Epistemische Gewalt: Wie Macht und Philosophie zusammenhängen
Fotos: privat / Universität Wien
Podcast vom 21. Februar 2024 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Diese Podcastfolge wurde in der Hauptuniversität Wien aufgenommen. Anlass war das Wiener Forum interkulturellen Philosophierens von 16. bis 17. Februar zum Thema epistemische Gewalt. An diesen zwei Tagen drehte sich alles rund um eine interkulturelle, interreligiöse Sicht auf eurozentristisches Denken und Philosophieren. Es war auch gleichzeitig die Jubiläumsfeier für 25 Jahre "polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren". Mit mir gesprochen haben, Hans Schelkshorn, Vorstand des Instituts für Interkulturelle Religionsphilosophie der Universität Wien, und Nausikaa Schirilla, emeritierte Professorin für Migration und Soziale Arbeit an der Theologischen Hochschule Freiburg. Heute geht es also um das Thema Philosophie und Gewalt und was beides miteinander zu tun hat. Philosophie wirkt frei von jeglichem Rassismus. Also auf einer Metaebene ohne Vorurteile. Ist das denn so? Oder was hat Philosophie mit Gewalt zu tun?
Nausikaa Schirilla: Der Grundgedanke ist der, dass mit dem Kolonialismus nicht nur Gebiete erobert oder Rohstoffe extrahiert wurden, sondern auch das Denken erobert worden ist; dass sich mit dem Kolonialismus ein Denken entwickelt hat, was eine ganz spezifische westliche Denkweise – Vernunft im Sinne der Aufklärung, die Autonomie des Individuums, die Trennung von Mensch und Natur, die Herrschaft über die Natur als überlegen, als einzig möglich - gesetzt und alle anderen Denkformen abgewertet oder noch weiter alle anderen Denkformen zum Schweigen gebracht hat, zerstört hat. Und daraus ist ein Ansatz entstanden: Wer spricht? Wer wird gehört? Wer kann gar nicht sprechen, weil diese Person gar nicht gehört wird, weil niemand auf die Idee käme, diese Person zu hören? Und zwar deswegen, weil unsere Begrifflichkeiten so normiert sind, dass wir im Grunde Denkverbote haben. Denkverbote, dass beispielsweise ein Individuum was gedacht wird, in Relationalität, also in Verbindung zur Gesellschaft, zur Gemeinschaft, nicht autonom sein kann; Denkverbote, dass nur denkbar ist, dass der Mensch die Natur beherrscht, dass die Natur ein lebloses Objekt ist und eben nicht auch eine Eigendynamik hat. Und Sie sehen, das sind Themen, die heute sehr aktuell sind. Und der Gedanke ist auch der, dass im Grunde mit dem Denken und auch mit den Philosophien, die im Kolonialismus zerstört worden sind, auch viele Ansätze und Möglichkeiten verloren gegangen sind, heutige Probleme zu meistern, und zwar auf einer globalen Ebene. Und der Grundgedanke ist der, Philosophie ist daran nicht unbeteiligt, ganz im Gegenteil. Philosophie hat Konzepte, die natürlich auch ihre befreiende Seite haben, entwickelt und war beteiligt am Kolonialismus, hat Rassismen entwickelt und hatte eben rassistische Elemente. Und deswegen ist es für uns so wichtig, sich auch in der Philosophie mit epistemischer Gewalt zu beschäftigen.
Wer spricht? Wer wird gehört? Wer kann gar nicht sprechen, weil diese Person gar nicht gehört wird, weil niemand auf die Idee käme, diese Person zu hören? (Nausikaa Schirilla)
Das Thema epistemische Gewalt oder auch die Beschäftigung mit den kolonialen Strukturen kann für das Jahr 2024 für heute etwas thematisieren oder etwas aufs Tableau bringen. Was denn genau? Was meinen Sie damit?
