Unsere älteren Brüder im Glauben: Zum Verhältnis von Judentum und Christentum aus Sicht christlicher Theologie
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Podcast vom 1. Februar 2022 | Gestaltung: Henning Klingen*
Nach einer langen, viel zu langen Weihnachts- und Neujahrspause sind wir nun endlich wieder da. Mit einer neuen Folge von "Diesseits von Eden", dem Podcast der Theologischen Fakultäten in Österreich. Herzlich willkommen, sagt Henning Klingen.
Heute wollen wir uns einem gesellschaftlichen wie theologischen Dauerthema widmen, mit dem Studierende ebenso befasst sind wie gesellschaftspolitisch sensible Zeitgenossen. Es soll um das Judentum gehen - um das Judentum in seinem Verhältnis zum Christentum. Worin liegt die theologische Relevanz des Judentums für die christliche Theologie?
Diskutiert habe ich diese Frage mit drei ganz unterschiedlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Mit der Wiener Pastoraltheologin Prof. Regina Polak, die selbst im interreligiösen Dialog hoch aktiv ist und mit Phänomenen wie Rassismus und Antisemitismus unter anderem als OSZE-Sonderbeauftragte befasst ist. Dann mit dem Grazer Neutestamentler Prof. Christoph Heil, der immer wieder auch zu Fragen des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, von Judentum und Christentum aus biblischer Sicht forscht. Und schließlich mit dabei ist der Salzburger Fundamentaltheologe Prof. Gregor Maria Hoff, der unter anderem als päpstlicher Konsultor, also Berater in der Kommission für religiöse Beziehungen zum Judentum tätig ist.
Zur Notwendigkeit einer lebendigen Gedenkkultur
So viel zu meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Man kann nun nicht theologisch nach dem Judentum fragen, ohne geschichtlich und zeitgeschichtlich zu beginnen. So haben wir ja zuletzt am 27. Januar den internationalen Holocaust-Gedenktag begangen. Wenige Tage zuvor den "Tag des Judentums". Es haben sich etwa im Rahmen der Aktion #weremember auch Bischöfe mit Appellen gegen das Vergessen zu Wort gemeldet. So weit, so bekannt, möchte man fast sagen. Es bleibt aber vielleicht ja doch auch ein Unbehagen, wenn man nach Abnutzungserscheinungen öffentlichen Gedenkens fragt und zugleich sieht, dass Phänomene wie Rassismus und Antisemitismus weiter um sich greifen. Daher zunächst die Frage an meine Gesprächspartner, worin sie die Relevanz dieser Art öffentlichen, auch ritualisierten Gedenkens sehen:
Hoff: "Ich finde, dass man in Deutschland sehr klar sehen konnte, was eben gerade jetzt auch das Auschwitz-Gedenken noch einmal für eine Dynamik hat. Also zum einen gab es eine unglaublich breite mediale Berichterstattung und zum anderen werden auch mit den entsprechenden Rede-Beiträgen Erfahrungen und Argumente eingespielt. Das löst schon eine wirkliche Dynamik aus, die zum Teil ja auch in Debatten hineinführt. Das ist das, was man manchmal etwas abfällig als ritualisiertes Gedenken bezeichnet. Aus meiner Sicht ist das absolut unverzichtbar. Es ist jedes Mal wirklich noch einmal ein Stachel ins Fleisch hinein, der nicht zuletzt gegen den wieder neu nicht nur aufflammenden, sondern tatsächlich grassierenden Antisemitismus unter den Bedingungen klare Signale setzt."
