Warum es sich lohnt, heute noch Karl Rahner zu lesen
Foto: Lambiotte, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Podcast vom 26. März 2022 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Willkommen bei einer neuen Folge des Podcasts "Diesseits von Eden". In dieser Podcastfolge dreht sich alles um den Jesuiten Konzilstheologen, Philosophen und Kirchenreformer Karl Rahner. Rahner steht bei so manchen Theologinnen und Theologen für komplexe, verschachtelte und seitenlange Sätze. Man fragt sich heute, warum sich theologisch interessierte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen noch die Mühe machen sollten, eines der Werke Rahners zu lesen.
Die Frage nach Rahners Aktualität und warum man seine Bücher trotz Komplexität nicht einfach zuklappen sollte, stelle ich heute den beiden Fundamentaltheologen Roman Siebenrock und Martin Dürnberger. Beide sind Professoren für Systematische Theologie, Roman Siebenrock in Innsbruck und Martin Dürnberger in Salzburg. Und die erste Frage geht gleich an Professor Siebenrock: Warum lohnt es sich, Karl Rahner heute noch zu lesen? Warum sollten Studierende oder theologisch interessierte Menschen eines der Werke überhaupt aufschlagen?
Siebenrock: "Ich möchte persönlich anfangen, weil ich mit ihm alt werden kann. Die Rede vom komplexen Rahner halte ich für ein Märchen, aber es gibt ihn auch. Aber es gibt auch den Rahner, der ein Interview gibt, Betrachtungen macht der kirchenreformerische Programme entwickelt. Und er hat eine Weise, mich anzusprechen, sodass ich sagen kann: auch als älterwerdender Typ kann man mit ihm unterwegs sein, weil er mit dem Herzen denkt. Es ist ein geistlicher Begleiter, ein ungeheuer stark reflektierter Typ und der führt ins Weite. Und das Allerbeste ist, man kann ihn nicht klonen und deswegen kann man ihn nicht wiederholen."
Martin Dürnberger, wie schaut es bei Ihnen aus mit der Komplexität Rahners? Ist das ein Mythos? Ist es Realität?
Dürnberger: "Ich kann mich noch erinnern, als Studierender hatten wir den "Grundkurs des Glaubens" als Blockseminar. Das war schon anspruchsvoll; also die Schachtelsätze, die gibt es wirklich. Aber das darf nicht abschrecken. Denn das Frische, das darin steckt, auch wenn es in einer bestimmten Sprache gestaltet ist, schimmert durch und glänzt. Ich kann mich schon erinnern, das war in den Anfang der Nullerjahre, dass das ein Aha-Erlebnis war. Also wir waren dann auch in Innsbruck und mich tatsächlich diese anthropologische Wende, auch wenn das jetzt schon natürlich ein Slogan ist, extrem angesprochen. Auch aus der Popkultur heraus; ich war damals großer Fan von U2. Und da gab es 1998 ein Album, da hat Bono gesungen von "Looking for to fill that good-shaped hole", dass der Mensch in sich ein offenes Puzzleteil hat, das durch nichts in der Welt gefüllt werden kann, sondern nur von Gott. Mit dem Text im Hintergrund und dann Rahner gelesen, dachte mir "Ja, das passt zusammen".
Mit der Tradition über die Tradition hinaus
Am 30. März jährt sich der Todestag von Karl Rahner zum 38. Mal. Eine ganze Generation oder eigentlich schon zwei Generationen liegen nun zwischen dem Tod Rahners und heute. Was ist noch dieser Zeit der Grundstein, für den sich jetzige Theologinnen- und Theologen-Generationen mitnehmen können? Was ist das, was sie in ein, zwei Sätze zusammenfassen können, was Rahner so unbedingt essenziell macht?
