Alte Sprachen – Qual oder Segen?
Podcast vom 26. September 2022 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Willkommen zu einer neuen Folge des Podcasts Diesseits von Eden. Dieses Mal zum Thema "Alte Sprachen - Der Sinn oder Unsinn Theologiestudierende mit Latein, Hebräisch und Griechisch zu quälen?". Meine Fragen beantworten heute Uta Heil, seit 2015 Professorin für Kirchengeschichte an der Evangelischen Fakultät der Universität Wien. Die zweite Interviewpartnerin ist Agnethe Siqunas, seit 1. Juli 2019, Universitätsprofessorin für alttestamentliche Bibelwissenschaft an der katholischen Fakultät der Universität Wien.
Die erste Frage geht gleich an Professorin Uta Heil: Es geht heute um den "Sinn oder Unsinn Theologiestudierende mit alten Sprachen zu quälen". Ist es denn wirklich so eine Quälerei oder kann es auch Freude sein?
Heil: "Also meiner Meinung nach ist das keine Quälerei, sondern eine große Bereicherung. Also wenn ich an meinen eigenen Studienbeginn zurückdenke, war das eine großartige neue Entdeckungsreise, die man da unternommen hat. Gerade in Bezug auf das Hebräische, erschließt sich über die Sprache eine ganz eigene Sprachwelt, eine Gedankenwelt, eine Welt der Vergangenheit, in die man halt über einen übersetzten Text nur ungefähr erahnen kann. Aber das ist beim griechischen Neuen Testament nicht anders. Und hinzu kommt, dass man gerade in Bezug auf biblische Texte oftmals einen sehr vertrauten Text im Ohr hat, den man seit Kindheitstagen irgendwie kennt. Durch die Beschäftigung mit dem Originaltext, gewinnt man eine Art Verfremdung, so dass man diese eigentlich vertrauten Texte neu zu lesen gezwungen ist. Und das geht nur über die Originalsprache. Man könnte natürlich auch sagen okay, ich nehme die deutsche Übersetzung, daneben noch eine französische und italienische und eine englische. Aber jede Übersetzung ist eine Interpretation und wir kommen nur annähernd ran, wenn wir uns mit dem Original beschäftigen. Und deswegen keine Quälerei, sondern große Chance."
Frau Professorin Siquans, hatten Sie schon einmal so ein Aha-Erlebnis, einen Aha-Moment, wenn Sie einen Text in der Originalsprache gelesen oder übersetzt haben? Oder wie kann man sich denn das vorstellen? Wie, wie gehen Sie da heran?
Siquans: "Ich hatte viele solche Momente, einfach weil sich da eine neue Welt erschließt, wenn man sich näher mit dem Originaltext beschäftigt. Und wie Uta Heil schon gesagt hat, ist jede Übersetzung eine Interpretation: Viele Begriffe haben im Hebräischen, Griechischen oder Lateinischen ein anderes Bedeutungsspektrum als im Deutschen. Allein schon, wenn man deutsche Übersetzungen nebeneinander legt, sieht man, wie unterschiedlich die ausschauen. Und so kann man über die Beschäftigung mit Begriffen eine neue Welt erschließen. Zum Beispiel, wenn man sich die Ausdrücke, die für "Mensch" gebraucht werden, anschaut; da stecken im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen und auch im Deutschen ganz unterschiedliche Vorstellungen dahinter. Hier ist es spannend, sich in den Text zu vertiefen und sich anzuschauen, was dieser Ausdruck noch bedeuten kann. Denn dieses Wort heißt nicht nur das, was jetzt in meiner Einheitsübersetzung oder Lutherbibel steht, sondern hat noch viel mehr Konnotationen. Ich denke, dass diese Fremdheit von Begriffen Studierende herausfordern kann, etwas Neues kennenzulernen."
Prof. Uta Heil, evangelisch-theologische Fakultät Wien
Heil: "Ich möchte ein Beispiel aus dem Griechischen ergänzen: Wenn man sich allein den Begriff "pistis" anschaut, der mit Glauben übersetzt wird und das Glaubensbekenntnis einleitet. Unsere Bedeutung vom Glauben ist im Deutschen anders als von "pistis" im Griechischen. Im Griechischen hat es auch die Bedeutung von Vertrauen bis hin zum Schwören. Diese Bedeutung des Vertrauens fällt im Deutschen unter den Tisch. Das Resultat ist im Deutschen ein "Ja, ich glaube etwas, weil ich's nicht weiß" oder "Ich habe etwas auswendig zu lernen, wie das Glaubensbekenntnis oder eine Glaubenslehre". Zum Begriffsursprung kommt man nur hin, wenn man übers Griechische geht und sich die Bedeutungsvielfalt vom Begriff "pistis" anschaut. Da kann man unendlich viele Beispiele nehmen. Es ist zwar natürlich etwas mühsam, sich über den griechischen oder hebräischen Text bestimmten Begriffen zu nähern, aber eigentlich kommt man dadurch erst dahinter, was wirklich gemeint ist."