Polak: "Ich glaube, als Österreicherinnen und Österreicher ist es auch unabdingbar, die Gedenkkultur zu pflegen. Es ist allerdings mindestens genauso unabdingbar, sie weiterzuentwickeln. Aleida Assmann hat ja vom Unbehagen an der Erinnerungskultur gesprochen. Das hat multiple Ursachen. Eine Facette ist der Generationenwechsel. Wir wissen auch aus der Forschung, dass es doch einen nicht unerheblichen Teil junger Menschen in Österreich gibt, die weder wissen, was Antisemitismus ist, noch den Begriff des Holocaust erklären können. Und das ist einerseits für Juden und Jüdinnen tatsächlich gefährlich. Und andererseits, und da spreche ich jetzt auch aufgrund meiner OSZE-Erfahrung, ist Antisemitismus ein Alarmsignal, dass es auch um andere Menschenrechte nicht gut bestellt ist. Von daher kann man immer davon ausgehen: wenn der Antisemitismus steigt und das ist empirisch nachgewiesen, nicht nur für Österreich, sondern auf einem globalen Level, dann kann man davon ausgehen, dass auch die Rechte anderer Menschen und vor allen Dingen Minoritäten in Gefahr sind. Von daher stellen sich da heute ganz neue Fragen auch noch in einer Migrationsgesellschaft. Und auch in Österreich haben wir die Verpflichtung, darauf zu antworten, wie Menschen, die nicht aus Österreich kommen, gedenken sollen. Ich halte es für unabdingbar, dass das stattfindet, aber wir brauchen einen anderen Begründungszusammenhang. Sonst erstarrt das Ritual. Und wenn ich es pointiert sagen darf: Betroffenheit allein genügt nicht, sondern wir brauchen ein umfassendes Ringen um das Verständnis, wie politische, soziale, kulturelle, religiöse Dynamiken aussehen, die zur Katastrophe der Schoah geführt haben."
Das sind jetzt zwei Antworten auf vonseiten systematisch und praktischer Theologie. Sieht das - bevor wir ins Biblische oder ins Theologische kommen - der Zeitdiagnostiker Christoph Heil auch so?
Heil: "Absolut, ja. Es ist vor allem für die nichtjüdische Gesellschaft in Österreich und in allen europäischen Ländern ganz wichtig, sich dieser Erinnerung an das Verbrechen der Schoah zu stellen, um einfach die Kenntnis, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Das wird ja in der intellektuellen Debatte immer wieder auch bestritten: Es sei zu viel an Erinnerung; man soll das mal gut sein lassen... Angesichts dieser Debatte muss die Theologie unbedingt dafür eintreten, dass die Geschichte und auch die Gegenwart des Judentums, dass die lebendige Begegnung mit Jüdinnen und Juden stattfindet, auch gerade für Theologie-Studierende; dass diese Erinnerung gut und auch aktuell wachgehalten wird, um diesem erschreckenden, wachsenden Antisemitismus zu begegnen, der, wie Frau Polak ganz richtig gesagt hat, ja dann nicht nur beim Judenhass bleibt, sondern sich auch auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft bezieht."
Polak: "Darf ich noch was ergänzen? Die Frage nach dem Ende - irgendwann muss doch auch mal gut sein ... - es gibt Umfragen, die zeigen, wie hoch die Zustimmung dazu in Österreich ist, nicht nur unter Experten. Das geht schon allein deswegen nicht, weil es nämlich für jüdische Familien nicht zu Ende ist. Auch da weiß man aus der transgenerationalen Trauma-Forschung, wie stark auch die zweite, dritte Generation der Opfer nach wie vor unter den zerstörten Familien leidet. Also für Juden und Jüdinnen stellt sich die Frage überhaupt nicht. Und auch das muss man, glaube ich, viel stärker ins Bewusstsein rufen."
Antisemitismus bekämpfen - auch innerhalb der christlichen Theologie
Nun sind wir ja in einem Theologie-Podcast - und da stellen sich natürlich die Fragen nach den etwaigen theologischen Wurzeln. Das, was Sie gerade geschildert haben, ist ja eine Art Verschiebung im Antisemitismus, hin in Richtung eines Rassismus, der sich seiner theologischen Wurzeln entledigt hat, oder? Anders gefragt: Ist der Antisemitismus und seine Wurzeln noch ein Thema für die christliche Theologie?
