Afghanistan nach dem Abzug: Wer sind die Taliban & was glauben sie?
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Podcast vom 23. August 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Es ist das Wesen von Podcasts - theologischen Podcasts noch dazu -, dass sie stets "hinterher" sind. Dass sie reflektieren wollen, statt Schnellschüsse zu liefern. Der letzte Podcast zur Frage des Subjekts war so ein Reflexionsversuch. Doch die Weltgeschichte macht keine Ferien. Im Gegenteil, sie überstürzt sich derzeit - und leider nicht im Guten. Ich spreche dabei nicht von der Erdbebenkatastrophe, die - wieder mal - die Menschen auf Haiti heimgesucht hat. Auch nicht von der vierten Welle der Corona-Pandemie, sondern von Afghanistan, wo die Taliban seit Mitte August nach 20 Jahren wieder die Macht übernommen haben. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Folge "Diesseits von Eden" sagt Henning Klingen.
Als "Schande" und als "Versagen des Westens" werden die Ereignisse in den Feuilletons bezeichnet - und die Taliban dabei als "Extremistengruppe" oder als "Islamisten" eingestuft, die nun voraussichtlich wieder wie damals ein barbarisches Regime errichten werden. So schrecklich dies ist bzw. voraussichtlich sein wird - vor allem für die Frauen, die Hauptleidtragende sein dürften -, so wichtig erscheint zugleich, das begriffliche Werkzeug zu schärfen und genauer hinzuschauen, mit wem man es eigentlich bei "den Taliban" zu tun hat. Wie viel Religion steckt in den Taliban? Und wie kann es sein, dass sie so leichtes Spiel hatten nach so langer Zeit im Untergrund?
Taliban, Al-Qaida, IS - alles dasselbe?
Mein Gesprächspartner dazu ist der Grazer Religionswissenschaftler Prof. Franz Winter. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte des Kontaktes zwischen Europa und Asien von der Antike bis zur Gegenwart, neureligiöse Bewegungen, Esoterik, aber auch den Themenkomplex Islam und Moderne. Ich habe Prof. Winter zunächst mit der Stammtischformel "Taliban, Al-Qaida, Islamischer Staat – ist doch alles dasselbe" konfrontiert. Worin also liegt der Unterschied der Taliban zu diesen anderen Gruppierungen, mit denen man ebenso Angst und Schrecken verbindet?
"Es ist so, dass die Taliban auf jeden Fall keine dschihadistische Bewegung sind, so wie eben die Al-Qaida und auch der IS, die wirklich aktiv auch im Kampf ums Land sich gewendet haben gegen den Westen und vor allem auch gegen die Juden. Das war immer der Kampf gegen die Kreuzzüge und die Juden, wie das in diesen Manifesten immer wieder geheißen hat. Während die Taliban bei aller Nähe zur islamischen Tradition vor allem immer etwas im Fokus hatten und das ist das Bestreben gewesen, nämlich ihr eigenes Land, nämlich Afghanistan, zu befreien. Also das ist das, was man als Unterschied auf jeden Fall herausarbeiten kann. Sie sind also einerseits natürlich eine sehr stark durch eine spezifische Interpretation des Islam geprägte Form oder Bewegung, die allerdings auch mit einer spezifischen ethnischen Anbindung eine zusätzliche Notion einbringt. Das ist ja gerade der Unterschied zu Al-Qaida und IS, wo ja alle möglichen Leute, die sich irgendwie berufen gefühlt haben, da hinuntergefahren sind nach Syrien bzw. in den Irak. Die Taliban sind an sich sehr stark auch ethnisch gebunden. Und da muss man eben vor allem auch noch einen weiteren Hintergrund zitieren, nämlich die Taliban, die mit der Ethnie der Paschtunen sehr stark verbunden sind. Die Paschtunen sind eine der vielen Ethnien Afghanistans bzw. sowohl Afghanistans - wir sprechen hier vom Südosten Afghanistans - als auch Pakistans. Ich verwende jetzt mal den Begriff Ethnie, auch wenn das schwierig ist; aber es gibt halt eine gewisse Verbundenheit auch durch die gemeinsame Sprache, die deutlich unterschieden ist vom Dari, das an sich nichts anderes ist als das Persische, das im übrigen Afghanistan gesprochen wird. Die Taliban sind also primär mal jetzt mit dieser paschtunischen Ethnie verbunden und ihr primäres Ziel ist auch, diese paschtunische Ethnie als die