500 Jahre Luther in Worms: Ein Markstein evangelischer Identität
Foto: Grinolle, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Podcast vom 20. April 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
"Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." Ein Zitat, das – auch wenn es so historisch wohl nie gesprochen wurde – eine Weltkarriere hingelegt hat. Sein Verfasser: Martin Luther, der in diesen Tagen vor 500 Jahren auf dem Reichstag von Worms vor den Kaiser trat und ihm sowie dem Papst und der Kirche – so will es die Legende – die Stirn bot. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen, diesmal evangelisch-reformatorischen Folge von "Diesseits von Eden" sagt Henning Klingen.
Vor vier Jahren wurde weltweit ein besonderes Lutherjahr gefeiert. 2017 war es genau 500 Jahre her, dass Luther mit seinem Thesenanschlag von Wittenberg den Auftakt zur Reformation setzte. Heute, im April 2021 wird des nächsten, vielleicht sogar des entscheidenderen Aktes der Reformation gedacht: des Auftritts Luthers vor dem Reichstag von Worms. Luther war damals bereits eine "öffentliche Person" - umstritten, geliebt, gehasst: Seine Kritik am Ablasshandel und an der päpstlichen Autorität forderte Kirche und Staat gleichermaßen heraus. Ihm wurde - wenn auch schleppend - der Ketzerprozess gemacht. 1520, ein Dreivierteljahr vor dem Wormser Reichstag, wurde eine Bannandrohungsbulle gegen Luther veröffentlicht. Der Vorwurf der Häresie wurde erhoben. Luther sollte widerrufen, sich unterwerfen. Seine Antwort war die Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Im Dezember 1520 – nur wenige Monate vor Worms – verbrannte Luther schließlich öffentlich die Bannandrohungsbulle. Soviel zur Vorgeschichte. Dann kam Worms. Luther hoffte, sich erklären, die Vorwürfe entkräften zu können – berichtet die evangelische Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer:
"Es war eine längere Reise, er kam von Wittenberg nach Worms und da gibt's genaue Aufzeichnungen von seinen Begleitern und auch von seinen Schülern, was er wo gemacht hat, dass er dort gepredigt hat und welche Leute ihm dort nachgerannt. sind, dass er Verdauungsprobleme hatte und sich dem Aderlass unterziehen musste usw. Dann kommt er in Worms an. Er hält dort auch immer Besuch von diversen Fürsten, und am 17. April steht er das erste Mal vor Kaiser und Reich und hat eben geglaubt, dass jetzt mit ihm diskutiert wird. Da wurden die Schriften vor ihm ausgebreitet und er wurde gefragt, ob es sich zu diesen Schriften bekennt und widerrufen werde. Und er sagt, das ist alles nicht so einfach, es geht schließlich um sehr gewichtige Dinge, um die Frage des Seelenheils und das Wort Gottes und er bittet sich einen Tag Bedenkzeit aus. Der Kaiser sagt Ja zu dieser Bedenkzeit. Diese Bedenkzeit will er, weil er mit etwas anderem gerechnet hatte, nämlich mit einer Diskussion über seine Schriften. Er wollte über seine Lehre reden. Das ist auch verbürgt durch einen Brief, den er dann zehn Tage später an seinen Freund Lucas Cranach geschrieben hat in Wittenberg, wo er sagte, dass er geglaubt hat, dass da jetzt Doktoren dastehen und mit ihm verhandeln werden. Und im Endeffekt wurde er nur gefragt: Wollen Sie widerrufen?"
Luthers Brief an Johannes Cuspinian
Luther wollte nicht. Zumindest nicht sofort. Er war irritiert, bat sich einen Tag Bedenkzeit aus. Diese nutzte er, um seine Verteidigungsrede auszuformulieren – jene Rede, die mit der berühmten Formel endete: "Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!" Doch er nutzte die Zeit auch, um einem Freund im fernen Österreich zu schreiben – dem Diplomaten und Professor der Universität Wien, Johannes Cuspinian. In einem Brief, datiert auf den 17. April 1521, schrieb ihm Luther:
"… Zu dieser Stunde habe ich vor dem Kaiser und dem römischen Reich gestanden und bin gefragt worden, ob ich meine Bücher widerrufen wolle. Da habe ich geantwortet: die Bücher seien allerdings die meinigen. Wozu ich mich übrigens in Bezug auf den Widerruf entschließen würde, würde ich morgen sagen, da mehr Raum und Zeit zum Überlegen weder begehrt noch gegeben war. Aber ich werde auch nicht einen Buchstaben widerrufen, wenn Christus mir gnädig ist. Gehab Dich wohl, mein teuerster Cuspinian."
