Vergessen oder Tabu? Geburt und Mutterschaft rund um Weihnachten
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Podcast vom 22. Dezember 2022 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Willkommen zu einer neuen Folge des Podcasts Diesseits von Eden. So kurz vor und rund um Weihnachten dreht sich in dieser Folge alles rund um die Themen Geburt und Mutterschaft. Warum? Zu Weihnachten feiern die christlichen Kirchen die Geburt Jesu und damit die Menschwerdung Gottes vor mehr als 2.000 Jahren. Im Zentrum steht dabei eigentlich ein Geburtsgeschehen und trotzdem fristet dieses in der Liturgie, der Bibel und der Theologie eine Art Nischendasein.
Meine Frage darum: Warum ist das so? Und antworten werden heute zwei Theologinnen. Einerseits die Professorin Isabella Guanzini vom Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik der katholischen Privatuniversität Linz und Professorin Theresia Heimerl, Universitätsdozent am Institut für Religionswissenschaft an der Universität Graz.
Also meine erste Frage an Sie, Frau Guanzini: Warum fristet das Thema Geburt, Geburtsgeschehen und Mutterschaft zu Weihnachten so ein Nischendasein, wo es ja eigentlich um das Thema Geburt geht?
Guanzini: "Die Geburt markiert den Status unserer Existenz, obwohl sie die am meisten verdrängte und vergessene Tatsache in unserer Kultur ist. Auch im philosophischen Bereich wird der Mensch oft als der Sterbliche definiert und nicht als der Geborene, der ja gerade und nur deshalb sterblich ist, weil er geboren wird. Aber was bedeutet unser Geborenwerden? Ich möchte kurz drei Elemente betonen: Wir kommen nackt auf die Welt und sind dem anderen ausgesetzt, der Fürsorge des Anderen jenseits jedes Glaubens, dass wir doch so autonome Wesen sind. Es ist die Nacktheit, die wir in drei entscheidenden Momenten unserer Existenz finden: Geburt, Geschlechtsakt und Tod. Jedenfalls bedeutet das geboren werden, dass das Leben als Leben eines Kindes beginnt, also ein Leben, das sich seinen Ursprung nicht aussuchen kann und die Spuren des anderen, die es fortgebracht hat, in sich trägt. Mit der Geburt eines Kindes kommt etwas Neues in seine Einzigartigkeit, auf die Welt. Mit jeder Geburt kommt auf die Welt die Möglichkeit eines Neuanfangs und damit die Möglichkeit des Glaubens und der Hoffnung zu etwas, das noch nie dagewesen ist, kommt in die Geschichte und die Möglichkeit des Wunders ist wieder da. Deswegen ist Weihnachten schon ein sehr wichtiges Ereignis in unserer Zeit."
Die nächste Frage stelle ich nach Graz und die Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl: Isabella Guanzini hat gerade gesagt, Geburt ist ein Tabu einer typisch männlichen Gesellschaft. Ist jetzt diese Tabuisierung oder dieses Nischendasein? Hat das einen gesellschaftlichen Ursprung, einen religiösen Ursprung, eine biblische Begründung? Oder ist es einfach schlicht eine theologische Schlamperei und man hat es vergessen?
Heimerl: "Ich habe ehrlich gesagt nicht den Eindruck, dass Geburt und Mutterschaft ein Tabu darstellt in den Religionen. Ich würde eher im Gegenteil sagen, dass Mutterschaft im Christentum bis zu einem gewissen Grad auch in den anderen monotheistischen Religionen mittlerweile zu einer Art Kampfbegriff geworden ist. Zu etwas, was aus Sicht der Männer definiert wird in diesen Religionen und das zu einer Art Marke wird, mit der man gute Frauen, die Mütter werden und gebären, von schlechten Frauen, die das nicht wollen, unterscheidet. Ich würde da nicht von einem Tabu sprechen, sondern eher von etwas, was sehr stark von Männern, von männlichen Verantwortlichen in Religionen genutzt wird, um über Frauen zu verfügen und um Frauen in bestimmte Rollen zu drängen. An das Tabu rund um. In den Religionen würde ich jetzt religionswissenschaftlich allenfalls im Bereich der konkreten körperlichen Aspekte der Geburt verordnen. Das gibt es im Christentum übrigens deutlich weniger als in den beiden anderen monotheistischen Religionen, also das Tabu rund um Körperflüssigkeiten. Da bestimmte sozusagen eine angenommene Phase der Unreinheit nach der Geburt. Also diese Tabus gibt es, aber Mutterschaft als solches würde ich nicht als Tabu bezeichnen."