Siebenrock: "Ich möchte eine kleine Anekdote erzählen, die ich mit der Schwester von Karl Rahner erlebt habe. Sie sagte zu mir "Wissen Sie, mein Bruder ist Kulturmist für viele geworden". Das ist das Erste. Wir leben alle von einer theologischen Trendwende, nämlich der Ausgangspunkt unseres Glaubens und Denkens ist der universale Heilslehre Gottes. Die erste Begegnung mit der Frage nach dem Geheimnis des Lebens ist nicht mehr Angst, Sorge und Skrupel, sondern Vertrauen und Offenheit. Dieser universale Heilswille Gottes ist eine tiefe Grundstruktur des Konzils geworden, und man könnte sagen, Heilsoptimismus und die Hoffnung auf das Heil aller, und sei es noch so schräg wie das Leben ist, ist eine Grundbedeutung, die ich bei Rahner gelernt habe und die viel geholfen hat. Und das zweite ist die Rede von der "ecclesia semper reformanda"; die Kirche muss sich tief erneuern und verändern, weil die Epoche, in der wir leben, eine radikale Transformation darstellt. Rahner war der Erste, der in den 50er-Jahren von der Diasporasituation der Kirche sprach, von einer radikalen Transformation. Und das hat er verschärft in den 60er und 70er-Jahren. Leider sind seine Impulse in dieser Hinsicht wie von gestern, weil sich in den letzten 40 Jahren zu wenig getan hat. Er sprach über Frauen in der Kirche, über Demokratisierung, über Kirche von unten. Und was er manchmal über die Frauen der Kirche gesagt hat, über das Priestertum der Frau, das hört sich an wie vorgestern. Und hier kommt etwas Jesuitische zum Zug, nämlich die Priorität des einzelnen Subjekts. Die Strukturen müssen der Begleitung einzelner Menschen dienen."
Dürnberger: "Hier kann ich anknüpfen: Dieses "Et Et", das Rahner sowohl die Tradition im kleinen Finger hatte und einfach sehr viel an Tradition zur Verfügung hatte, aber zugleich diesen Schritt macht in die neue Situation, die man würdigen und in den Blick nehmen muss. Also dieses "Et Et" das hier mitschwingt, das ist etwas, was ich meinen Studierenden auch immer ans Herz lege. Und das hängt, glaube ich, schon auch tief mit dem zusammen, wie Rahner an sich denkt; das ist keine strategische Entscheidung, sondern das hängt mit seiner Theologie zusammen. Also beispielsweise diese Idee des Proportionalitätsaxioms, hier schreibt er vom christlichen Grundgesetz, dass Nähe und Abstand zu Gott den gleichen und nicht dem umgekehrten Maß wachsen. Also was ist gemeint? Je näher man Gott kommt, desto wirklicher wird man. Das heißt, ich kann nicht erfülltes Mensch-Sein in Konkurrenz zu Frömmigkeit und echten Christ-Sein setzen, sondern das ist das Gleiche. Das halte ich nach wie vor für wegweisend. Wir müssen uns zwar immer wieder darauf verständigen, was heißt es denn je wirklich zu werden? Was heißt es denn, Gott näher zu kommen? Das ist ja mit der Formel an sich nicht ausgesagt. Aber wenn das meine Grammatik ist, mit der ich rein gehe in die Begegnung mit der Welt, dann ist es eben ein anderer Zugang, als tiefhaltende Skepsis. Und als dritter Punkt die theologische Grundposition Rahners, dass in der Mitte jeder menschlichen Existenz bereits Gott ist. Ich trage Gott nicht auf eine "natura pura", auf eine reine Natur und dann kommt die Gnade der Mission Gnade und des Glaubens hinzu. Sondern, ich als Christ und Christin kann davon ausgehen, dass in jedem Menschen sich Gott bereits mitgeteilt hat und deshalb bereits präsent ist von Gott."
Über die prophetische Qualität Rahners
Siebenrock: "Ich ergänze hier noch die Rede im Ersten Vatikanum von der natürlichen Licht der Vernunft von Gott erkennen kann als Ursprung und Ziel, als Wirklichkeit und deswegen abstrakt und formal. Für Rahner hat jeder Mensch in seinem Leben eine Gottes Kompetenz, und zwar ganz konkret in seinem mit seinen Möglichkeiten. Und das ist für uns eine normative Vorgabe. Das heißt, das Evangelium wird nicht einfach von außen gebracht, sondern wir lernen es noch einmal mit den anderen Menschen. Evangelisieren oder verkündigen heißt übersetzt Verkündigung und selbst Evangelisierung. Die Menschen bringen etwas substanziell mit. Warum? Weil sie alle in der Gnade stehen, damit die anderen nur unterstützen. Das ist eine Revolution der Pastoral und auch der Mission."