Die evangelische Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer
"Dieser kurze Brief, der nicht sonderlich aufregend ist, wird von der österreichischen Protestantismusforschung gerne herangezogen für diese frühen Kontakte Luthers nach Österreich und dafür, dass die Reformation nicht nach Österreich importiert wurde, sondern Österreich von Anfang an in dieses Geschehen eingebunden war. Das war ja auch tatsächlich so durch den Import von Flugschriften, die von Anfang an nach Österreich transportiert wurden. Er kommt dann am 18. April, also einen Tag später, wieder vor Kaiser und Reich. Es werden ihm dieselben Fragen gestellt zu seinen Büchern und gefragt, ob er widerrufen möchte. Und er sagt dann eben, er kann nicht widerrufen, denn es stehe fest, dass Papst und Konzilien schon öfters geirrt haben und sein Gewissen ist im Wort Gottes gefangen. Und solange das so ist und solange er nicht mit der Heiligen Schrift, mit Schriftworten widerlegt wird, kann er nicht widerrufen. Mit dem 'Gott helfe mir. Amen'. Das waren angeblich die Worte, die dann erweitert wurden und sehr populär wurden, nämlich mit dem Zusatz 'Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.'"
Die Reichsacht wird über Luther ausgesprochen
Luther reiste kurze Zeit später ab aus Worms. Freies Geleit war ihm zugesichert worden – Unterschlupf fand er schließlich unter dem Schutz seines Landesherren, des Kurfürsten Friedrich des Weisen, als "Junker Jörg" auf der Wartburg bei Eisenach. Dort sollte er in Folge an der Übersetzung des Neuen Testaments arbeiten – eine Leistung, die unbestritten zu den größten und kirchengeschichtlich folgenreichsten Leistungen des Mittelalters zählte. Kaiser Karl V. sprach nach Luthers verweigertem Widerruf nun die Reichsacht über den Reformator aus. Luther galt ab sofort als Ketzer. So heißt es im "Wormser Edikt", das auf den 8. Mai 1521 datiert ist:
"Da nun die Sache dermaßen verlaufen ist und Martin Luther so ganz verhärtet und verkehrt in seinen offenkundigen ketzerischen Auffassungen verharrt und deshalb von all denen, die Gottesfurcht und Vernunft haben, für töricht oder vom bösen Geist besessen befunden wurde, … haben wir zu ewigem Gedächtnis dieser Verhandlung, zur Vollstreckung des Dekrets, des Urteils und der Verdammung entsprechend der Bulle, die unser Heiliger Vater, der Papst, als ordentlicher Richter in diesen Angelegenheiten verkündet hat, festgesetzt, dass Ihr den erwähnten Martin Luther als ein von Gottes Kirche abgesondertes Glied und einen verstockten Schismatiker und offenbaren Ketzer von uns und Euch allen und jedem einzeln anzusehen und zu halten erkennt und erklärt und dies kraft dieses Schreibens bewusst in die Tat umsetzt."
"Das Wormser Edikt war insofern wesentlich, als damit die Reichsacht über Luther ausgesprochen wurde; er war ja schon exkommuniziert, als Ketzer verurteilt und damit war auch ein Auslieferungsbefehl verbunden. Auch ein Verbot, ihn und seine Anhänger aufzunehmen, zu beherbergen, Verbot und Vernichtung von Luthers Schriften und so weiter war darin verankert. Allerdings war das Edikt nicht so einfach durchführbar, denn das hing ja auch von den Reichsständen und von der Bevölkerung ab. Tatsächlich war es bis 1555 in Geltung, bis zum Augsburger Religionsfrieden, aber eben realpolitisch nicht einfach so durchsetzbar."
Das Wormser Edikt sollte auch für Österreich nicht folgenlos bleiben. Schließlich gab es hierzulande Anhänger Luthers. Noch einmal die evangelische Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer:
"Die lutherischen Lehren haben sich ja natürlich auch in Österreich sehr rasch verbreitet. Es gab ja Kontakte immer wieder nach Wittenberg über Kaufleute, Studenten usw. und die Lehren wurden somit importiert. Paul Speratus, der Prediger im Stephansdom, der reformatorisch gepredigt hat, der ist ja vielen ein Begriff. Und 1524 Ist vielleicht noch wichtig, das Regensburg Reformkonvent zu erwähnen. Da wurde beschlossen, dass das Wormser Edikt unbedingt und streng durchzuführen ist, und eine Folge dessen war, dass 1524 in Wien der Tuchhändler Caspar Tauber hingerichtet wurde. Da gibt es die Berichte, wie er vor dem Stephansdom kniet. Er gilt als erster Blutzeuge der Reformation in Österreich; oder dann auch Leonhard Kaiser in Schärding. 1527 gab's dann nochmal ein Mandat, das 'Ketzer-Mandat von Ofen'. Das war vornehmlich gegen die Täufer gerichtet, und da wurde dann 1528 Balthasar Hubmaier ja auch in Wien hingerichtet. Also das hatte schon Relevanz; immer wieder wurde da Bezug genommen auf die Durchführung des Wormser Edikts."
