Was lernen wir aus der Pandemie? Erstes Grazer Online-Philosophicum diskutiert "Zumutung Corona"
Foto: Florian Traussnig / KHG Graz
Podcast vom 12. April 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Es ist wirklich eine Zumutung: Das C-Wort. Corona. Seit über einem Jahr bestimmt es das politische Handeln, unser soziales Leben, letztlich alle Bereiche des Menschseins. Kein Wunder daher, wenn sich auch Wissenschaftler jenseits der Virologie mit der Pandemie beschäftigen. Denn längst zeigen sich ja nicht nur gesundheitliche Folgen, sondern auch soziale und psychologische Folgen. Und damit Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Diesseits von Eden" sagt Henning Klingen.
Zu den Wissenschaften, die sich – jenseits der Virologie – mit Corona befassen, zählen auch Theologie und Ethik. Im vergangenen Jahr haben etwa namhafte Wissenschaftler der Uni Graz unter theologischer Federführung eine umfassende Publikation unter dem Titel "Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise" vorgelegt. Fast 450 Seiten stark. Nun hat die Katholische Hochschulgemeinde Graz in Kooperation mit der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Graz ein Podium zusammengestellt, das sozusagen ein Update liefern sollte. Unter dem Titel "Philosophicum: Zumutungen der Corona-Krise" wurde vor laufenden Kameras darüber diskutiert, was wir aus Corona lernen können – für eine Zeit nach Corona. Eine Premiere. Denn die Diskussion fand "live" in den Räumen der KHG statt und wird am 16. April um 18 Uhr über die Website der Katholischen Hochschulgemeinde unter www.khg-graz.at online gestellt. Ich durfte schon hineinhören und -schauen in die Diskussion – und diesen Podcast zugleich als kleinen Appetizer gestalten, als Einladung: Schauen Sie doch hinein ab 16. April, 18 Uhr. Online.
Psychologin: Eklatanter Anstieg psychischer Erkrankungen
Nun aber zur Sache, d.h. zu dem, was dort verhandelt wurde – unter der Leitung des Grazer christlichen Philosophen Hans-Walter Ruckenbauer: Die Klinische Psychologin Marie-Christin Hinteregger etwa berichtete aus ihrer eigenen Erfahrung als Psychologin von der wachsenden Zahl psychischer Erkrankungen. Corona zeitigt nicht nur organische Schäden, sondern es trifft auch die Seele:
"Was spürbar ist, sind jetzt einfach wirklich diese psychischen und psychosozialen Auswirkungen, die diese Corona-Pandemie jetzt an allen Ecken und Enden zu zeigen beginnt. Wir haben einen ganz eklatanten Anstieg an psychischen Erkrankungen und auch dieser Kontakt, der persönliche Kontakt und die körperliche Nähe: Es geht einfach ab. Und was schon auffällig ist: es ist zu einer neuen Normalität geworden. Dieses geflügelte Wort hat uns ja auch immer wieder begleitet im vergangenen Jahr, dass wir uns alle bis zu einem gewissen Grad natürlich mit dieser Situation arrangiert haben und Dinge, die für uns früher selbstverständlich waren, jetzt tatsächlich verschwunden sind. Beispielsweise der Handschlag zur Begrüßung. Der existiert jetzt nicht mehr. Interessant ist auf weitere Perspektive: Wenn es denn wieder möglich sein wird - wird der wiederkommen? Oder welche Veränderungen sind jetzt einfach bleibend?"
Es wundere daher auch nicht, dass die Politik angesichts dieser Entwicklungen die Angst-Karte spiele, um die Menschen zum Durchhalten und zur Beachtung der Covid-Maßnahmen zu bewegen. Allein: Angst ist kein guter Berater, so Hinteregger:
"Angst spricht alle Menschen an. Die Pandemie rüttelt ohnehin an diesem Grund-, Sicherheits- und Stabilitätsbedürfnis, weil genau diese Situation eingetreten ist, dass zum Arzt zu gehen, wenn ich mich krank fühle oder krank bin, ist eigentlich etwas, was meiner Sicherheit zuträglich ist. Und das traue ich mich dann nicht mehr. Oder mich mit Menschen zu treffen, die mir wichtig sind, was mir gut tut - das traue ich mich dann nicht mehr, kann ich nicht mehr machen. Das heißt, es wird mit Angst gearbeitet, Angst geschürt. Und das schlägt bei uns allen Menschen natürlich an und es wird den Menschen dadurch eine Verantwortung umgehängt, so wie Sie gesagt haben: Es gibt dann keine Intensiv-Betten, wenn ich mich nicht an diese Vorgaben halte ..., und ich habe plötzlich eine große Verantwortung und zugleich große Angst und das belastet die Menschen enorm."
Mediziner: Pandemie lässt Personalmangel sichtbar werden
Ähnlich sieht das auch der Grazer Intensiv-Mediziner Wolfgang Kröll, einer der Mitautoren der besagten Grazer Corona-Publikation. Angst trübe zudem den Blick auf die Realität – und dazu gehöre auch, dass Panik vor einem Mangel etwa an Intensiv-Betten nicht angebracht ist:
"Wir sind nicht in einer Situation wie z.B. Italien, wie z.B. Frankreich, weil wenn wir es wären, müsste man sie ja umgekehrt fragen: Warum hat Österreich von Italien Patienten übernehmen können und diese behandeln? Warum hat Deutschland von Frankreich Patienten übernehmen können und diese behandeln, wenn man für die eigene Bevölkerung zu wenig hätten? Wir haben dies nie ausgenutzt. Ich glaube das Maximum von diesen 1.000 war ungefähr 60 Prozent ausgenutzt, also etwas über 600 Patienten."