Hoff: "Ja, weil wir uns einfach auch mit unseren eigenen neutestamentlichen Texten auseinandersetzen müssen, die immer wieder neu zu verstehen, zu interpretieren sind. Und wir haben ja nicht umsonst auch vor einigen Jahren eine Debatte mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI. führen müssen. Dieser bekannte Communio-Artikel, in dem einfach letztlich trotzdem noch Spuren einer Substitutionstheologie eine Rolle gespielt haben. Und der Papst, der emeritierte Papst, behauptete: 'Ich habe das Wort gar nicht im Lexikon gefunden, also gibt es das gar nicht'. Das macht mehrere Dinge deutlich: Also einmal, wie tief eingefasst das selbst bei einem Theologen ist, der versucht, auf der Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils das Gespräch mit dem Judentum zu führen. Und zweitens, wie stark eben auch die Selbsttäuschungspraktiken funktionieren. Das ist nicht die Asservatenkammer, sondern es ragt in die Codierungsprogramme christlicher Theologien hinein. Wo laufen Sie dann trotzdem noch mal im Schema von Verheißung und Erfüllung so ab, dass es eine Art von heilsgeschichtliche Ersetzung Israels gibt? Das ist eben nicht einfach vorbei, solange wir uns immer wieder neu mit den Texten des Neuen Testaments auseinandersetzen müssen."
Gibt es da von biblischer Seite Hinweise, wo man vielleicht tatsächlich auch biblische Texte neu lesen muss? Oder liegt alles auf dem Tisch und man müsste eigentlich immer wieder auf dieselben Dinge neu hinschauen?
Heil: "Man muss das zunächst noch einmal klar unterstreichen, was Kollege Hoff gerade gesagt hat: Wir haben 2.000 Jahre an neutestamentlicher und auch frühchristlicher Überlieferung, die immer wiederholt wurde, die aus einer jüdischen Polemik stammt. Die frühen Christus-gläubigen Jüdinnen und Juden trennten sich von dem Mainstream, von der Mehrheit der jüdischen Gesellschaft und verfielen dabei in sehr bittere, gehässige Formulierungen. Paulus sagt, dass Juden Menschenhasser sein. Johannes, der Evangelist, sagt, die Juden hätten den Teufel zum Vater. Der Hebräerbrief sagt, der Bund Gottes mit Israel sei veraltet und obsolet. Diese Texte wirken nach. Und sie sind eigentlich bis nach dem Zweiten Weltkrieg in der katholischen wie in der evangelischen Theologie maßgeblich gewesen. Und erst so langsam, nachdem Auschwitz in seiner theologischen Bedeutung immer klarer wurde, hat man auch andere Texte im Neuen Testament, im Judentum gelesen. Man hat entdeckt: Jesus war ja Jude. Er denkt völlig jüdisch. Er kann gar nicht aus anderen Kategorien heraus denken und verstanden werden. Paulus kann auch sagen, dass ganz Israel gerettet wird. Am Ende also nicht nur die Christus gläubigen Juden und Jüdinnen, sondern alle, das ganze Israel. Also Paulus sagt auch: der Bund Gottes mit Israel ist nicht beendet, er besteht fort. Diese Texte aus der Frühzeit des Christentums, die einer antijüdischen Theologie widersprechen, die werden seit einigen Jahrzehnten erst wirklich entdeckt und stark gemacht, auch für die Systematische Theologie, für die Praktische Theologie. Und das ist weiterhin eine Aufgabe, weil diese alten Denkschemata - das Christentum hätte das Judentum ersetzt, Jesus hätte eine neue Religion gegründet und hätte alles neu machen wollen - diese Thesen schwirren immer noch in vielen Predigten und theologischen Publikationen herum, die müssen immer wieder kritisiert werden. Und das ist eine bleibende, große, wichtige Aufgabe der Theologie."
Polak: "Ich kann das aus pastoraltheologischer Sicht nur bestätigen. Ich habe dieses Semester ein Seminar gemacht zu Judentum in der Pastoral. Antijüdische Stereotype sind oft gar nicht böswillig, aber die sind so tief in der kirchlichen Matrix drinnen - und auch der Karfreitag ist in vielen Gemeinden immer noch ein Krampf, wenn ich das sagen darf. Und da habe ich noch gar nicht darüber gesprochen, was die Rezeption insbesondere der deutschsprachigen Systematische Theologie, die da unglaublich viel erarbeitet hat, in anderen Regionen bedeutet - europäisch und international sowieso. Wir haben mittlerweile auch eine internationale Studierendenschaft und da merkt man, was da noch an Arbeit ansteht - oder bei katholischen Migranten, die von all dem, was Sie gesagt haben, noch nie etwas gehört haben. Da gibt es noch sehr viel zu tun. Das andere ist, dass es christliche Motive auch im säkularen Antisemitismus gibt. Also gerade dann, wenn ich mir Verschwörungstheorien und -Mythen im Umfeld der Covid-19-Pandemie ansehe. Da wird ganz viel aufgegriffen, auch aus christlichen Traditionen. Also christliche Motive gibt es auch in säkularisierter Form nach wie vor."