Vor einigen Jahren wurde die "Bibel in gerechter Sprache" herausgegeben. Ich kann mich an sehr große Diskussionen erinnern, auch in Wien. Da ich jetzt zwei Theologinnen, eine von der evangelischen Seite oder eine von der katholischen Seite, vor mir habe: Wie ist es denn mit Sprache und Gender? Kann der Originaltext helfen, so manchen falsch Interpretationen oder historisch eingeschlichen Interpretationen auf die Schliche zu kommen?
Siquans: "Es kann helfen, Richtungen oder Interpretationen, die uns geläufig sind, zu hinterfragen. Das ist im Hebräischen ganz interessant, da dort getrennte Verbformen für Männlich und Weiblich existieren, was es im Deutschen nicht gibt. Hier hat die Bibel in gerechter Sprache versucht, dahinter zu schauen. Im Hebräischen ist es so, wenn jetzt 99 Frauen und ein Mann hier angesprochen sind, dann wird die männliche Form verwendet. Und da kann man jetzt einfach mal fragen: Ja, wenn wir jetzt den Eindruck haben, das sind jetzt lauter Männer, war das denn nicht anders? Was kann hier ursprünglich gemeint sein? Durch diese Übersetzung wird hinterfragt, ob nicht eine andere Wirklichkeit dahintersteckt, als sich in unseren Köpfen oft eingeprägt hat."
Heil: "In Bezug auf Übersetzungen haben wir im Christentum ein Verständnis davon, dass eine Übersetzung große Freiheit ermöglicht. So haben wir, wenn man sich den Verlauf der Kirchengeschichte anschaut, immer wieder die Bibel übersetzt. Die Bibel wurde ins Lateinische, Gotische und dann in die ganzen europäischen Sprachen übersetzt; es gibt auch Übersetzungen ins Syrische. Wir haben also immer Übersetzungen gehabt. Erst in der heutigen Zeit existiert das Bedürfnis nach einem fixen Text. Und das ist es eigentlich nie gewesen, also noch nicht einmal nach dem Tridentinum im 16. Jahrhundert kann man sagen, dass die lateinische Übersetzung ein fixer Text gewesen ist. Insofern haben wir eine Tradition der Übersetzung, des Nachzudenkens, was die Begriffe heißen oder sie der gegenwärtigen Zeit anzupassen. Dazu gehört es auch moderne Fragestellungen aufzugreifen, die sich frühere Generationen nicht gestellt haben. Was natürlich nicht möglich ist, ist eine geänderte Übersetzung, die die - das mal pauschal gesagt - patriarchale Welt der Vergangenheit einfach ausradiert. Also das funktioniert nicht. Das ist wahrscheinlich auch der falsche Weg, weil man dann eine Geschichtsklitterung hat und das Problem übergeht. Man muss eher auf das Problem hinweisen. Es war eine Männergesellschaft und so ist es halt auch im Christentum gewesen, da fließt auch viel aus der römischen Kulturwelt hinein. Hier hilft es nichts, die Bibel weiblicher zu machen. Aber bei vielen Aspekten gibt es Verse, wo eine geänderte Übersetzung zum konstruktiven Denken anregen kann."
Ich möchte jetzt auf eine persönliche Ebene kommen: Wie viele alte Sprachen sprechen denn Sie, Frau Professorin Heil?
Heil: "Sprechen ist ein bisschen zu viel gesagt, weil man alten Sprachen nicht einfach auf dem Gang mit Kollegen spricht. Also ich habe Griechisch und Hebräisch im Studium gelernt, Latein, Englisch und Französisch in der Schule. Und dann eignet man sich noch ein bisschen Italienisch und Spanisch an, weil die Sekundärliteratur in diesen Sprachen publiziert wird. Man muss einfach sagen, Theologiestudium ist ein Textstudium und hat mit Texten zu tun. Und da möchte ich eine Lanze für das Lernen der alten Sprachen brechen, weil gerade in der heutigen Zeit kommen viele mit der Tendenz ins Studium die Texte sehr oberflächlich zu lesen. Die alten Sprachen zwingen einem zu einer Langsamkeit sowie zu einer intensiven und gründlichen Lektüre."
Prof. Agnethe Siquans, katholisch-theologische Fakultät Wien
Und wie ist es bei Ihnen, Frau Professorin Siquans?
Siquans: "Bei mir hat es ähnlich angefangen: Ich habe zuerst mal Griechisch und Hebräisch im Studium gelernt. Dann habe ich mich mit Aramäisch beschäftigt, da es im Alten Testament Bücher gibt, die in Aramäisch geschrieben sind, wie das Daniel Buch. Und ich habe auch Syrisch gelernt, eine alte Kirchensprache, in der viele frühchristliche Texte geschrieben sind. Und ich muss sagen, mir hat es immer Spaß gemacht. Es ist schön, wenn man wirklich einen Zugang zu diesen Texten bekommt und quasi in Dialog mit dieser Welt treten kann."