Nausikaa Schirilla: Also der erste Schritt ist, unser Denken zu hinterfragen: Welche Denkverbote haben jetzt wir im Westen? Woran sind wir gebunden? Welche Einschränkung im Vernunftbegriff, im Verständnis von Gesellschaft, von Kosmos, von Natur haben wir? Und dann zu schauen, was gibt es an anderen Konzepten, die beispielsweise den Mensch, die Natur als eigenständiges Subjekt/Objekt denken, die den Mensch in im Zusammenhang mit der Natur denken und eben nicht nur als Beherrscher der Natur. Und das ist natürlich angesichts der Klimakatastrophe und der ökologischen Herausforderung ein ganz wichtiger Ansatz. Auch die Frage danach, ob das Individuum oder Subjekt als autonomes Einzelwesen gedacht oder nicht stärker in Zusammenhang mit der Gesellschaft, dass sich eben Personalität in Beziehungen herausbildet? Und das ist natürlich sehr wichtig angesichts von sozialer Kohäsion und von den Problemen, also viel Aggressivität in der Gesellschaft usw. Aber der erste Schritt ist, nicht einfach mal zu gucken nach anderen, sondern erst mal zu gucken bei uns: Welche, welche Abwertung, welche Ausgrenzung, welche Marginalisierung ist im westlichen Denken entstanden? Welche Folgen hat das für die anderen? Und wie können wir gemeinsam das überwinden?
Ja, nun kann man sich fragen, was ist daran so besonders oder schlimm? Es muss nicht in jeder Kultur alles geben.(Hans Schelkshorn)
Hans Schelkshorn: Es gibt in der europäischen Philosophiegeschichte einen sehr starken Strang, dass Philosophie ein Monopol Europas ist. Das heißt, Philosophie beginnt in Griechenland, ist dann nach Rom gewandert, in das christliche Mittelalter und dann in die europäische Neuzeit. Allen anderen Kulturen wird Philosophie abgesprochen. Ja, nun kann man sich fragen, was ist daran so besonders oder schlimm? Es muss nicht in jeder Kultur alles geben. Aber vor allem bei Hegel, einem der großen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts, sieht man, dass die These, dass Philosophie exklusiv nur in Europa entstanden ist, mit weitreichenden kulturphilosophischen geopolitischen Vorstellungen verbunden ist. Denn für Hegel ist eine Kultur nur dann zivilisiert, wenn sie auch Philosophie hat.
Da muss ich jetzt gleich nachfragen: Was bedeutet es denn eine Philosophie haben? Ab wann hat denn ein Volk eine Kultur, einen Kontinent, eine spezifische Philosophie?
Hans Schelkshorn: Hegel konstruiert eine Entwicklung vom Orient zum Okzident, von Osten nach Westen. Er setzt an mit den sakralen Monarchien der archaischen Zeit, also zum Beispiel das Pharaonentum. Und Hegel meint, dass hier noch nicht einmal das Bewusstsein für allgemeine Gültigkeit, also was in einem staatlichen Gesetz vorausgesetzt ist, vorhanden sei und daher das Pharaonentum um nur durch die Willkürherrschaft des sakralen Herrschers bestimmt wird. Das ist so gleichsam der Nullpunkt von Philosophie. Erst in Griechenland, nach Hegel, entsteht das Bewusstsein für Gesetzlichkeit, ein Recht und auch eine erste Konzeption von Demokratie. Und für Hegel bringt die Philosophie diese gesellschaftliche, kulturelle Entwicklung auf den Begriff. Allerdings, die Freiheit in Griechenland war auf einige beschränkt; es gab die Sklaven, Wirtschaft usw. Und nach Hegel ist das Christentum die Religion gewesen, die einen ethischen Universalismus entwickelt hat, der nach Hegel erst Jahrtausende später in der Französischen Revolution politisch in der Idee der Menschenrechte verwirklicht worden ist. Für Hegel ist dies die maßgebliche Linie der Weltgeschichte, wo Europa die Spitze der Zivilisation ist, die asiatischen Kulturen gleichsam en bloc radikal abgewertet werden. Und für Hegel ergibt sich für die Zukunft die Perspektive, dass alle Völker dieses europäische Zivilisationsmodell nachvollziehen müssen. Damit beschäftigt er sich gar nicht mehr. Das ist