600 Jahre Wiener Gesera: Wie viel Schuld trägt die Wiener Theologische Fakultät?
Foto: Universität Wien / Helmut Wimmer
Podcast vom 10. März 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Wenn in diesen Tagen des 600. Jahrestages der Vernichtung der jüdischen Gemeinden im damaligen Herzogtum Österreich bei der "Wiener Gesera" 1421 gedacht wird, steht damit zugleich auch die Frage im Raum, welche Rolle die katholische Theologie und speziell die Wiener Katholisch-Theologische Fakultät damals gespielt hat. Wieso hat sie, haben ihre Professoren weggesehen bzw. geschwiegen angesichts der Verbrennung von über 200 Juden am 12. März 1421 vor den Toren der Stadt? Oder kann man ihnen gar eine Art geistige Mittäterschaft anhaften, insofern sie - wie es Protokolle von Fakultätssitzungen nahe legen - abfällig über die Juden gesprochen und sie diffamiert haben? Über diese Fragen habe ich mit dem Wiener Kirchenhistoriker Prof. Thomas Prügl gesprochen:
Herr Professor Prügel, Sie haben sich ja aus Anlass des heurigen Gedenkjahres "600 Jahre Wiener Gesera" mit dem Thema als Historiker befasst. Wie müssen wir uns denn die ethnisch-religiöse Situation im 15. Jahrhundert in Wien eigentlich vorstellen?
Wien war eine Großstadt im 15. Jahrhundert, ein Handelsmittelpunkt mit vielen internationalen Händlern. Die Donau war der große Handelsweg nach Osten und nach Westen - und die Juden waren seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil. Es gab die 'Judenstadt', die knapp 100 Häuser hatte, und eine jüdische Community, die etwa 500 Menschen zählte und ins bürgerliche und wirtschaftliche Leben integriert war. Was wir nicht wissen und wo ich zurückhaltend bin, ist die Frage, ob die religiösen Autoritäten viel Kontakt miteinander bzw. zu anderen Glaubensgemeinschaften hatten. Was wir sagen können, ist, dass seitens der Theologen mehr und mehr eingesehen worden ist, dass man Bibel nicht ohne Hebräisch-Kenntnisse auslegen kann und dass es eigentlich ein Muss ist, bei der Schriftauslegung den hebräischen Urtext lesen zu können. Fakt ist aber, dass es keiner beherrscht hat. Heinrich von Langenstein, der Gründungsrektor der Universität Wien, hat eine hebräische Grammatik geschrieben. Das ist ein erster Versuch gewesen, sich hebräischer Sprache, vor allem der einfach der Begriffe zu bemächtigen, aber das ist die einzige Bemühung geblieben im Spätmittelalter an der Wiener Theologischen Fakultät.
Nun sind theologisch unterfütterte oder befeuerte antijudaistische und antisemitische Stereotype ja das eine, eine dekretierte Judenvernichtung aber, wie sie am 12. März 1421 ihren Höhepunkt fand, ist ja doch was anderes, hat eine andere Qualität. Was waren denn die Gründe, die dafür herhalten mussten?