Was beobachten Sie bei Studierenden: Gibt es einen Vorbehalt, sich über Griechisch oder Hebräisch zu trauen, oder ist eine Offenheit gegeben? Wie geht es Studierenden im Jahr 2022 mit den alten Sprachen?
Siquans: "Manche haben einfach Freude an Sprachen, interessieren sich von vornherein und möchten das auch vertiefen. Manche tun sich eher schwer damit. Bei letzteren wäre es mein Anliegen, sie heranzuführen und ihnen zu zeigen, wie spannend das sein kann."
Heil: "So unterschiedlich, wie die Studierenden sind, ist auch ihr Zugang zu Sprachen. Ein wichtiger Moment - der die Motivation oftmals steigert - ist, dass es jene Sprachen sind, in denen die biblischen Texte verfasst sind. Studierende können die biblischen Texte auf Basis der frisch erlernten Sprachen neu kennenlernen. Das ist doch eigentlich ein fantastisches Erlebnis. Natürlich tun sich manche Studierenden schwer, das ist ganz klar. Aber da muss man betonen, dass Theologie als Studium auch eine Wissenschaft ist. Wie soll man in den Diskurs der Wissenschaft mit den Nachbarfächern einsteigen und auch Sekundärliteratur zum Fach zur Kenntnis nehmen, wenn man nicht die alten Sprachen kann? Das würde auch niemand in einem anderen Fach akzeptieren. Sie würden auch keinen Architekten nehmen, wenn er nicht zeichnen kann oder einen Arzt ohne Physikum akzeptieren. In der Theologie ist das halt der Text. Und aus protestantischer Perspektive kommt noch so das Streben des "ad fontes" hinzu, wo so aus den humanistischen und Renaissance-Traditionen die Entdeckerfreude der alten Sprachen herrührt."
Da möchte ich gleich einhaken: Gibt es hier innerhalb der zwei Konfessionen, die hier vertreten sind, auch Unterschiede, was die Wichtigkeit der Sprachen anbelangt? Professorin Heil, Sie haben schon gesagt, so "ad fontes", die evangelische Theologie möchte zum Ursprung gehen. Wie ist es denn bei der katholischen Theologie? Gibt es ebenfalls dieses Streben zum Ursprung, das Streben zur Wurzel? Oder ist es da nicht ganz so wichtig?
Siquans: "Es ist natürlich in der katholischen Kirche nicht so eine Tradition, aber in der Wissenschaft ist es natürlich notwendig, sich mit diesen Sprachen zu beschäftigen, in denen die biblischen Texte ursprünglich geschrieben worden sind. Dazu der noch der Dialog mit dem Judentum. Das Judentum liest die hebräische Bibel, die auch großenteils mit unserem Alten Testament übereinstimmt. Hier ist es spannend, dass diese hebräische Sprache auch in der Moderne wiederbelebt worden ist. Zwar ist das moderne Hebräisch anders als das biblische Hebräisch, aber der Zugang zum Hebräischen kann sehr hilfreich sein und den Dialog fördern."
Heil: "Ich würde den Unterschied ein bisschen provokativ anders beschreiben, dass in der katholischen Theologie das Latein wichtiger ist als bei uns. Aber nicht, dass jetzt das Hebräische und Griechische so unterschiedlich geringer wertgeschätzt wird."
Eine Bitte noch zum Schluss für die Theologiestudierenden - egal ob katholisch oder evangelisch -, die uns hier vielleicht hören: Könnten Sie noch einen Satz sagen, warum es wichtig ist, diese alten Sprachen im Jahr 2022 zu lernen?
Siquans: "Ich denke, es lohnt die Mühe, sich damit zu beschäftigen. Natürlich ist es anstrengend, Sprachen zu lernen. Es ist eine Herausforderung, aber man bekommt dafür auch etwas, nämlich einen viel tieferen und breiteren Zugang zum Ursprung der eigenen Religion, des Christentums und zu den Texten selbst."
Heil: "Ich würde nur noch ergänzen, dass wir ja auch keine Unmenschen sind und Unmögliches verlangen. Wir haben Kurse, die man mit ein bisschen Engagement, Bemühen und kontinuierlichem Lernen absolvieren kann. Aber man kann natürlich auch Griechisch und Hebräisch noch viel intensiver studieren. Wir haben gar nicht den Anspruch, dass Studierende ein altgriechisches Buch aufschlagen und einfach so runter lesen können. Sie sollen in der Lage sein, den griechischen Text zu lesen und mithilfe einer Übersetzung zu erkunden, damit sie den wissenschaftlichen Diskussionen folgen und auf diese Art und Weise wissen können, worum es überhaupt geht. Noch ein Wort zum Nachtrag: Ich halte es für ein Gerücht, dass man davon ausgehen könnte, wir würden jetzt sagen, man braucht die alten Sprachen nicht mehr zu lernen, dass auf einmal zwei, drei, viermal so viele Studierenden uns die Erstsemesterzahlen explodieren lassen würden. Also das halte ich für ein Gerücht, das glaube ich nie und nimmer."