nicht mehr Thema der Philosophie. Es gibt daher zum Beispiel völlig weiße Flecken der Philosophie, nämlich Afrika und Amerika. Hier bringt Hegel extrem rassistische Vorstellungen ein, die Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt worden sind, zunächst in der französischen Naturphilosophie. Das heißt, der Begriff der Rasse ist ganz maßgeblich eine These der modernen Wissenschaft. Und dieser Rassenbegriff fließt auch bekanntlich bei Hegel und in die europäische Philosophie ein, und zwar in prominentesten Gestalten der Philosophie. Und diese Konstruktion Europa als Spitze einer weltgeschichtlichen Fortschrittsbewegung, der alle anderen Völker bloß folgen müssen, wird eben von der interkulturellen Philosophie massiv infrage gestellt. Das beginnt jetzt schon am Beginn, also im sogenannten Orient. Hier zeigt sich, dass Hegel zum Teil völlig verfehlte Diagnosen über die kulturelle Entwicklung dieser Kulturen voraussetzt. Zum Beispiel im alten Ägypten ist der Begriff des Gesetzes extrem ausgeprägt. Der Begriff im alten Ägypten ist Maat (dt.Gerechtigkeit, Weltordnung) und hier bedeutet Maat der Schutz der Schwachen. Es gibt hier bereits die Formulierung, die auch in der Bibel wiederkehrt: Der Schutz der Armen, Witwen und Waisen ist aller Gruppen, die gefährdet sind in einer Gesellschaft, und das ist Aufgabe des Pharaos.
Also kurz zusammengefasst Hegel hatte nicht recht: Es gibt auch Philosophie außerhalb Europas. Jetzt ist meine Frage: Ab wann ist denn Philosophie? Ab wann kann man jetzt sagen mit mir sind 2024? Es hat in Asien, in Südamerika, Afrika, Australien, wo auch immer eine Philosophie gegeben, parallel zur europäischen Philosophieentwicklung. Also wie kann man das jetzt auch für unsere Hörerinnen und Hörer ein bisschen so einordnen?
Hans Schelkshorn: Philosophie ist ein Versuch, das Ganze der Wirklichkeit zu deuten und darin auch die wesentlichen Dimensionen des Menschseins, also die Ordnung der Gesellschaft, moralische Fragen, Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Ordnung des Kosmos. All diese Fragen werden, und das ist ein Spezifikum der Philosophie, ausschließlich mit den Mitteln menschlicher Vernunft bearbeitet. Das heißt, Philosophie entsteht in der Antike aus einer kritischen Bewegung gegenüber mythologischen Bewegungen oder Traditionen, aber auch religiösen Traditionen, die sich auf einen starken, autoritativen Offenbarungsbegriff stützen. Und diese Entwicklung gibt es eben nicht nur in Griechenland, sondern dies hat Karl Jaspers in seiner Geschichtsphilosophie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt, zumindest auch in Indien und in China. Und er nimmt, bei dem, was er das Abendland nennt, den Iran und die Bibel, also die alttestamentlichen Propheten dazu. Denn auch die alttestamentlichen Propheten haben das Gott-Königtum kritisiert, und insofern war das eine kritische Bewegung, eine reflexive Bewegung. Die man im weiteren Sinne nach Jaspers auch Philosophie nennen kann. Wichtig ist, mit der Philosophie entstehen von vornherein verschiedene Schulen. Also wo eine kritische Reflexion aufbricht, entsteht nicht ein Denksystem, sondern immer eine Pluralität von Denkformen. Also sowohl in Indien, China als auch in Griechenland finden wir bereits in der Antike metaphysische, religionsphilosophische Ansätze, aber auch radikal skeptische Ansätze, auch materialistische Philosophien, das heißt das ganze Spektrum an Denkformen, in denen wir uns auch heute, wenn auch mit Transformationen bewegen, ist in dieser Zeit entstanden. Jaspers nennt dies die Achsenzeit. Das heißt, hier ist eine weltgeschichtliche Achse an kritischer Reflexion in Gang gekommen, und zwar nicht nur in Europa, sondern in vielen Kulturen. Und dies ist für Jaspers enorm wichtig, um auch die gegenwärtigen politischen Prozesse zu verstehen.