Die Wiener Gesera wird in den Quellen mit unterschiedlichen Motiven begründet. Die jüdische Quelle selbst, die den Namen Wiener Genera trägt, erwähnt, dass Herzog Albrecht V. von Österreich die Juden beschuldigte, den Hussiten Waffen geliefert zu haben und damit machten sie sich zu Staatsfeinden. Also die Juden selbst wurde vorgehalten: Ihr konspiriert mit den Landesfeinden, mit den Hussiten. Und dieses Gerücht begegnet uns in der Tat bereits ein Jahr früher in einer Sitzung der theologischen Fakultät, dort wird das eingebracht, dass es diese Konspiration gäbe, und im gleichen Atemzug lässt man sich wieder sehr übel über den Lebenswandel der Juden aus. Es heißt aber in diesem Protokoll dezidiert, dass die Fakultät diesen Gegenstand nicht weiter verfolgte, weil eine Anzahl von Theologen und Professoren nicht da war. Und im weiteren Verlauf der Protokolle und der Akten der Fakultät findet sich nichts mehr über diesen Vorwurf. Gleichwohl ist es sehr interessant, wenn ein Jahr später in der Wiener Gesera genau diese Verschwörung wieder aufgegriffen wird und man sagt, der Herzog sei erbost gewesen über die Juden, die sich mit den Feinden zusammengetan haben und jetzt Waffen geliefert hätten. Dass das aber nicht so überzeugend war, zeigt die Tatsache, dass das Todesurteil, das der Herzog dann ein Jahr später für diese verbleibenden 212 Juden erlassen hat, die dann am 12. März 1421 in Erdberg hingerichtet worden sind, als Grund eine Hostienschändung nennt. Das ursprüngliche Gerücht mit der Waffenlieferung schien also nicht substanziell zu sein. Wir haben also mehrdimensionale Gründe für diese Verfolgung, die in ihrer wirklichen Absicht eigentlich ein Justiz-Mord war. Es ist ziemlich klar, dass Herzog Albrecht V. eine Menge Geld benötigte, einmal um seine sehr teuren Feldzüge zu organisieren und um zugleich um die Hand der Tochter des deutschen Königs Sigismund anzuhalten. Der weiß um den Preis seiner Tochter und treibt ihn ziemlich hoch. Albert geht trotzdem darauf ein, weil er sich mittelfristig enorme Vorteile davon verspricht: Landgewinn, Bedeutungsgewinnen bis hin zur deutschen Königskrone. Und so muss er zusehen, wie er an das Geld kommt. Da boten die Juden mit ihrem Vermögen eine willkommene Zuflucht.
Sie schreiben in einem aktuellen Aufsatz zu dem Thema, die Kirche müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, Komplizin gewesen zu sein. Was meinen Sie damit genau?
Wenn man im Mittelalter von "der Kirche" spricht, muss man vorsichtig sein, denn im Mittelalter galt irgendwie alles als Kirche und Christentum: Da gibt's einmal das Papsttum, dann gibt's den Bischof, dann gibt's die Orden. Auch die Universität als Ganzes ist als eine kirchliche Institution angesehen worden. Die Professoren dort und die Studenten waren Geistliche, Kleriker, die zölibatär lebten; und dadurch kamen sie in den Rang, dass sie kirchliche Pfründe, also kirchliches Einkommen erhalten konnten. Und alle diese Institutionen ziehen nicht immer am selben Strang; sie spielen auch gegeneinander. Jeder versucht, sich möglichst viel vom Kuchen zu nehmen. Traditionell ist der Papst und der Bischof Schutzherr der Juden. In den Pogromen des 12. Jahrhunderts sehen wir das etwa, dass sich die Juden, wenn es zum Pogrom in einer Stadt kam, in die Burg des Bischofs flüchten. Der Bischof versucht auch die Juden, so weit wie möglich, vor dem Mob zu beschützen. Auch die Wiener Gesera schreibt, dass in den Zeiten der größten Not andere Juden an den Papst geschrieben haben und ihn gebeten haben, er möge den Zwangstaufen Einhalt gebieten. Und es wurde auch an einen hohen, nicht namentlich erwähnten Prälat geschrieben - wahrscheinlich ein Bischof entweder in Österreich oder in einem umliegenden Land. Wer überhaupt nicht vorkommt in der Wiener Gesera - weder in den Texten noch in den zeitgenössischen Chroniken - ist die Wiener Universität als Universität. Von daher muss man sich fragen: spielte die Universität qua Universität eine Rolle oder spielte die theologische Fakultät qua Fakultät eine Rolle? Und das können wir von den Quellen her so einfach nicht belegen.
Das heißt, die Verantwortung der Wiener Fakultät und der Professorenschaft ist nicht eindeutig zu bestimmen?