Langwierige Übersetzungsprozesse
Es hört sich jetzt ein bisschen an wie eine Krisenanzeige der christlichen Theologie - und zwar eine Krisenanzeige in dem Sinne, dass die Übersetzung, der Transmissionsriemen in die Praxis, in die Pastoral, vielleicht sogar auch in die liturgische Verkündigung offenbar nicht wirklich funktioniert. Weil das, was Sie geschildert haben, liegt ja bereits vor: Zum einen kann man bei "Nostra Aetate" anfangen und eine neue Wertschätzung des Judentums entdecken. Dann gibt es die Arbeiten eines Johann Baptist Metz und einer "Christologie nach Auschwitz" - die schon seit 40 Jahren vorliegt. Warum braucht es so lange? Warum braucht es immer wieder Übersetzungen in die aktuelle Pastoraltheologie, in die praktische Theologie, in die Liturgie hinein? Warum ist das nicht einfach schon in der DNA drin?
Polak: "Also ich glaube, das ist nicht nur ein kirchliches Problem. Ich halte das für ein Wissenschaftsproblem, um da jetzt mal die Kirche auch ein Stück weit in Schutz zu nehmen. Das ist die Frage, wie in einer hochgradig ausdifferenzierten Wissenschaft der Transfer in gesellschaftliche und damit auch kirchliche Diskurse stattfindet? Also insofern halte ich das nicht für ein spezifisch kirchliches Problem, sondern für eine Frage, wie stark in Wissenschaftler-Laufbahnen dieser Transfer honoriert wird. Und man weiß: es braucht ungefähr 25 bis 50 Jahre, bis es in der Praxis überhaupt erst mal ankommt. Auch das ist nicht typisch für die Kirche, das ist normal. Ich finde es gerade auch in unserem Sprachraum wirklich viel passiert."
Hoff: "... und das kann man beispielsweise an Religionsbüchern ganz gut sehen. Also da ist doch eine ganze Menge passiert. Ich bin selbst Religionslehrer gewesen, habe sechs Jahre unterrichtet. Und man muss auch sagen, dass wir lehramtlich seit 'Nostra aetate' kein einziges Dokument haben, das - bezogen auf den jüdisch-katholischen Dialog - nochmal einen echten Rückfall darstellt. Wir haben im Pontifikat von Benedikt XVI. das Problem mit der Karfreitagsfürbitte gehabt. Und das zeigt: Es gibt dennoch weiterhin Spannungsmomente, die wir auch theologisch noch nicht ganz durchgespielt haben. Also ich will sagen: wir haben eine Menge gemacht. Aber es gibt auch ungelöste Fragen, das muss man ehrlich eingestehen. 'Nostra aetate' beispielsweise spricht davon, dass Jerusalem - wie die Schrift bezeugt - die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt hat und ein großer Teil der Juden das Evangelium nicht angenommen hat, sich der Ausbreitung widersetzt hat usw. Das, wie ich finde, wirklich sehr gelungene Dokument "Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt", also das Pauluszitat im Römerbrief, mit dem die Päpstliche Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum 2015 noch einmal eine Art von Bestandsaufnahme und Perspektivenangebot gesetzt hat - da ist auch die Frage danach: wie verhalten sich die beiden Bünde zueinander? Der neue Bund ersetzt nicht den alten. Aber wie ist dieses Verhältnis zur Erfüllung sozusagen? Wie ist das zu sehen? Und da ist einfach ein Spannungsmoment drin, dass wir nicht einfach hinter uns lassen. Immerhin, es gibt eine ganz klare Aussage, die lehramtlich ist; und das ist auch ein Ergebnis der Debatte mit Papst Benedikt XVI.: Keine Judenmission. Das ist etwas, was vor zwanzig Jahren nicht so deutlich gesagt worden wäre. Papst Franziskus spricht davon in 'Evangelii Gaudium': Gott wirkt weiter im Volk des Alten Bundes. Das heißt, das Judentum ist als Offenbarungsgröße bis heute für uns wichtig. Aber es gibt Nachholbedarf: Wir haben noch immer keine katholische Dogmatik, die sozusagen 'in jewish terms' geschrieben ist. Philip Cunningham in Philadelphia hat jetzt zehn Maximen veröffentlicht, in denen er noch einmal die Reziprozität im Dialog stark einfordert. Das ist auch etwas, was in die Wissenschaftspraxis noch stärker hinein muss, ist. Wir haben viele Türen offen gemacht, aber wir müssen durch viele Türen erst noch durchgehen. Ich für mich müsste sozusagen nochmal Judaistik studieren..."