Was hat denn interkulturelle Philosophie mit Theologie zu tun? Sie haben einen Lehrstuhl an der katholisch theologischen Fakultät der Uni Wien. Der Lehrstuhl hat früher Christliche Philosophie geheißen, jetzt heißt er Interkulturelle Religionsphilosophie. Woher kommt dieser Turnaround? Warum ist die Namensumgebung wichtig gewesen?
Das Christentum war mitbeteiligt am Expansionsprozess Europas in der Neuzeit und damit an der kolonialistischen Expansion und ist damit auch in diese Gewaltgeschichte verstrickt, die zahlreiche Völker traumatische Erfahrungen mit sich gebracht hat. (Hans Schelkshorn)
Hans Schelkshorn: Wir haben vorher davon gesprochen, dass in der Achsenzeit eine Pluralität von Philosophien entsteht, reflexive Prozesse, und dies ist, wie auch Habermas anerkannt, der Geburtsort nicht nur der Philosophie, sondern auch der religiösen Tradition, die wir heute Weltreligionen nennen. Es gibt also einen gemeinsamen Ursprung von Philosophie und Religion. Das Zweite ist, der Begriff Religion ist ein neuzeitlicher Begriff, das heißt, wir projizieren hier einen Begriff zurück in der Antike. In der Antike kann man diese philosophisch religiösen Bewegungen nicht trennscharf unterscheiden. Und vor allem die sogenannten religiösen Traditionen haben sich – das gilt gerade auch für die abrahamitischen Religionen – auf Philosophie, konkret die griechische Philosophie eingelassen und sich im Medium der Philosophie jahrtausendelang immer wieder neu interpretiert. Noch dazu, auch das ist ein Spezifikum achsenzeitlicher Bewegungen, dass sie nicht auf einen Nenner für eine bestimmte Ethnie beschränkt sind, wie manche Mythologien, sondern von vornherein eine universelle Dimension haben. Daher hat sich auch der Buddhismus nach China, Japan usw. hat sich ausgebreitet und dies bedeutet, dass diese religiösen Traditionen sich in verschiedene Kulturen hinein bewegen können. Und damit entsteht eine enorme interkulturelle Dynamik in den religiösen Traditionen, das gilt natürlich auch für das Christentum. Und daher kann das Christentum aus meiner Sicht gar nicht ohne interkulturelle Reflexion oder ohne interkulturellen Horizont überhaupt interpretiert werden. Dazu kommen zahlreiche, sehr ernste Probleme. Das Christentum war mitbeteiligt am Expansionsprozess Europas in der Neuzeit und damit an der kolonialistischen Expansion und ist damit auch in diese Gewaltgeschichte verstrickt, die zahlreiche Völker traumatische Erfahrungen mit sich gebracht hat. Das heißt, um eine selbstkritische Deutung des Christentums für heute entwickeln zu können, müssen wir die Geschichten, auch die Gewaltgeschichten des Christentums im globalen Kontext reflektieren. Wir können dieser kritischen Reflexion allerdings auch an starke Traditionen der Kritik anknüpfen. Also im 16. Jahrhundert gab es nicht nur Rechtfertigungen der kolonialen Expansion, sondern erstaunlicherweise auch schon radikale Kritik, insbesondere in der Schule von Salamanca, wo einzelne Stimmen die Expansion als solche moralisch disqualifiziert haben. Und aus diesen Prozessen ist im 20. Jahrhundert nicht zuletzt die Befreiungstheologie entstanden, nicht zufällig in Lateinamerika. Und auch hier gibt es eine unglaubliche Intensität an interkultureller Reflexion, einerseits der Gewaltgeschichte. Allerdings hat sich die Befreiungstheologie dann auch schrittweise geöffnet, zum Beispiel auf indigene Bewegungen und Völker in Lateinamerika, in der Theologia India und auch hier begonnen eben Eurozentrismen, autoritäre Machtansprüche usw. in der eigenen Tradition schrittweise abzubauen. Und das geht nur in einem direkten offenen Dialog. Und in dieser Perspektive versuche ich mein Institut neu zu orientieren.