Rahner ging es auch um eine entklerikalisierte Kirche; eine aktuelle Forderung, die auch von Papst Franziskus vertreten wird, der immer wieder eine Kirche von unten und eine offene und demokratische Kirche fordert. Rahner ist damit aktueller denn je. Die Frage ist damit, war er quasi prophetisch, hat er etwas schon vorhergesehen? Oder ist das Zufall? Oder sind das Themen und Schlagwörter, die uns in der Kirche noch die nächsten 100 Jahre begleiten werden?
Siebenrock: "Über die prophetische Qualität kann man ja nach der Schrift sagen "Wenn das eintrifft, was er sagt, dann ist es ein Prophet". Also die Geschichte bestätigt oder widerlegt eine Prophetie. Was bestätigt worden ist die Diasporasituation der Kirche, dass die Kirche von einer Betreuungs- oder gesellschaftlichen Größe zu einer Freiheits- und Entscheidungs-Kirche wird, mit ganz unterschiedlichen Qualitäten. Aber dass eine bestimmte Epoche der Christenheit zu Ende geht, das haben auch die Soziologen zehn Jahre später deutlich herausgearbeitet. Das ist geblieben und bleibt. Weiters verbindet er die Transformation der Kirche mit der Rede von der Mystik. Es ist dort der berühmte Satz, den er 1962 sagte "Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein", weil wir selbst erfahren müssen, woran wir glauben. Das ist nicht besonders prophetisch, aber das ist die ignatianische Grundtradition. Und der dritte Punkt, ist dieser Strukturwandel der Kirche, den er durchbuchstabiert in einzelnen Punkten. Leider spricht er dort nicht übers Bischofsamt, aber dort hat er leider recht behalten, gerade in der Verzögerung, die man jetzt sieht. Und nur ein Stichwort zu der entklerikalisierten Kirche; dass Rahner ein Priester und Jesuit war, das hat er nie in Frage gestellt. Aber die Kirche muss nicht vom Klerus her gedacht werden, und der Klerus ist nicht das Maß der Kirche. Schon sehr früh spricht er vom freien Charisma und dass die Menschen sich selbst einbringen müssen. Der priesterlichen Dienst ist damit ein Dienst in der Gemeinde, und die Gemeinde ist nicht dafür da, dass der Priester Priester sein kann, sondern umgekehrt. Deswegen ist die Forderung der Freigabe des Zölibats auch der Forderung nach dem Frauenpriestertum genau in diesen 70er-Jahren entstanden."
Nun auch die Frage nach Salzburg: Martin Dürnberger, wo war Karl Rahner prophetisch tätig?
Dürnberger: "Ich glaube, er hatte ein scharfes, waches Bewusstsein dafür, dass es so wie es in den 30er, 40er und 50er-Jahren war, nicht weitergeht und dass sich da wirklich ein Wandel in der Sozialformen in der Institution anbahnt. Ich habe mir kurz in der Vorbereitung diese eine Formulierung von ihm angeschaut vom "Trachtenvereins Christentum", das keine Zukunft hat. Das sagte er 1951 bei der Festakt, der Festrede bei der Marianischen Kongregation in Innsbruck. In unseren aktuellen Narrativen passt es da ja noch. Da kommt man wieder zurück nach, dann nach den Erfahrungen des Weltkriegs, und da strömt man wieder zurück zu den Kirchen, die Halt geben. Und er macht in dieser Festrede eine Gegenwahrnehmung auf und sagt "Das Christentum gehört nirgends mehr zu den Mächten, die selbstverständlich und unwidersprochen sich objektivieren mit den Gebilden der Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst etc.". Wir werden nicht mehr eingeladen zu den Talkshows, würde man es heute formulieren; da gibt es diese selbstverständliche Präsenz nicht mehr. Dann schreibt oder sagt er weiter "Das Christentum ist vielmehr eine Sache geworden, die im Leben des Christen immer neu und persönlich erobert werden muss, die selbst erworben, selbst erleben, selbst persönlich erbeten sein will. Alles bloße Traditions- und Sontags-Christentum, alles Trachtenverein-Christentum, bloße Konvention wird langsam und still ausgezählt werden." Und dieses wache Bewusstsein nehme ich mit großer Hochachtung wahr und macht uns auch noch mal klar, weil wir sind immer wieder mal in der Theologie mit diesem Narrativ konfrontiert, dass es ab dem Zweiten Vatikanum in die Moderne abwärts geht, da verliert plötzlich Kirche an Attraktivität, an Bindungskraft. Vorher war das noch gegeben. Und all die Beobachtungen hier sprechen eigentlich dagegen. Die wachen Geister, so wie Rahner einer war, haben schon gesehen, dass das so nicht weitergeht."
