"Evangelisches:Erinnern": Zwischen Opfernarrativ und Vergessenheit
Foto: etf.univie.ac.at
Podcast vom 21. April 2023 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
In dieser Podcastfolge von "Diesseits von Eden" gibt es einen Live-Einstieg aus dem Campus Wien, auch bekannt als Altes AKH, während der Tagung "Evangelisches Erinnern", die von 19. bis 21. April erstmals in Österreich stattfindet. Neben mir stehen Teile des Organisationsteams; etwa die evangelische Theologin und Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer, die Historikerin Martina Fuchs von der Historisch-Kulturwissenschaftlichen-Fakultät der Universität Wien sowie Leonhard Jungwirth vom Institut für Kirchengeschichte der Evangelischen-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Einer der Vorträge hieß vorhin "Zwischen Opfer und Elite" und führte den Weg einer Minderheitenkirche in Österreich vors Auge. Ist der Weg der evangelischen Kirche in eine Art "Erinnerungs-Subkultur" normal? Ist das für eine Minderheitenkirche ein Weg, der automatisch beschritten wird? Und wo befindet sich die evangelische Kirche heute? Eine Frage an den Kirchenhistoriker Jungwirth.
Jungwirth: "Ich glaube, dass sich die evangelische Kirche in Österreich tatsächlich einfach aufgrund ihrer sozialen Gestalt und einfach als Minderheit wahrnimmt. Teil eines Minderheiten-Daseins ist natürlich auch auf Minderheitenrechte und -schutz Wert zu legen. Und eine Frage, die wir hier im Rahmen dieser Tagung untersuchen, ist: "Inwiefern spielen Selbstbilder, Geschichtsbilder der Evangelischen Kirche in Österreich eine Rolle?".
Astrid Schweighofer: "Wobei wir reden jetzt von ganz Österreich natürlich. Wenn wir in manche Bundesländer schauen, wie zum Beispiel in das Burgenland oder auch nach Kärnten, in einige Gebiete in Oberösterreich, dort gibt es in einigen Gemeinden mit klarer evangelische Mehrheit. Dort ist das Bewusstsein ein anderes, als wenn wir heute aus unserer Wiener Perspektive über dieses Thema sprechen."
Eine Frage habe ich als katholische Theologin: Vom Weg vom ersten Bezirk hierher habe ich ja einige evangelische Kirchen gesehen. Das heißt, die evangelischen Kirchen A.B. und H.B sind sichtbar im Stadtbild. Minderheiten assoziiere ich mit etwas Verborgenen, etwas, das man nicht sieht.
Astrid Schweighofer: "Wir sind jetzt eher davon ausgehen, dass wir uns auf einen Minderheiten-Begriff im Sinne einer quantitativen Minderheit geeinigt haben. Und das heißt jetzt nicht, dass diese Minderheit nicht sichtbar ist. Es gibt auch andere Religionsgemeinschaften, die vielleicht jetzt nicht so präsent sind im ersten Bezirk wie die evangelischen Kirchen, aber die doch im Stadtbild Wiens auch präsent sind."
Martina Fuchs: "Dann kann ich vielleicht als allgemeine Historikerin ergänzen, dass aus unserer Sicht die evangelische Kirche und auch die Protestantismus Geschichte wirklich eine Minderheit ist, da sie in der allgemeinen Geschichte kaum eine Rolle spielt. Auch in der Lehre an der Universität ist sie immer mehr marginalisiert worden; das ist in den letzten Jahren gekommen. Also das würde auch den Impetus der Minderheiten Kirche stärken."
Dazu eine Nachfrage: Am 19. April ist mehrfach ein Museum des Protestantismus gefordert worden, eine öffentliche Stelle, wo die evangelische Kirche dargestellt wird. Wie stehen Sie jetzt dem gegenüber?