Prof. Isabella Guanzini
Geburt ist ja trotzdem eine Art religiös-existenzielle Erfahrung für viele Frauen. Wenn man jetzt aber so recherchiert, was in der Bibel unter Geburt vorkommt, sticht gleich am Anfang in der Genesis ins Auge: Unter Schmerzen gebären. Glauben Sie, dass dieser Strafspruch für die Frauen Garten Eden Auswirkungen hat für die Theologie?
Guanzini: "Einerseits klingt natürlich dieser Ausdruck wie eine göttliche Beurteilung der Frau nach Sünde - in der Genesis das hebräische Wort für Schmerzen und seine Ableitungen bedeuten allerdings Anstrengung, Ermüdung oder Mühsal, so Erfahrungen, die mit der Entbindung verbunden sind. Aber die, wie Theresia Heimerl gerade gesagt hat, sind die männlichen Übersetzungen dieser Bibelstelle, dass eine große Auswirkung gehabt haben. Sie haben wirklich diese Erfahrung des Schmerzes und mit dem göttlichen Willen, die Frau zu bestrafen, verbunden, um ihr so der Frau die Schuld der Erbsünde aufzubürden, die sie in irgendeiner Weise mit den Schmerzen der Geburt entschädigen muss. Die Verurteilung des weiblichen Körpers zum Leiden hat sich dann verheerend auf die Geschichte der christlichen Spiritualität, Ethik und Praxis ausgewirkt. Es hat zu einer Art Verurteilung, Verherrlichung auch des Schmerzes, des Schmerzes und der Selbstopferung geführt, und zwar der Überführung der Frauen, welche eine lange patriarchale Anthropologie geprägt hat. Andererseits könnte der Ausdruck unter Schmerzen gebären auch etwas anderes bedeuten: Für die neun Monate der Schwangerschaft, die die Geburt vorausgehen, sind unglaublich zu denken und zu durchleben im Sinne eines wunderbaren Prozesses der Gastlichkeit bis zum Aufbruch bzw. zum Abschied und zur Trennung. Und die Geburtswehen, die Schmerzen sind also notwendig, damit das Kind leben kann. Es ist nicht zuletzt der Schmerz der ersten notwendigen Trennung. So ist der Verlust dieser wunderbaren Ganzheit, dieser einzigartigen Beziehung zum anderen, die im Körper der Mutter geschieht, ist unumkehrbar, ist sehr schmerzhaft, endgültig und für den Rest des Lebens, obwohl sich Legionen von Menschen danach sehnen, in den Mutterleib zurückzukehren. Aber das würde wirklich diesen Schmerz als Durchgang zu einer großen Freude übersetzen. Deswegen hat auch das Johannesevangelium das Passahfest als Fest des Übergangs gekennzeichnet, und er hat sich auf die Wehen der Geburt der Entbindung bezogen. Das bedeutet, dass wir genau diesen Durchgang brauchen, der auch sehr schmerzhaft hat, um eine wahre Freude zu erfahren. Es geht um ein Bild für den Übergang des Festes vom Kreuz zu Herrlichkeit und der Bedrängnis zur Freude. Und das ist auch vielleicht ein gutes Bild für die Schmerzen der Geburt, die aber alle völlig mit einer großen Freude verbunden sind."
Prof. Theresia Heimerl
Die nächste Frage dreht sich dann mehr um ein Dogma, nämlich das Dogma der unbefleckten Zeugung von Maria. Wie kann man dieses Dogma in die heutige Zeit übersetzen? Da geht es ja um diese Zeugung der Mutter Gottes ohne Erbsünde. Ich habe mich gefragt im Zuge der Recherche, ob das Dogma nicht heutzutage falsch verstanden wird. Ob man dann nicht eher fragt: So wurde Jesus von einer Jungfrau geboren, oder nicht? Und wie funktioniert denn das? Wie kann man dieses Dogma ins Jahr 2022, bald 2023 übersetzen?