Das Alte Testament als Lernort christlicher Theologie
Der Bibelwissenschaftler nickt und meldet sich gerade schon. Gibt es auch sonst - jenseits der Frage nach den Quellen des Antisemitismus - Eckpunkte am Judentum, an denen das Christentum positiv anecken kann?
Heil: "Also zunächst einmal muss man das sogenannte Alte Testament, die biblische Botschaft im Ersten Testament wahrnehmen und auch kennen. Die Prophetie, die Weisheit, die Tora. Da sind unendlich viele Anregungen enthalten für christliche Theologie. Da wäre auch der christliche Glaube von dort her immer wieder neu zu formulieren. Das ist, glaube ich, die Aufgabe für die Theologie insgesamt, aus dieser antijüdischen Darstellung des christlichen Glaubens herauszukommen in eine positive, das Judentum stärker in Kontinuität aufnehmende Beschreibung des christlichen Glaubens. Und was ich noch zu den inneren christlichen Debatten sagen wollte: Es wäre auch wichtig, daran eine biblische Interpretationskunst zu lernen, die auch an der Bibel Kritik übt. Man kann ihr auf der einen Seite viel Positives entnehmen, auf der anderen Seite muss man aber auch die Bibel in ihre geschichtlichen Kontexte setzen und verstehen und muss manches manchmal sagen: Da sind geschichtliche Aussagen dabei, die wir heute nicht mehr wiederholen können. Das ist die berühmte Sachkritik in der Bibelwissenschaft. Man muss nicht alles eins zu eins wiederholen. Das hat Papst Franziskus vor kurzem leider auch gezeigt, indem er einfach in einer Predigt oder einer Meditation Galater 3 wiederholt hat. Da sagt Paulus sehr polemisch, dass die Tora kein Leben bringt. Paulus will damit sagen: Nur durch Christus kommt man zum Leben. Aber das ist eine nicht zu rechtfertigende Herabsetzung der Tora des Judentums. Und das hat Papst Franziskus einfach eins zu eins wiederholt. Etwas naiv, muss man leider sagen. Und da kam natürlich sofort die harte Kritik. Das zeigt, dass Theologie und Kirche auch in der Bibelhermeneutik lernen müssen. Wir müssen Dinge historisieren, in ihre geschichtlichen Kontexte einbauen und nicht einfach diese zwei, dreitausend Jahre überbrücken und es einfach wiederholen."
Wir haben die Runde begonnen mit dem Thema Gedenken. Frau Professor Polak, Sie haben zu Beginn schon von der Weiterentwicklung der Gedenkkultur gesprochen in Ihrem ersten Statement. Um jetzt den Brückenschlag zu versuchen: Was wären denn Ratschläge an die eigene Zunft oder an die Kirchen, wie eine theologisch versierte Gedenkkultur weiterentwickelt werden müsste?