Martina Fuchs: "Wir haben in den letzten Jahren einiges an neuen Museen erlebt, Stichwort Haus der Geschichte. Ich persönlich habe mir noch keine Gedanken über ein evangelisches Museum gemacht. Ich denke, das ist aber etwas, über das wir in Zukunft nachdenken sollten und das wahrscheinlich Theologinnen mit Historikerinnen gemeinsam bewerkstelligen können, wenn es überhaupt eine Realisierungschance haben soll. Es wäre natürlich auch eine "Myrke" in der Landschaft, wenn es so etwas geben würde."
Astrid Schweighofer: "Vielleicht doch noch einmal zu dem Begriff der Minderheit. Du hast es gerade angesprochen, Martina. Dieses Nicht-Wahrgenommen-Werden merken wir nicht so, aber tatsächlich ist in der Mehrheitsgesellschaft das Bewusstsein von der Geschichte der Evangelischen in Österreich nicht da. Und darum war auch gestern davon die Rede, dass die Karfreitags-Debatte vielleicht auch in einer größeren Öffentlichkeit dieses Bewusstsein wachgerufen hat und dass jetzt darüber diskutiert."
Martina Fuchs: "Was ich wiederum zu bezweifeln glaube, wie ich feststellen konnte: Viele profilierte Historikerinnen, auch Zeithistoriker, haben nicht wahrgenommen, dass der Karfreitag als Feiertag gefallen ist. Auch das ist eine eindeutige Aussage zur Stellung der Evangelischen und der Evangelischen Kirche in Österreich."
Martina Fuchs, gleich eine weitere Frage an Sie: Wie viel ist im österreichischen Gedächtnis von der evangelischen Kirche vorhanden? Oder wie viel Wissen kann man voraussetzen, wenn man jetzt eben hier im Alten AKH hinausgeht und fragt "Was wissen Sie von der evangelischen Kirche?". Was glauben Sie, würde da kommen?
Martina Fuchs: "Wenig. Und ich habe es vorhin in einer privaten Diskussion angesprochen: Es würde mich reizen, ein "Oral History Projekt" zu machen, um zu schauen, was wirklich bekannt ist. Wir haben jetzt immer wieder die Vertreibungen österreichischer Protestantinnen und Protestanten aufgegriffen. Aber, wie viel Menschen wissen wirklich davon, was hier wann wo passiert ist? Also ich glaube, dass das Wissen sehr begrenzt ist."
Leonhard Jungwirth: "Ich glaube, dass wir bei der Tagung Erinnerungskultur, Geschichtsforschung rund um die evangelische Kirche machen. Ich glaube, dass weitere Fragestellungen noch sehr viel spannende Ergebnisse zutage bringen würden. Mich würden zum Beispiel komparative Fragestellungen sehr, sehr interessieren. Wenn wir jetzt etwa die Rolle des Protestantismus im österreichischen "Nation Building", die eigentlich fast gleich null ist, vergleichen würde, mit der Rolle der Hugenotten im französischen "Nation Buliding", die offenbar mehr Berücksichtigung findet? Wo liegen genau die historischen Wurzeln? Wie ist das gelagert? Wie wurde vielleicht auch Einfluss von einer Minderheit genommen, um andere Beachtung zu finden? Wir versuchen das Ganze hier auch mit einer kritischen Distanz zu erblicken sowie einen Forschungseinstieg zu schaffen und zu bewältigen."
Wie schaut es mit dem Gedächtnis der evangelischen Kirche selbst aus? Sie haben vorhin von einem Opfer-Narrativ gesprochen. Ich habe mich gefragt: Jetzt sind wir im Jahr 2023, wo sind heute noch diese blinden Flecken, über die nicht so gerne in den Pfarrgemeinden gesprochen wird? Über die vielleicht auch nicht so gerne auf der Uni oder im Albert Schweitzer Haus ?