Heimerl: "Ich bin jetzt keine Dogmatikerin, deswegen würde ich die Frage wirklich sehr historisch bzw. theologiegeschichtlich kontextualisieren. Dieses Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä also, das ohne Erbsünde empfangen wurde, setzt eben ganz, ganz massiv die Erbsündenlehre, die mit dem heiligen Augustinus Einzug gehalten hat in die christliche Theologie voraus. Und wenn ich die gesamte Anthropologie um diese Erbsündenlehre herum baue, dann ist es klar, dass Gott nur von einer Frau geboren werden kann, die diese Erbsünde nicht hat. Also innerhalb sozusagen dieser auf der Erbsünde basierenden Anthropologie macht das schon Sinn. Ob eine Anthropologie der Erbsünde heute überhaupt noch Sinn macht und ob das etwas ist, was ich so einfach jetzt für Gläubige heute übersetzen lässt, das ist eine andere Frage. Aber ich denke, diese Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias steht und fällt wirklich mit der Erbsündenlehre. Also wenn die weg ist, dann brauche ich das auch nicht mehr und kann sozusagen mir eine auch ja normal empfangende Maria oder wie immer vorstellen. Ja zu Ihrer Frage mit der, ob das nicht verwechselt wird oft mit der Jungfräulichkeit Marias. Ja, also ich denke heute wissen die wenigsten, warum überhaupt der 8. Dezember ein Feiertag ist. Und wenn sie so irgendwas hören, dann denken sie wahrscheinlich Aha, da geht es darum, dass Maria noch Jungfrau war, so ungefähr, als sie Jesus bekommen hat. Das zeigt auch, wie weit weg das Heute insgesamt ist."
Was sagt die Dogmatikerin Isabella Guanzini dazu?
Guanzini: "Ich bin Fundamentaltheologin, aber ich möchte vielleicht etwas hinzufügen zum Maria: Dieses Dogma der unbefleckten Empfängnis sollte den Boden für die Geburt Jesu vorbereiten. Und Theresia Heimerl hat völlig recht: Die Erbsündenlehre spielt diesbezüglich die wesentliche Rolle. Wir können zum Beispiel das Lukasevangelium nehmen. Wie das Lukasevangelium zeigt, kann Maria ihr Ja zur Berufung Gottes nur sagen, weil sie die von Gott Begnadete ist. Das bedeutet, dass jede Erwählung und Begnadigung durch Gott erfolgt, für jede Nachfolge. Aber ich würde hinzufügen, auch jede Geburt nicht lediglich menschliches Erschaffen ist, das heißt vollkommen in menschlicher Hand liegt, sondern nur in der zuvorkommenden Gnade Gottes möglich ist. So protestantisch gesehen, so sola gratia. Obwohl die protestantische Kirche dieses Dogma sicher nicht anerkennt, gibt es hier die Präsenz der Gnade. Also auch jede Geburt ist nicht einfach ein Produkt unseres Schaffens, sondern ein Ereignis, das nicht unter unserer Kontrolle steht. Es gibt doch auch bei jeder Geburt etwas anderes. Jede Geburt bleibt ein Wunder. Würde ich sagen. Und deswegen würde ich auch diese Erwählung, diese exemplarische Rolle Marias auch so biblisch deuten."
Ich möchte jetzt gleich bei Maria bleiben, die für viele Menschen das weibliche Pendant zu Gott darstellt. Also in Maria erfahren viele Menschen die Nähe zu einer mütterlichen Macht im Himmel. Sie ist hilfsbereit, mitfühlend. Und trotzdem ist Maria für die feministische Theologie oder für moderne Frauen oft auch ein Dorn im Auge, weil in ihrem Bildnis ein Mutterbild tradiert wird über Jahrhunderte, das sehr aufopfernd demütig ist. Also die Mutterschaft ist das oberste Ziel. Theresia Heimerl hat schon angesprochen: Wenn man diese Mutterschaft nicht erfüllt, dann hat man ein Problem als Frau. Und ich habe mich jetzt gefragt: Wie kann ich auch Maria in das Jahr 2022 so kurz vor Weihnachten modernisieren oder diese ganzen Kampfbereitschaft abstreifen? Funktioniert das?