Wie wird dieser Ansatz der epistemischen Gewalt in der Philosophie in Europa angenommen? Haben Sie das Gefühl, die Reflexion der eigenen Auswirkungen wird angenommen? Also dass sich hier auch Professorinnen, Professoren, Studierende, Lehrenden an den Schulen damit auseinandersetzen wollen und können? Oder ist da noch eine Abwehrhaltung? Ich könnte mir vorstellen, dass es da fast zu einer Art Verteidigungshaltung kommen könnte.
Nausikaa Schirilla: Die gibt es ganz ohne Zweifel. Also ich bin auch in der Redaktion der Zeitschrift "Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren"; wir bestehen seit 25 Jahren und versuchen, andere Stimmen lesbar und hörbar zu machen, Raum zu geben für nicht europäische Philosophien, für Denken, Philosophie im Tanz, andere Konzepte zum Tier und zur Natur usw., die eben bislang nicht als Philosophie galten. Und wir machen das seit 25 Jahren. Aber in den vergangenen Jahren ist eigentlich dieses ganze postkoloniale und koloniale Denken auch in Deutschland, in allen Wissenschaften, auch in der Philosophie angekommen. Und es gibt auch mittlerweile Lehrstühle, also Professoren und Professorinnen, die sich damit beschäftigen. Natürlich gibt es diesen Widerstand. Es gibt ein Beharren auf dem Kanon, aber es gibt auch Personen, die sich öffnen, die große Forschungsprojekte zu dem Thema beantragen und die diese Frage des Kolonialismus und epistemischen Gewalt aufarbeiten möchten. Es ist ein Prozess, der begonnen hat, der sicherlich nicht einfach wird, aber der hat ganz klar begonnen. Also ich bin jetzt aus Deutschland, ich spreche aus der deutschen Perspektive, aber in Wien ist dieses Thema schon länger ein Thema.
Sie haben gerade die Zeitschrift „Polylog für interkulturelles Philosophieren“ angesprochen, die heuer Ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. Es gibt eine Ausgabe zum Thema epistemische Gewalt, bei der sie Mitherausgeber sind. Wenn man sich jetzt dann näher darin vertiefen möchte, was findet man jetzt in dieser Ausgabe?
Nausikaa Schirilla: In der Ausgabe finden wir einen wissenschaftlichen, aber sehr ausführlichen und sehr gut gemachten Beitrag zur Einführung in epistemische Gewalt. Ein Beitrag, der sich bezieht auf epistemische Gewalt im Kanon der Philosophie, der besteht in der Ausgrenzung von Menschen aus den Kolonialländern, aber auch Ausgrenzung von Frauen, von Queer, der sehr stark für das Konzept der Intersektionalität, also der unterschiedlichen Unterschiede für die Philosophie plädiert. Wir finden einen Beitrag zu Rassismus im Denken von Kant. Wir finden auch einen Beitrag, der sich sehr kritisch mit einer Südperspektive auseinandersetzt, und zwar einen Beitrag aus Indien, der sich auch mit dem Kastenwesen kritisch auseinandersetzt. Also ja, es sind verschiedene Zugänge, sowohl aus der etablierten Philosophie als auch aus anderen Wissenschaften, die eben versuchen, dieses Thema der epistemischen Gewalt von verschiedenen Seiten zu nähern.
Also ganz wichtig ist ein Beitrag der Selbstreflexion und der Selbstkritik, der eben versucht aufzuarbeiten, mit welchen ausgrenzenden Begrifflichkeiten, Vorstellungen, Überlegenheitsvorstellungen gearbeitet wird in allen Bereichen des Denkens und eben auch in der Philosophie.