Leonhard Jungwirth: "Wir sind in der Mikrogeschichte noch nicht so weit, da müsste man noch Feld- und Lokalforschung betreiben. Das, was man jetzt sagen kann, wenn man die Erinnerungskultur, die Leitkultur und Subkulturen der evangelischen Kirche des 20. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts überblickt: Da werden da Opfer-Narrative als Teil einer selbstverständlichen Identitätswahrung weiter gepflegt, affekthaft abgerufen, manchmal auch bewusst eingesetzt, um Ansprüche geltend zu machen. Und dabei entstehen natürlich schon blinde Flecken. Das liegt in der Natur der Sache. Ein erinnerungspolitischer Diskurs verlangt wahrscheinlich immer nach Feindeutungen, die wir hier eben in diesem Rahmen zumindest kritisch aufbrechen und beleuchten wollen."
Astrid Schweighofer Sie haben sich gerade noch zu Wort melden wollen.
Astrid Schweighofer: "Ja, vielleicht noch ergänzend: Ich glaube jetzt nicht, dass es an der Uni Themen gibt, die man gar nicht ansprechen will. Eher auf Gemeindeebene, wo man sich vielleicht ungern mit Nazi-Täterinnen und -Tätern auseinandersetzt, weil es da noch Nachfahren gibt und sehr viele emotionale Verbindungen vorhanden sind. Noch heute sitzen im Presbyterium Nachfahren von Opfern sowie auch von Tätern und Täterinnen, wo es darum geht, wie man mit dieser Geschichte umgeht. Auch das Thema Antisemitismus spielt eine Rolle. Auf dieser lokalen Gemeindeebene gibt es hier noch Vorbehalte, sich mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen oder ins Licht zu rücken - und vielleicht ist es auch ganz praktisch, die einfach stehenzulassen."
Leonhard Jungwirth: "Aber es gibt eben auch sehr, sehr spannende erste Erinnerungsprojekte, -arbeiten und -werkstätten, die wir hier auch auf dieser Tagung ans Licht bringen wollen. Am Freitag in der evangelischen Pauluskirche in der Landstraße, werden genau solche Erinnerungsprojekte thematisiert, die neue erste Akzente setzen, um eine neue Erinnerungs-Leitkultur zu etablieren. Da geht es beispielsweise um die kritische Auseinandersetzung mit dem Gefallenen-Gedenken im eigenen Kirchenraum oder um das Opfer-Gedenken in der evangelischen Kirche. Welche Opfer schließt das ein und welche schließt sie eigentlich aus? Werden eigentlich alle Opfer mitbedacht? Und so weiter. Also da kommen sehr unterschiedliche Fragestellungen mit ins Spiel."
Astrid Schweighofer: "Ja, es gibt auf sehr vielen Ebenen kleine Projekte, auch teilweise mit Schülerinnen und Schülern. Eine Vertreterin ist auch da, die wird sich mit Jakob Ernst Koch beschäftigen, Pfarrer in Ramsau. Es gibt kleine lokale Initiativen, die könnten durchaus noch ein bisschen aktiver beworben werden."
Martina Fuchs: "Und vielleicht dadurch eine Förderung von oben gewinnen, dass das auch mal von anderen Seiten wahrgenommen und entsprechend gefördert wird, Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, um diese Projekte fortführen zu können und auszuweiten."
Astrid Schweighofer: "Und da finde ich es auch schön, dass junge Menschen einbezogen werden, sich mit der Geschichte auseinandersetzen, aktiv gestalten und was präsentieren können."
Leonhard Jungwirth: "Für die Zukunft spannend finden wir Erinnerungsprojekte außerhalb der evangelischen Kirche in den Blick zu nehmen. Kleine lokale Projekte gibt es bereits. Also gerade im Blick auf das Jahr 2017, das wurde auch hier in der Tagung öfter thematisiert, kamen sehr viele Impulse aus der katholischen Kirche, die den Protestantismus auf eine neue Art und Weise thematisiert, in den Blick genommen und gewürdigt haben, auch in seiner Geschichte. Verstärkt wollen wir aber die sogenannten Fremdbilder verstärkt in den Blick zu nehmen, das wird sicherlich ein Anliegen bleiben und uns vielleicht bei weiteren Projekten noch begleiten."