Herrscher Afghanistans zu etablieren. Und das, was sie daran gehindert hat, war natürlich jetzt die Fremdherrschaft; und dass man jetzt konkret die US-Amerikaner, die noch jetzt 20 Jahren im Endeffekt aufgegeben haben oder aufgeben mussten, weil man gesehen hat, dass das offensichtlich nichts bringt. Was die Ausbildungstradition betrifft, so ist es so, dass die Taliban ihre Wurzeln an sich im Norden Pakistans haben, und zwar in sogenannten Koranschulen, die in den 80er-Jahren schon eingerichtet worden sind, also damals Jugendliche, die dann die späteren Taliban rekrutiert haben. Und die sind dort in einer sehr, sehr rigorosen, konservativen Form des Islam unterrichtet worden. Und das ist natürlich die Basis, mit der auch jetzt die Gesellschaft strukturiert werden soll. Und da geben sich natürlich dann auch Überschneidungen mit anderen problematischen Entwicklungen innerhalb der islamischen Welt. Es ist ja so, dass im Norden Pakistans ja auch die Ausbildungsstätte war für Al-Qaida Anhänger, also für dschihadistische Bewegungen. Wir haben da schon Überschneidungen, und das Ganze verbindet sich dann mit einer sehr engen, sehr spezifischen und auch hochproblematischen, sehr eng geführten Interpretation der islamischen Tradition, die halt jetzt teilweise von denen umgesetzt wird. Und das wird sicher jetzt noch zu beobachten sein, wie das in weiterer Folge sich auswirkt."
Religiös-ethnischer Kontrapunkt gegen "den Westen"
Damit hat Franz Winter bereits das wichtige Feld der theologischen Tradition und Lehre berührt bzw. betreten, welches uns natürlich in besonderer Weise hier interessiert. Welcher Lesart des Islam also folgen die Taliban?
"Es ist so, dass für diesen ganzen Raum Norden Pakistans, wo die Ausbildung dieser Taliban ursprünglich im Kontext dieser Koranschulen der sogenannten Medresen erfolgt ist, schon eine spezifische Strömung innerhalb des Islam genannt wird, die im Westen wenig bekannt ist - und zwar ist es die sogenannte Deobandi-Bewegung, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, inspiriert von bedeutenden Denkern aus dem 18. Jahrhundert, ist eine dieser vielen Reformbewegungen, die sich gerade im 18., 19. und dann eben auch im 20. Jahrhundert formiert haben im Kontext des Islam und die eine Art Gegenbewegung gegen diese Konfrontation mit der westlichen Moderne war. Das ist die große Erschütterung, die hat die islamische Welt auch im Zuge des offensichtlich Unterlegenseins dann vollzogen hat. Und da hat es eine Reihe von Reformbewegungen gegeben, die unterschiedlich reagiert haben auf diese Herausforderung, auf diese Konfrontation mit der Moderne. Die eine Variante war eher, die Moderne anzunehmen, und die andere Variante war diese Deobandi-Bewegung war eher eine Rückzugsbewegung und in weiterer Folge eine eben sehr konservative, sehr literale Lesart des Islam. Dazu kommt der globale Einfluss der wahabitischen Tradition aus Saudi-Arabien, die durchaus ähnlich ist. Die hier ist ja auch im 18. Jahrhundert begründet worden und ist eigentlich eine vergleichbare Reformbewegung. Also wir haben ein gemeinsames Decoctum, eine Art 'gemeinsame Suppe', die dann unterschiedliche Ausflüsse zeitigt. Die Taliban sind eines dieser Ausflüsse, die in weiterer Folge sich noch verweben mit ethnischen Kategorien, die sehr stark etwas mit Afghanistan, der Geschichte Afghanistans zu tun haben. Und ein Aspekt sollte vielleicht noch erwähnt werden: Es ist so, dass das, was da passiert, da ist natürlich sehr viel unter Bezug auf den Islam, auf den Koran erklärbar. Es gibt aber einige Elemente, die wiederum mit dieser ethnischen Anbindung an die Paschtunen erklärt werden kann. Die Paschtunen gelten als ein Volk, das einen sehr stark ausgeprägten Ehrenkodex hat, wo bestimmte Elemente - im Positiven wären das z.B. Gastfreundschaft, aber im negativen Sinne natürlich auch der Umgang mit Frauen, die Rückstellung der Frau bis hin zur Blutrache - gelten. Diese im Übrigen auch zusammengedacht mit der ganzen Geografie, der Topografie Afghanistans: Das sind halt teilweise stark