Das ist jetzt eigentlich ein Blumenstrauß an Themen, der unter diesem Titel epistemische Gewalt versammelt ist. Ich habe gehört, es gibt sehr globale Themen, es geht um Intersektionalität, es geht um Kritik an Kolonialismus usw. Das ist ein sehr brennendes Thema, auch 2023/2024, in der es ja sehr viel darum geht, sich nicht zu engen, sondern zu weiten in der Gesellschaft. Wir haben jetzt in den letzten Wochen sehr viele Demonstrationen gegen Rechts gehabt, für eine Öffnung für Demokratie. Was könnte hier denn der Beitrag sein, der einer interkulturellen Philosophie zum Thema epistemische Gewalt jetzt, in diesen Zeiten, in diesen gesellschaftlichen Auf und Umbrüchen?
Nausikaa Schirilla: Also ganz wichtig ist ein Beitrag der Selbstreflexion und der Selbstkritik, der eben versucht aufzuarbeiten, mit welchen ausgrenzenden Begrifflichkeiten, Vorstellungen, Überlegenheitsvorstellungen gearbeitet wird in allen Bereichen des Denkens und eben auch in der Philosophie. Zugleich ist es eine Antwort auf ganz starke Dekolonisierungsforderungen aus Ländern des Globalen Südens. Also Südafrika hat eine ganz starke Bewegung auch entwickelt, auch an den Universitäten, die das Curriculum usw. infrage stellen. Und das ist eben zugleich auch ein Beitrag zum Weltfrieden in dem Sinne, dass Forderungen aus Ländern das stimmen, die sagen, wir werden nicht genügend gehört, dass Personen, die sich bisher als ausgegrenzt erfahren haben, dass sie eben anerkannt und einmal Räume geöffnet werden, neu und anders zu sprechen, aber auch, dass immer wieder das eigene Denken hinterfragt wird, auf dessen ausschließende Begrifflichkeiten, Methoden und andere Zugänge.
Es gibt den Vorwurf, wenn man sich mit kolonialen Strukturen, Rassismus, Sexismus beschäftigt, dass man eigentlich selbst Gewalt anwendet, dass man "woke" ist, den anderen den Mund verbietet. Wie würden Sie jetzt auf so eine Form der Kritik antworten?
Epistemische Gewalt oder interkulturelle Philosophie kann ein Beitrag sein, um eine Diskussionskultur aufzubrechen. (Nausikaa Schirilla)
Nausikaa Schirilla: Ich finde, das muss überhaupt nicht sein. Man kann Kritik üben. Es gibt Paul Watzlawick, der Kommunikationstheoretiker, der spricht von einer verschärfenden und einer ablehnenden Kritik. Ich kann eine Position ablehnen, ohne die Person, die dahintersteht, völlig zu verwerfen. Und ich denke, das ist eine Diskussionskultur, die wir fördern müssen. Und so ist das. Diese übertriebenen Ausgrenzungen sind meiner Meinung nach eine Begleiterscheinung von Ausgrenzungserfahrungen, die sich aber dann ändern können, wenn Menschen das Gefühl haben, sie werden gehört, sie können einen Beitrag leisten und dann können Und wenn eben die Diskussionskultur anerkennend geführt wird und eben nicht ablehnend und vernichtend. Das heißt epistemische Gewalt oder interkulturelle Philosophie kann ein Beitrag sein, um eine Diskussionskultur aufzubrechen. Ja, genauso bei uns. Unser Ziel ist auch immer, wir sagen ja nicht die anderen sind besser, sondern es geht einfach darum, Räume zu eröffnen, wo viele Stimmen miteinander ins Gespräch kommen. Hans Martin Wimmer, Ja, emeritierter Professor der Universität Wien, hat ja das Konzept des Polylogs, eines Dialogs auf ganz verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Partnern entwickelt. Und das ist eben ein Modell, auch zu zeigen, dass eben solche Debatten möglich sind und auch auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen werden können.
Danke, Nausikaa Schirilla, emeritierte Professorin für Migration und Soziale Arbeit an der Hochschule Freiburg, dass Sie sich Zeit genommen haben.