Polak: "Also das, was für mich zunehmend zentraler wird, ist die Partizipation junger Menschen, etwa junger Christinnen und Christen und junger Jüdinnen und Juden mit ihren ganz spezifischen Erfahrungen, Herausforderungen, Geschichten. Das betrifft nicht nur die Kirchen, das betrifft auch die Gesellschaft. Überhaupt halte ich pastoraltheologisch die Frage nach der Auseinandersetzung mit der theologischen Relevanz des zeitgenössischen Judentums - oder eigentlich müsste man sagen der zeitgenössischen Judentümer - für höchst anstehend. Weil ich schon immer wieder die Erfahrung mache auch bei engagierten Studierenden, dass Bilder von einem Judentum, das durchaus wertgeschätzt wird, existieren, das so aber historisch nie existiert hat und manchmal auch hochgradig idealisiert wird. Während das Wissen um die unterschiedlichen Strömungen, die es im Judentum gibt, das jüdische Leben heute, unterschiedliche Auslegungen der jüdischen Tradition - all das hat ja für uns als Theologen und Theologinnen auch eine Relevanz. Und da würde ich mir wünschen, dass das auch auch in den Dialog hineingenommen wird. Und zwar nicht nur als praktische Anwendung, sondern in seiner theologischen Dignität. Das wären eigentlich für mich die zwei wichtigsten Sachen. Und ansonsten glaube ich, bräuchten wir viel mehr über die Fächer hinweg greifende Zusammenarbeit, weil ich einfach merke: ich kann das alles gar nicht rezipieren, was die Systematiker und Bibliker da alles mittlerweile schon erforscht haben. Ich bin aber dafür verantwortlich, dass das ankommt. Also da stärker zu kooperieren zwischen den Fächern, in den Dialog zu treten um dieses Transmissionsriemens willen, halte ich auch für eine ganz zentrale Herausforderung."
Heil: "Ja, ich kann nur wiederholen, was schon gesagt wurde: die persönliche Begegnung mit jüdischen Menschen halte ich für ganz, ganz wesentlich. Neben der theoretischen und historischen Beschäftigung mit Quellen und Texten ist es einfach ganz wichtig, dass man ein lebendiges Bild hat vom heutigen Judentum, dass man Synagogen-Feiern besucht, Gespräche führt, auch Dinge mal lernt, die einem nicht gefallen oder wo man vielleicht Schwierigkeiten hat, wo man merkt, es ist doch nicht so großes Verständnis oder Harmonie da, sondern es gibt Dinge, bei denen man ganz unterschiedlicher Meinung ist. Diese Erfahrung muss gerade gestärkt werden, wenn jetzt Corona mal hoffentlich wieder die Zeit dafür lässt: Synagogen besuchen, Jüdinnen, Juden einladen. Diese persönliche Begegnung halte ich für ganz, ganz wichtig."
Hoff: "Und da liegt eine performative Dynamik drin. Dialogprozesse lösen als solche etwas aus, weil sich dort nicht nur Positionen herausfordern und verändern, sondern weil solche Dialog Prozesse eben auch durchaus so etwas wie die Kraft eines habituellen Eingriffs haben können. Also da verändern sich möglicherweise einfach auch Haltungen. Das heißt also überall genau das zu stärken, dass das Regina Pollack sagt. Das ist also eine der ganz wesentlichen Herausforderungen, einfach auch zu schauen, wie wir das die nächste Generation erst einmal auch hineinbringen. Also jetzt nicht einfach pro domo, aber es gibt einen jetzt aktiven, einfach da auch Nachwuchs Netzwerke aufzubauen. Es gibt da einfach auch eine Art von wirklich von struktureller Überalterung, teilweise eben auch in diesen, in diesen Dialog Communities. Und das ist wirklich ein ganz wichtiger Punkt, da anzusetzen und tatsächlich eben auch sich wirklich manchmal Positionen auszusetzen, die man vielleicht nicht so ganz auf dem Schirm hatte. Also diese performative Dynamik von Dialogprozess, die kann man aus meiner Sicht nicht hoch genug einschätzen. Und die müssen wir forcieren, wo es nur gerade geht."
Das sagt der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff.
Wir haben einen weiten Bogen geschlagen, ausgehend von der Gedenkkultur und dem Phänomen grassierenden Antisemitismus. Ein Phänomen, das wir im Übrigen fahrlässig genug, nicht wirklich definiert oder weiter ausdifferenziert haben. Dann haben wir über die notwendige christliche Kritik und auch die theologischen Korrekturen gesprochen, bis hin zum praktischen Dialog und zur physischen Begegnung mit Jüdinnen und Juden heute.
Vielen Dank, dass Sie uns auf dieser Reise gefolgt sind sagt Henning Kling. Bleiben Sie uns gewogen und bis zum nächsten Mal.