voneinander abgetrennte, unzugängliche Gebiete. Also man hat hier eine sehr tribale, auf die Zugehörigkeit zum Stamm fokussiert Bevölkerung mit einer hohen Loyalität gegenüber einem Stammesführer, der Schutz gewährleistet - auch weil es keine funktionierenden staatlichen Strukturen gegeben hat. Und das war ja die Situation im Grunde genommen in den letzten Jahren, wo es zu einer starken Trennung zwischen Stadt und Land gekommen ist. Also Kabul bzw. einige Städte, größere Städte, die separat waren, die eine gewisse Elite hervorgebracht haben, die sich sehr westlich orientiert hat - und dann aber der Rest des Landes, aus denen sich dann sehr stark auch die Taliban rekrutieren, der in weiterer Folge völlig anders gepolt war."
Es ist also eine Mischung aus historisch grundierter Lehrtradition, gepaart mit ethnischen Besonderheiten, die im Fall der Taliban diese explosive, ja, schreckliche Mischung ergeben. Doch wie konnten die Taliban, so frage ich mich, eigentlich all die 20 Jahre seit ihrer Verdrängung von der Macht bis heute "überleben"? Und – der Verdacht steht im Raum – bedurfte es dazu nicht doch eines gewissen Rückhalts in der Bevölkerung?
Wie stark ist der Rückhalt der Taliban in der Bevölkerung?
Um das zu verstehen, um den enormen gesellschaftlichen Gap zu begreifen, müssen wir wieder in der Geschichte zurückgehen, so Franz Winter:
"Wenn man sich mit der Geschichte Afghanistans beschäftigt, dann ist das ein Land, das über die Jahrhunderte, könnte man sagen, immer wieder Fremdherrschaften ausgesetzt war. Es war also hier ein genereller Zug der Geschichte, das hat viel mit der Lage zu tun. Wir haben ja bei Afghanistan ein Land, das eigentlich am Scheitelpunkt Westasiens, Zentralasien zum Südasiens liegt. Wir haben auf der einen Seite den Ausgang der Seidenstraße; wir haben dann beginnend Westasien, also den Nahen Osten und natürlich den Hindukusch, die Abgrenzung zu Südasien, zum indischen Subkontinent und damit ist es ein klassisches Durchzugsland. Und da kann man über die Jahrhunderte immer wieder beobachten, wie sich alle möglichen Mächte bemüht haben, dieses Land zu erobern. Und auf der anderen Seite gibt es eine Bevölkerung, die es immer geschafft hat, sich gegen diese Oberherrschaft zu wehren und sich auch dagegen durchzusetzen. Weil im Endeffekt haben alle Mächte aufgegeben. Es hat den 19. Jahrhundert ja das berühmte 'Great Game' gegeben zwischen Russland und Großbritannien, die diesen gesamten Raum für sich beansprucht haben. Der Bevölkerung war es aber immer wieder gelungen - auch unterstützt durch die Topografie -, diese Fremdherrschaft abzuschütteln. Die Folge war natürlich aber, dass sie eine Bevölkerung haben, die sehr stark auf sich selber bezogen lebt. Ich habe schon diese tribalen Strukturen erwähnt. Das ist natürlich auch der Nachteil von solchen Strukturen, dass sie da in einer gewissen Enge leben und auf sich selber bezogen bleiben. Das hat schon eine gewisse Faszination. Also das wäre sicher ein wichtiges Moment, das erklärt, warum es die Taliban geschafft haben, über 20 Jahre zu überleben. Und noch mal zur Topografie: Die Amerikaner haben es ja nur geschafft, die Städte und ein paar Tiefebenen zu kontrollieren und dort die Eliten angesprochen haben, aber nie die Breite der Bevölkerung erfasst haben. Das erklärt meines Erachtens auch die Geschwindigkeit, von der wir wahrscheinlich alle überrascht waren. Aber dass das jetzt so schnell gehen konnte, diese Eroberung, das ist nur erklärlich, dass da wirklich auch ein extremer Rückhalt ist bzw. eine Abneigung gegenüber dieser oktroyierten Fremdherrschaft und dem, was sich damit verbindet: Die Eliten der Stadt, die halt auch dann wahrscheinlich etwas despektierlich auf die Landbevölkerung schauen oder auf alles, was nicht städtisch ist. Was sicher auch den Reiz ausmacht: Wenn ich traditionell aufwachse im Kontext Afghanistans, dann ist mir natürlich das, was die Taliban repräsentieren, näher, auch was die Religion betrifft, als das, was der Westen anbietet, wenn er überhaupt etwas anbietet."