Heimerl: "Ich finde, dass man Maria schon auch in die heutige Zeit, in die Gegenwart durchaus übersetzen kann. Und zwar auch sehr bewusst als Mutter. Maria wird nicht erst in den letzten Jahrhunderten, sondern eigentlich schon seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten immer wieder anders gelesen auch. Also sie ist sicher auch sehr stark ein Spiegel der jeweiligen Bedürfnisse der Menschen und auch das, worauf Sie jetzt anspielen, zielsicher auch zu einem Spiegel der Bedürfnisse vor allem männlicher Kleriker geworden, die ebenso sich ein sehr seltsames, würde ich jetzt sagen, ein sehr dienendes, sehr opferbereit etc. Mutter ideal zusammengebastelt haben. Und manches, was wir durchaus jetzt auch aus der Bibel herauslesen können, wie zum Beispiel, dass Maria ja eigentlich genau nicht diesem braven christlich katholischen Familien und Ideal entspricht mit ihrer etwas unüblichen Familiengeschichte, dieser fast schon Patchworkfamilie, die sie ja hat, mit diesem Adoptivvater, der Josef wird. Das ist doch alles durchaus etwas, was unkonventionell ist. Also ich finde, dass man Maria heute schon auch lesen kann. Als ja eigentlich sehr mutige Frau, die eine den Mut hat, Mutterschaft unkonventionell zu beginnen, sage ich jetzt ganz bewusst. Und auch das ist jetzt natürlich nicht ganz so schön, wie Weihnachten unkonventionell zu beenden. Man muss ja das auch sozusagen weiterdenken. Mutterschaft ist ja nicht nur das kleine Kind in der Krippe, sondern das ist dann ja auch der schwierige Sohn, der aufsässige Sohn, der dann auch als Terrorist, würden wir heute sagen, bis zu einem gewissen Grade verurteilt ist. Da ist sie schon und da kann sie schon auch abseits jetzt dieses sehr männlichen Kitschbildes wirklich ein Vorbild sein oder auch oder zumindest eine Gestalt, bei der Frau sage ich jetzt bewusst oder Mutter auch sicher Verständnis finden kann."
Zum Abschluss dieser Podcastfolge noch eine Frage an Sie beide in aller Kürze: Wie könnte denn eine Theologie der Geburt ausschauen?
Guanzini: "Es gibt gerade viele Metamorphosen. Nicht nur in der Theologie, sondern auch im Kontext des religiösen Lebens, können wir sagen. Und diese Metamorphosen betreffen vor allem auch neue Figuren, die in den letzten Jahrzehnten aufgetaucht sind die Frauen, die Kinder, aber auch die Mütter, die in einem nicht moralisierenden und nicht patriarchalischen Sinn verstanden werden. Das ist für mich sehr wichtig für die Infragestellung des autarken, selbstreferentiellen, abstrakten und rationalen Subjekt der westlichen Tradition. Somit sind an der Schnittstelle von Biologie Sinn, Körper und Vernunft. Es geht um ihre Durchlässigkeit zwischen Innen und Außen durch ihren Kontakt mit dem Körper des Anderen. Für mich sind in diesem Sinne die Mütter wichtige Faktoren für einen neuen Humanismus und sie sind fähig, diese homogene Selbstdarstellung des Menschlichen zu stören, um nicht auch einer Andersartigkeit und Heterogenität auszusetzen. Vielleicht ein letzter Punkt: Wir müssen auch im theologischen Diskurs muss uns mit einem komplexeren Wissen auseinandersetzen, mit einem Wissen über das auch das Unbewusste, in dem Affekte, Triebe und Erfahrungen der Begrenzung der Verletzlichkeit konstituierende Elemente sind. In diesem Sinne ist für mich eine Theologie der Geburt, die sich mit dem Muttersein konfrontiert ist, sehr wichtig. Ich würde sagen, ein Zeichen der Zeit."
Heimerl: "Ja, ich würde dem zustimmen in aller Kürze. Eine Theologie der Geburt oder der Mutterschaft wäre oder könnte sein eine Theologie der Bezogenheit, der Beziehung, Mutterschaft, Geburt und in Folge. Mutterschaft heißt immer, dass man. Nie mehr. Absolut autonom sein kann."
Danke für dieses Schlusswort. Das war's auch schon wieder vom Podcast Diesseits von Eden. Kurz und rund um Weihnachten zum Thema Geburt und Mutterschaft.