Es gebe also letztlich keinen Mangel an Intensiv-Betten – aber: es zeichne sich ein Mangel an kompetentem Pflegepersonal ab, so Kröll:
"Was sicher auch sichtbar gemacht worden ist - und das ist sicher auch etwas für die Zukunft und wird auch immer wieder diskutiert -, ist der Personalmangel. Wir haben genug Intensiv-Betten, wir haben auch genug Normal-Betten, aber wenn man die Zahlen nimmt - etwa 100.000 Pflege Pflegekräfte in ganz Österreich und rund 40.000 Ärzte in den Krankenanstalten - dann haben wir da zu wenig; weil wenn wir eine solche Pandemie haben und wenn wir solche Schutzmaßnahmen anwenden müssen, wie wir das derzeit machen auf den Intensiv- und auf den Covid-Stationen, dann geht uns irgendwann nicht das Intensivbett aus, dann geht uns das Personal aus. Und ich meine, das Pflegepersonal ist genauso wenig gefeit davor, infiziert zu werden wie jeder von uns. Also wenn dort dann auch noch ein Teil davon ausfällt, dann ist das der limitierende Faktor, nämlich das Pflegepersonal und nicht das Intensivbett und nicht das Krankenhaus und nicht der Arzt."
Angst ist aber auch hier ein schlechter Berater. Unter anderem auch deshalb, weil sie den Blick regional verengt und uns nicht mehr die vielen weiteren Krisenherde wahrnehmen lässt, mit denen wir weltweit konfrontiert sind. Das jedenfalls unterstreicht der Grazer Soziologe Klaus Wegleitner:
"Wenn man das auf globaler Ebene anschaut, ist das noch viel radikaler, weil da gibt es ganze Weltregionen, wo eklatante Ernährungsknappheit herrscht, die Armut steigt. Das heißt: unter dem Schlagwort der Poly-Pandemie sind auch viele andere Pandemien gleichzeitig jetzt am Werk. Und das ist noch viel zu wenig im Blick und die anderen Weltreligionen in unserer Diskussion über Impfkontingente und so weiter aus dem Blick geraten. Und global betrachtet ist die Poly-Pandemie noch viel stärker sichtbar geworden mittlerweile."
Soziologe: Einen neuen Umgang mit Endlichkeit lernen
Gibt es aber Auswege aus dieser Krisenlogik? Wegleitner empfiehlt eine Art neuen Umgang mit der Krise. Sie wird nicht einfach wieder verschwinden. Sie wird Teil unserer Realität bleiben – und daher nach einer neuen Normalität verlangen, die den Menschen in seiner gesamten Existenz betrifft:
"Was wir hoffentlich lernen und gelernt haben werden, ist, dass der Blick auf ein System viel zu wenig ist; also dass wir lernen, wie unglaublich vernetzt und voneinander abhängig Systeme sind. Das heißt, das Gesundheitssystem allein kann Menschen nicht gesund machen, sondern es hängt davon ab, wie wir miteinander leben; ob wir soziale Beziehungen pflegen, wie wir alltägliche Solidaritäten interpretieren auch in der Nachbarschaftlichkeit. Um ganzheitlich mit einer Pandemie umzugehen, muss man eigentlich alle Politikbereiche, also "care in all policies"-Logik betreiben und diese Querschnitts Verschränkungen auch wirklich mitgestalten. Also das, was wir hoffentlich auch gelernt haben werden, ist, dass wir global in einer unglaublichen Wechselwirkung leben: Im Ökologie-Bereich ist das deutlich, aber in der Pandemie wird es hier auch deutlich: Sie macht nicht an den Grenzen halt. Und das ist vielleicht der letzte Aspekt, den wir hoffentlich lernen, dass wir als Gesellschaft und Politik ein Muster eingelernt haben, dass wir auf solche Bedrohungen in einer kriegerischen, mechanistischen, technokratischen Form reagieren. Als bräuchten wir nur die richtigen Instrumentarien und dann besiegen wir das und alles ist wieder gut... Aber so ist es nicht. Das lernen wir jetzt schon langsam. Es wird sich verändern. Es wird bleiben. Es wird Teil der Normalität werden. Und wir werden lernen müssen, damit zu leben. Und die Hoffnung, die darin liegen könnte, ist, dass wir auch im persönlichen und gesellschaftlichen Umgang lernen, mit grundsätzlicher Verletzlichkeit, mit dem, was uns als Menschen ausmacht, auch die Endlichkeit, das Sterben etc. vielleicht in einer anderen Weise umgehen zu lernen."
So der Soziologe Klaus Wegleitner. Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesen Häppchen ein wenig neugierig und „hungrig“ machen auf Mehr: Das gesamte "Philosophicum" können Sie wie gesagt ab Freitagabend, 16. April, um 18 Uhr online nachschauen:
Vielen Dank für’s Zuhören sagt Henning Klingen.