Lesetipps: Rahner für Skeptiker und Einsteiger
In dieser Folge von "Diesseits von Eden" geht es auch darum, warum man Rahner lesen soll und wie man ihn heute noch lesen kann. Was wäre also die Einsteigerlektüre von Karl Rahner. Womit kann man einsteigen, wenn man sich interessiert, aber nicht gleich erschlagen werden will von den tausenden Seiten, die der sehr produktive Jesuit hinterlassen hat?
Siebenrock: "Ich habe eine kleine Zusammenstellung gemacht "Rahner für Skeptiker und zum Einsteigen". Ich würde beginnen mit einfachen Betrachtungen und mit Interviews, also mit einfachen Betrachtungen wie "Not und Segen des Gebets", "Worte ins Schweigen" oder "Die Erfahrung der Gnade." Und mit Interviews. Und dann kann man ganz allmählich in die reflexiven Teile vordringen, aber muss immer im Hintergrund behalten, diese spirituelle Grunderfahrung, die immer versucht, Erfahrungen zu vermitteln. Ich wurde mit Interviews beginnen und mit Betrachtungen. Und dann zum Beispiel, bevor man dann in den Grundkurs stolpert, lieber zum Beispiel so einen Aufsatz lesen "Was ist der Mensch?" oder "Zur Theologie der Weihnachtsfeier". Der Grundkurs, sag ich nur, ist eine hermetische Verweigerung. Ich habe es zu meiner Matura bekommen zu meinem. Und ich habe das Buch aufgemacht, habe zehn Seiten versucht zu lesen und nichts verstanden. Ich habe gedacht, was ist das für ein komisches Buch? Und habe hier in Innsbruck damit Pater Mitterstiller eröffnet bekommen. Über Meditationen und das kann ich nur empfehlen. Und da muss man sich halt auch mal der intellektuellen Herausforderung stellen und versuchen durch zu denken, damit man die innere Grammatik versteht und die eignet man sich dann an, ohne sie einfach repetieren zu können. Also die Mühe lohnt sich. Aber man kann vielleicht auf Hintertreppe in das Haus gehen und nicht auf der großen Treppe, wo man eher abgeschreckt wird durch die dicken Wände."
Dürnberger: "Ich kann mich dem eigentlich anschließen. Ich mache zwar hin und wieder in Vorlesungen den Hinweis auf keinen Fall den Grundkurs zu kaufen, in der Hoffnung, dass dann genau das passiert und man sich ein bisschen in den Grundkurs vertiefen muss. Aber ansonsten empfehle ich eines der kleinen Bändchen. Es gibt bei Herder Grünewald kleine Bändchen, etwa was Ostern bedeutet. Ich habe auch noch einen Tipp: Es gibt einen Twitter-Account von Karl Rahner. Das heißt, wenn man ganz unkompliziert einsteigen will, dann sollte man einfach auf Twitter Karl Rahner folgen."
Ich hoffe, dass wir jetzt allen Hörerinnen und Hörern Gusto und Lust gegeben haben, Rahner zu lesen und die Angst davor genommen haben. Danke an Martin Dürnberger und Roman Siebenrock für dieses Gespräch.