Worms und die protestantischer Erinnerungskultur
Soviel zur historischen Rekonstruktion der Ereignisse vor 500 Jahren. Doch warum erinnert man sich ihrer heute noch? Nur, weil die Zahl 500 sich so gut medial vermarkten lässt? Weil sie so schön rund ist? – Nein, sagt Christian Danz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Worms ist ein Markstein evangelischer Identität – bis heute. Denn in Worms werden wichtige Elemente lutherischer Theologie praktisch sichtbar:
"Auf der Ebene der protestantischen Erinnerungskultur hat sich dieses Ereignis fest eingeschrieben. Es gibt unzählige Bilder, die Luther in Worms zeigen. Es gibt auch Filme, die genau dieses Bild des aufrechten Mönches in Worms zeichnen, und das prägt sich natürlich ein. Damit verbindet sich, glaube ich, ein wichtiges Moment für den Protestantismus, was natürlich auch mit der Reformation verbunden wird - und das ist eben die Freiheit des Gewissens. Aber das ist natürlich ein ganz später Gedanke. Luthers berühmte Wendung in Worms, 'Hier stehe ich. Mein Gewissen ist gefangen durch die Worte der Schrift' - dabei geht es natürlich noch nicht um individuelle Gewissensfreiheit in dem Sinne, wie es das in der Moderne geht. Diese Urszene, wenn man so möchte, der Gewissensbildung hat eigentlich erst so richtig Karriere gemacht in der Aufklärung. Die Aufklärung hat sich eben genau zwei Jahrhunderte später auf dieses Motiv berufen; aber eben vor ganz anderen Hintergründen, als das bei Luther der Fall ist, und hat aber eben genau dieses Moment der individuellen Gewissensfreiheit in den Fokus gerückt. Bei Luther selbst ist das Gewissen an die Schrift gebunden. Das heißt, das Gewissen ist eben gar keine Wahrheitsinstanz, sondern die Bibel als eine quasi objektiv vorgegebene Wahrheitsgrundlage: Das ist der eigentliche Wahrheitsgarant für Luther. Und darauf beruft er sich."
Der Wiener evangelische Theologe Prof. Christian Danz
Für Luthers Theologie war Worms, der Auftritt vor Kaiser und Reich, kein Einschnitt, auch kein Anschub. Sie lag in Worms ja in ihren Grundzügen bereits in den Schriften Luthers, denen er abschwören sollte, vor. Für den Fortgang der Reformation aber wurde Worms zum entscheidenden Katalysator: Der Zug in Richtung Kirchenspaltung war spätestens in Worms abgefahren, so Danz.
"Ich glaube, 1521 war nichts mehr zu machen, da war der Zug abgefahren, und das hat im Nachhinein Worms deutlich gemacht und das hat natürlich genau dieses Lutherbild stilisiert. Es kommen ja dann auch diese Reihen: Hermann der Cherusker, der die Römer geschlagen hat und Luther, der dann ebenfalls sich den Römern entgegengestellt hat. Kurz nach dem Reichstag ist eine kleine Flugschrift erschienen, in der der Reichstag in Worms mit dem Prozess Jesu verglichen wird und parallelisiert wird. Es wird also hier ein massives Bild geschaffen eines standhaften Mönchs, der seinen Widersachern, also seinem Pilatus widersteht."
"An Worms hängt die protestantische Identität"
Theologisch interessant sei, dass Luther selbst nach Worms restriktiver wurde. Die Reformation nahm Fahrt auf, es traten teils auch radikalere Kräfte und Personen auf, die sich die Sache Luthers zu eigen machen wollten. Für den Mönch Martin Luther ging das zu weit. Er wollte keine Kirchenspaltung, er wollte die Erneuerung der Kirche, so Danz. Auch wenn dieses Ziel mit Worms und dem Edikt kirchenpolitisch gescheitert war – theologisch hielt Luther daran fest.
"Einerseits ist Worms ein Mythos. Aber es hängt natürlich daran die protestantische Identität. Und daraus hat sich eine eigene Auffassung des Christlichen entwickelt. Der wichtige Punkt scheint mir der zu sein für uns heute, dass man sich anerkennt als gleichberechtigte christliche Kirchen. Es ist ja sowieso schwierig: dem Alltagsmenschen ist das ja wahrscheinlich überhaupt nicht mehr plausibel zu machen, wo die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch liegen. Vielleicht kann man sagen, wird sich das in den nächsten hundert Jahren noch viel mehr abschleifen, diese konfessionellen Gegensätze. Es ist also durchaus möglich, dass das sich irgendwie wieder vereinigt. Allerdings sind das natürlich für den Protestantismus wichtige Punkte, auch wenn sie Luther selber nicht so vertreten hat und sich wahrscheinlich etwas ganz anderes vorgestellt hat. Aber die Freiheit des Individuums in seiner Entscheidung: Das sind natürlich für den modernen Protestantismus Kernpunkte."
Sagt der Wiener evangelische Theologe, Prof. Christian Danz aus Anlass der Erinnerung an den 500. Jahrestag des Auftritts Luthers vor dem Reichstag in Worms. Danke fürs Zuhören sagt Henning Klingen.