steht in einem doch erheblichen Widerspruch zu dem, was er in seinen Schriften fordert, nämlich die argumentative Auseinandersetzung. Ich glaube also, da gibt es einfach auch Widersprüche, die man nicht so leicht auflösen kann in seiner Person."
Moling: "Ich würde auch sagen, dass diese kritische Thomas-Rezeption notwendig ist heute; dass wir eben auch unterscheiden, was sind, wie Sie früher gesagt haben, Argumente, Sichtweisen, die aus seiner Zeit heraus verstehbar und erklärbar sind und die wir aber dann gleichzeitig eben als einen Schatz erkennen – und was nicht. Ich erinnere an ein Zitat von Kardinal Kasper, das mich persönlich sehr berührt hat, der einmal gesagt hat: 'Wenn ich Thomas lese, dann stoße ich immer wieder auf Goldadern.' Und ich glaube, das ist ein schöner Zugang. Also nicht der gesamte Thomas, so wie er gedacht und geschrieben hat, ist für uns heute interessant. Aber ihn eben auch mit einer kritischen Brille zu lesen und eben aufmerksam zu werden auf diese Goldadern, die sich tatsächlich bei ihm finden."
Dürnberger: "Ich wollte nur kurz anschließen zu diesen möglichen Brüchen, wie sich bei Thomas selbst finden und wo wir vielleicht heute auch anders draufschauen: Konkret auf das Verhältnis von Freiheit und Gnade – das ist aus Sicht heutiger Theologie bei ihm durchaus unausgegoren. Da gibt es Aussagereihen, die sich nicht vertragen: Zum einen klare Prädestination, zum anderen Festhalten dran, dass der Mensch frei ist. Am Ende seines Lebens, als Thomas auf dem Weg zum Konzil von Lyon ist, da wird er eingeladen in Montecassino. Er soll genau darüber reden, und er geht dann nicht mehr hoch zum Konzil, heißt es, weil es ihm zu anstrengend ist. Aber es gibt einen kleinen Brief, den er dann diktiert, und da wird das eigentlich nonchalant geklärt und man liest es heute und denkt sich: Das passt doch nicht. Da gibt es eine Unstimmigkeit – und die gibt es natürlich in vielen Bereichen. Man muss also sagen, ja, es gibt Brüche, über die man gern nochmal mit ihm ins Gespräch kommen wollte. Und vielleicht hätte ihm ein solches Gespräch sogar gefallen und er hätte gesagt: Okay, der liest das genau, der schaut sich das Argument an, der weist auf den Widerspruch hin... Thomas ermutigt also vor allem zum eigenen Denken? So verstehe ich ihn zumindest nach wie vor."
Was wären denn zwei, drei Gedanken, die sich an Thomas exemplarisch zeigen und lernen lassen, die nicht nur eine historische Reminiszenz sind?
Moling: "Wir haben im Vergleich einen Satz ein, der für mich in der Priesterausbildung besonders wichtig ist. Dieser Satz 'Gratia supponit naturam', also die Gnade setzt die Natur voraus. Und wir haben es ja in den letzten Dokumenten auch gesehen, die der Vatikan veröffentlicht hat, aber auch in den nationalen Leitlinien, dass die menschliche Reifung die Basis für die Priesterausbildung ist. Das ist zentral. Und ich denke, mit diesem Zitat kann man da auch auf Thomas verweisen. Die Gnade ist wichtig, sie ist notwendig, aber sie basiert oder sie baut auf auf einer gesunden menschlichen Natur. Und dass man dieser gesunden menschlichen Natur, diese Reifung des Menschseins auch in der Priesterausbildung den notwendigen Raum gibt, das, glaube ich, ist etwas ganz Entscheidendes für heute. Und Thomas gibt uns dafür ein gutes Argument."
Quitterer: "Wenn was für mich persönlich im Mittelpunkt steht in der Auseinandersetzung mit Thomas, dann ist das seine Meinung über das, was unser Ziel ist oder wonach wir streben. Und hier spielt der Begriff 'beatitudo', also Glückseligkeit eine große Rolle. Und natürlich ist es die Frage: Was heißt das? Was heißt es, glücklich zu sein? Aber das ist wirklich das was, was bei Thomas unser eigentliches Streben ausmacht. Und der Punkt, der, glaube ich bei Thomas sehr wichtig ist im Unterschied zu anderen Denkern ist, dass eine 'beatitudo' auch einen körperlich-emotionalen Aspekt hat. Also es gibt für Thomas eigentlich in Bezug auf unsere Glückseligkeit eine sehr wichtige Komponente, dass das im Einklang mit den Emotionen erfolgt; dass das eine körperliche Dimension hat, spielt eine große Rolle dann bei der Auferstehung des Leibes. Und ich glaube, das kann man auch in der Theologie gewinnbringend unterbringen. Das ist ein sehr attraktiver Gedanke bei Thomas."
Dürnberger: "Dann habe ich noch zwei Punkte: Das erste ist eigentlich eine Leerstelle, in gewisser Hinsicht nicht vollständig, aber etwas, was man vielleicht mitnehmen kann, weil man sieht: selbst bei den Größten gibt es Bereiche, die sind nicht in gleicher Weise ausgeleuchtet und es gibt eine Dynamik im Denken, das schreitet voran. Und das ist zum Beispiel die Frage nach der Theodizee. Die Frage nach dem Bösen gibt es bei Thomas, aber mit dieser existenziellen Dringlichkeit, die neuzeitlich-modern auftaucht, wird das Thema bei Thomas nicht behandelt. Und das ist, finde ich, schon auch ein wichtiger Punkt, immer darauf hinzuweisen: Es gibt ein großartiges System, es wird universal gedacht, aber es gibt dennoch Bereiche, die Thomas noch nicht in der gleichen Dringlichkeit gesehen haben, wie wir sie sehen. Und es wird uns auch so gehen, dass wir manches nicht am Schirm haben. Und das andere ist jetzt sehr formal, aber trotzdem etwas, was ich auch Studierenden immer wieder mitgebe: Habt keine Angst vor Erkenntnistheorie, keine Angst vor Wissenschaftstheorie. Wenn etwas vernünftig ist, dann kann es für den Glauben keine Bedrohung sein, sondern da gibt es eine gewisse Furchtlosigkeit, mit der man in das Studium starten darf. Es wird nicht alles leicht klar und es löst sich auch nicht alles problemlos auf. Aber keine Angst! Und dieses 'Keine Angst!' nehme ich schon auch als so einen Gedanken mit, den ich persönlich bei Thomas festmache."
Keine Angst - es gibt wohl kein schöneres Schlusswort für so einen Podcast. Vielen Dank für das Gespräch in die Runde und die Einladung, angstfrei mit Thomas auch über Thomas hinaus zu denken. Und wenn Ihnen dieser Podcast gefallen hat, dann empfehlen Sie uns doch weiter, lassen Sie uns ein paar Sterne da. Man kann uns auch abonnieren auf allen gängigen Podcastplattformen oder nachhören und nachlesen - auch eine Besonderheit dieses Podcasts! - auf https://diesseits.theopodcast.at.
Vielen Dank fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal sagt Henning Klingen.