Ja, das ist meine These. Dass Herzog Albrecht V. natürlich religiöse Gründe gehabt hat, das Todesurteil auszusprechen, und dass er wusste, dass diese religiöse Begründung auch vom Volk geteilt wird, das steht außer Zweifel. Man wirft den Juden vor, sie haben ein Sakrileg begangen, sie haben sich an der Eucharistie vergangen. Dieses Motiv führt er mit Absicht ein, weil es schlicht todeswürdig ist, ein Sakrileg. Nur, wer hat ihm das nahegelegt? Wer war der Ratgeber des Königs? Das wissen wir nicht. Hier liest man oft, dass die theologische Fakultät Ratgeberin gewesen sei. Wir haben aber viele, viele andere Momente, in denen die theologische Fakultät sich nicht durchsetzen konnte, wenn sie vom Fürsten etwas wollte. Auf wen sich der Fürst verlassen hat, das waren vor allem individuelle Ratgeber, von denen viele aus dem Klerus kamen. Ich denke daher, dass diese individuellen Ratgeber sehr viel entscheidender waren für politische Entscheidungen und auch für strategische Überlegungen des Herzogs als eine Universität.
Damit wollen Sie aber nicht das heutige Gedenken und die Verantwortung der Fakultät der Universität infrage stellen, nehme ich an ...
In jedem Fall ist es richtig und gerechtfertigt, dass die Universität Wien und vor allem auch die theologische Fakultät dieses Ereignisses gedenkt, weil sie sich die Frage stellen muss: Wie weit haben Theologen, haben Prediger, die an der Fakultät ausgebildet wurden, dazu beigetragen, dass ein Feindbild den Juden gegenüber entstanden und verhärtet worden ist und dass die Juden insgesamt nicht individuell, sondern sogar insgesamt als Gruppe verteufelt wurden - als Gegner und Feinde Gottes und des Christentums hingestellt hat und die auch nicht protestiert hat weder gegen Zwangsjacken noch gegen das Unrecht der Massenhinrichtung. Das muss sich eine Fakultät, die mit dem Anspruch auftritt, über die Reinheit des Glaubens zu wachen und die auch mit dem Anspruch auftritt, eine hohe Stellung innerhalb der Kirche zu haben, gefallen lassen.
Nun mündet das heutige Gedenken zum 12. März 1421 in einer Selbstverpflichtung der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät insgesamt, die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Gegenwart, aber auch mit der Theologie und den theologischen Wurzeln des Judentums zu vertiefen. Sollte das nicht längst selbstverständlich sein? Oder anders gefragt: Wo sehen Sie denn Desiderate theologischer Art?
Die heutige Theologie hat lange schon, spätestens seit "Nostra Aetate", ein völlig anderes Verhältnis zum Judentum aufgebaut. Die christliche Theologie weiß heute, dass man im Judentum die eigenen Wurzeln hat - und dass es nicht nur ein Gestus der Höflichkeit ist, sondern eine Notwendigkeit, die jüdischen Wurzeln des Christentums zu berücksichtigen. Eine Bringschuld der christlichen Theologie sehe ich dort, wo es gilt, diese sehr unheilvolle Geschichte des Christentums mit dem Judentum aufzuarbeiten und hier auch die Rolle der Theologie genau zu benennen: Wo schlägt eine Theologie, wie sie schon im Neuen Testament greifbar ist, die sich vom Judentum distanziert, in der Juden als Gegner gesehen werden - wo schlägt diese Theologie in eine Feindschaft gegenüber eine Minderheit um, die wiederum nichts mehr mit einer ursprünglichen theologischen Auseinandersetzung zu tun hat? Das muss aufgearbeitet werden. Und hier kann die Theologie auch einen Zukunftsdienst leisten, wenn sie aufzeigt, wo theologische Auseinandersetzung in eine Stigmatisierung mit möglicherweise dramatischen, gewaltvollen Folgen umschlägt.