Wenn er überhaupt was anbietet. Damit schließt sich der Kreis bzw. stellt sich die Frage nach der Zukunft. Denn "der Westen" bietet einstweilen gar nichts mehr an. Er hat sich selber aus dem Spiel genommen. Wobei tatsächlich als letzte Frage jene nach der Zukunft bleibt. Die ersten Pressestatements der neuen afghanischen Machthaber klangen schließlich erstaunlich "moderat": Sollten sich die Taliban und ihre Ideologie in den vergangenen 20 Jahren entwickelt, verändert, gar modernisiert haben?
Wie geht es nun weiter?
Mit Prognosen ist der Religionswissenschaftler vorsichtig. Hieß es nicht, es würde bis Weihnachten dauern, bis Kabul fällt? Und gekommen ist es anders … Daher zu dieser heiklen Frage noch einmal abschließend Franz Winter:
"Ich glaube, dass niemand vorhersehen kann, wie sich das entwickelt. In der Tat ist es so, dass die ersten Pressestatements moderat klingeln. Man hat da immer wieder durchschimmern lassen, dass man gar nicht so eingreifen will. Da gab es die Berichte über die Mädchenschulen, die nicht geschlossen worden sind und so weiter. Da muss man schon dazu sagen: die haben natürlich schon auch medientechnisch gelernt. Also die wissen, wie sie die Erwartungshaltung des Westens konterkarieren können. Und das ist sicher ein Unterschied zwischen der Gruppe der Taliban, die 1996 bis 2001 die Herrschaft hatte in Afghanistan, und der jetzigen Gruppe von Taliban. Das sind auch die Agierenden andere, aber auch nur teilweise. Und das ist genau der Punkt: Wer jetzt wirklich das Sagen hat und wer in weiterer Folge sich durchsetzt, muss offen bleiben. Und da wird es, glaube ich, ziemliche Auseinandersetzungen geben, die im besten Fall eine Herrschaft hervorbringen, die sehr stark mit dem Islam verbunden ist und die durchaus auch die Scharia-Gerichtsbarkeit hat; also etwas, das man dann wahrscheinlich vergleichen könnte mit dem Königtum Saudi-Arabien - allerdings ohne Öl, also nicht mit diesen finanziellen Mitteln. Oder aber es kommt eine Version des Islam, die wirklich dann die ganze Zivilgesellschaft massiv unterdrückt, wo es dann keine Rechte für Frauen gibt und ähnliche Dinge. Aber wie sich das wirklich entwickeln wird, das kann vermutlich keiner vorhersagen. Und auch wer jetzt wirklich das Sagen hat: Selbst wenn jetzt dann Hibatullah Achundsada als der 'Fürst der Gläubigen' präsentiert wird - das ist ein alter, ehrwürdiger islamischer Titel - ob der jetzt wirklich die Geschicke bestimmt und dominiert, oder ob da nicht andere im Hintergrund die Fäden spinnen, die möglicherweise ganz andere Interessen haben und die dann auch das Ganze weiterentwickeln - also das muss wirklich offenbleiben."
Das war eine neue Folge "Diesseits von Eden". Bleiben Sie uns gewogen – vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.