Martina Fuchs: "Und wichtig wäre, die komparative Ebene, dass wir eben die Zusammenarbeit und den Vergleich mit katholischen Erinnerungsprojekten suchen, aber auch über Österreich hinausgehen und schauen, wie läuft Erinnerung in speziellen Gruppen, Kreisen oder Kirchen in anderen europäischen Ländern?"
Glauben Sie, braucht es hier auch eine historische Zeitwende oder eine Wende im historischen Verständnis innerhalb der Evangelischen Kirche in Österreich? Wollen Sie mit dieser Tagung so etwas einleiten oder ist das ein sehr hehres Ziel?
Martina Fuchs: "Wir wollen jetzt einmal den Status quo erheben und schauen, was gibt es, wo können wir weiterarbeiten? Wenn das zu einer intensiveren Arbeit führt, wäre das natürlich ein schönes Ergebnis unserer Arbeit. Aber eine Zeitwende, glaube ich, ist auch schon teilweise eingeleitet eben durch diese ganze Geschichte um die Erinnerungsorte, die Gedächtnisse. Und das schließen wir auch an."
Eine abschließende Frage noch: Was kommt nach der Tagung? Also wie geht es weiter, wenn die dreitägige Tagung endet? Was kommt noch? Wird es einen Tagungsband geben? Kommt schon die nächste Tagung?
Astrid Schweighofer: "Es wird einen Tagungsband geben. Die Beiträge werden im Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus im Österreich im Band 2023/24 erscheinen."
Leonhard Jungwirth: "Ja, die Forschungsergebnisse oder Diskussionsergebnisse dieser Tagung wollen wir, nachdem sie festgehalten wurden, zurückspielen in dieses Netzwerk, aus dem heraus die Tagung entstanden ist, das sogenannte "Memory Lab - Evangelisches Erinnern", das im Albert-Schweitzer-Haus/Forum der Zivilgesellschaft angesiedelt ist und aus dem heraus kirchliche wie evangelische Erinnerungsarbeit kritisch begleitet werden will. Aber an der Entwicklung eines neuen Geschichts- oder Zeitverständnisses werden wir zumindest derzeit noch nicht arbeiten. Eine Sache, für die ich sehr, sehr plädiere – das ist ein Impuls, den wir wahrscheinlich stark aus den Geschichtswissenschaften, der Kirchengeschichte als auch aus der profanen Geschichte heraus geben können – ist die Entwicklung eines ambivalenzfähigen Geschichtsbilds. Also eines Geschichtsbilds, das alle Schattierungen versucht, in den Blick zu nehmen und nicht allzu sehr vereindeutigt, vereinseitigt, über akzentuiert."
Dann sage ich Danke an diese Runde. Mit mir gesprochen haben die evangelische Theologin Astrid Schweighofer, die Historikerin Martina Fuchs sowie der evangelische Theologe Leonhard Jungwirth vom Institut für Kirchengeschichte. Vielen Dank!
Astrid Schweighofer ist seit Dezember 2020 Elise-Richter-Stipendiatin des FWF im Projekt „Understanding Lutheran Confessionalisation“ am Forschungsbereich Geschichte der Habsburgermonarchie und Präsidentin der "Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich". Seit März 2020 ist Astrid Schweighofer zudem an der KPH Wien/Krems tätig. Im September 2022 hat sie die Habilitationsschrift „Im Streit für Christus – Nikolaus Gallus und die lutherische Konfessionsbildung“ an der Universität Wien eingereicht.
Leonhard Jungwirth ist als Postdoc-Assistent am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst an der ETF Wien tätig. Außerdem ist er in der "Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich" aktiv, sowie an der Konzeption und Redaktion des "Jahrbuchs für die Geschichte des Protestantismus in Österreich" mitbeteiligt. Jungwirth ist zudem Mitbegründer des Memory Labs evangelisches:erinnern des Albert Schweitzer Haus-Forums der Zivilgesellschaft.
Martina Fuchs ist seit 1996 am Institut für Geschichte der Universität Wien tätig. Die Historikerin ist zudem bei der "Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich" aktiv.