Alt, aber nicht fromm: Jürgen Habermas und die Theologie
Foto: Wolfram Huke, http://wolframhuke.de, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Podcast vom 24. Juni 2024 | Gestaltung: Henning Klingen*
"Ich bin alt, aber nicht fromm geworden" - Harsche Worte, von Jürgen Habermas, gesprochen vor inzwischen 15 Jahren bei einem Interview zu seinem damals 80. Geburtstag. Worte, die zugleich eine Abfuhr erteilt haben, und zwar eine Abfuhr für all jene, die in ihm eine Art altersmilden Krypto-Katholiken wähnten, nur weil er öffentlich über das Verhältnis Glauben und Wissen nachgedacht hat. Vor wenigen Tagen konnte Habermas seinen 95er feiern.
Würdigungen sind erschienen, Interviews mit Habermas, Biografen und Interpreten. Nur der Frankfurter Denker selber wollte sich bisher partout nicht äußern. Warum auch? Gesagt und geschrieben hat er zeitlebens und bis zuletzt endlos viel auch zu jenen Fragen, die wir heute mit unserem speziellen Blick bei Diesseits von Eden betrachten wollen. Die Fragen des Verhältnisses von Glauben und Wissen oder, etwas plakativer, die Frage Habermas und die Theologie. Denn tatsächlich ist das mehr eine Frage denn ein tatsächliches "und": Habermas hat nie Theologie betrieben. Zu einzelnen Personen in der Theologie hat er ein gutes Verhältnis, aber ansonsten herrschte wohlwollend bewusste Äquidistanz.
Selbst bei seinem letzten Großwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie", betonte Habermas in einem Interview, es gehe ihm nicht um eine Rehabilitierung theologischen Denkens, sondern um eine philosophisch interne Klärung. Also alt, aber nicht fromm.
Dennoch gibt es dazu wohl deutlich mehr zu sagen und auszuleuchten. Und so freut es mich sehr, heute drei ausgesuchte Experten begrüßen zu dürfen. Zum einen begrüße ich, aus Frankfurt zugeschaltet Professor Thomas M. Schmidt, Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt. Er hat dort studiert, also an der Heimatuni von Jürgen Habermas, aber nicht nur studiert, sondern auch promoviert und habilitiert. Gutachter in beiden Fällen ein gewisser Jürgen Habermas; also "Expertiger", kann man sagen, geht es nicht. Und zwar auch vor allem im Blick auf unser Thema Habermas und die Theologie.
Dann aus Graz zugeschaltet der christliche Philosoph Professor Reinhold Esterbauer, seit 2000 Professor am Institut für Philosophie an der Fakultät für katholische Theologie dort. Und schließlich auch diesmal wieder dabei: Professor Martin Dürnberger. Nach unserer letzten Folge über Thomas von Aquin ist er auch diesmal wieder an Bord, denn die "kommunikative Rationalität" war und ist ihm wichtig. Martin Dürnberger ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie in Salzburg und derzeit Vertreter des Lehrstuhls Fundamentaltheologie an der Uni Regensburg und außerdem Obmann der Salzburger Hochschulwochen. Dort - und damit schließt sich endlich der Kreis der Vorstellung - wird in diesem Jahr auch Thomas Schmid als Laudator auftreten. Aber dazu am Ende noch mal ein entsprechender Hinweis.
Ich würde das Gespräch gerne mit Ihnen, Professor Schmidt, beginnen. Was muss man denn biografisch oder akademisch-biografisch von Jürgen Habermas wissen, um zu verstehen, wie er zur Theologie und Religion steht? Welche Etappen kann man nachzeichnen bei diesem Nachdenken von Habermas über dieses Thema?
Schmidt: "Ja, wenn man zunächst einmal mit dem ganz normalen biografischen Hintergrund anfängt, den ich vielleicht mal kurz skizzieren darf: Es ist ja bekannt, dass Jürgen Habermas in einer protestantischen Familie aufgewachsen ist, in Gummersbach, einer Kleinstadt im Oberbergischen Land. Und das Bergische Land insgesamt ist ja sehr stark von einer pietistischen Version des Protestantismus geprägt. Der Großvater von Habermas war protestantischer Pfarrer aus diesem Milieu der Bekennenden Kirche kommend, und es wird immer berichtet, dass dieser Großvater eine große Vorbildrolle für die Familie hatte. Interessant ist vielleicht, was bei Jubiläen von Habermas meistens unterschlagen wird, dass der volle Taufname von Habermas Friedrich Ernst Jürgen Habermas lautet. Das erinnert natürlich an Schleiermacher. Und dann könnte man sagen, das spricht vielleicht auch für die Erwartung der Eltern, dass sich Jürgen unter dem Titel Friedrich Ernst auch einreiht in eine Tradition des protestantischen Bildungsbürgertums und diese fortsetzt. Auch seine Frau Ute stammt aus einer liberalen, protestantischen Familie. Und selbst wenn sich Habermas, was man ja immer wieder hört, in Anlehnung an Max Weber immer beharrlich als religiös unmusikalisch bezeichnet, so darf man doch annehmen, dass er in seiner Herkunftsfamilie und auch in der Familie seiner Frau genügend Beispiele vor Augen hatte. Und mit Blick auf die Philosophie finde ich das halt sehr interessant: Habermas ist vielleicht zusammen mit John Rawls einer der führenden Denker, die politisch liberal sind und philosophisch agnostisch, ja sogar methodisch atheistisch, wie Habermas sagt, die aber Religion nicht nur aus der Ferne, sondern auch von innen kennen und von daher vielleicht auch eine Haltung haben, dass sie bei aller Kritik an Religion das religiöse Leben nicht radikalisieren und pathologisieren."
Professor Esterbauer, können Sie diese weiteren Stufen nach diesem biografischen Zugang vielleicht skizzieren? In welchen Stufen oder Wellen die Theologie Rezeption bei Habermas eingesetzt hat? Oder die Auseinandersetzung, in welchen Stufen die gelaufen ist?
Prof. Reinhold Esterbauer
Esterbauer: "Das ist natürlich schwer zu identifizieren, wo jetzt genau diese oder jene Stufe ist. Ich fange vielleicht von hinten an: Ich glaube, dass dieses große Werk, dieses Opus magnum, das er vor fünf Jahren geschrieben hat, dass es ihm darin darum geht, dass er wirklich eine gute Verbindung oder auch Relationsbestimmung zwischen diesen beiden Bereichen herstellen kann; und nicht nur das, sondern auch Philosophie historisch zeigen kann, wie sich die Entwicklungslinien ergeben haben, sodass es zu dieser Trennung auch gekommen ist. Also die Grundidee war doch, dass er auch mit seiner Theorie der Achsenzeit zeigen kann, dass es bei schon bei den in dieser Zeit entstandenen Religionen so etwas wie eine Verbindung von Theologie auf der einen Seite und Philosophie auf der anderen Seite gab. Was ihn da eben besonders interessiert, das ist, welche Epochen oder welche einzelnen Entwicklungen es dort gab, dass es zu dieser Trennung gekommen ist. (...)"
Jetzt haben Sie ja schon das Habermas'sche Pferd quasi publizistisch von hinten aufgezäumt, also ausgehend von seinem letzten Werk "Auch eine Geschichte der Philosophie". Martin Dürnberger, wenn man noch mal in die Etappen der Rezeption bei Habermas selber hineinschaut - was kann man da noch an Schritten der Rezeption ausmachen?
Prof. Martin Dürnberger
Dürnberger: "Ich glaube, man kann es doppelt rekonstruieren: Die eine Frage ist, wie das Verhältnis von Habermas zur Religion oder zur Theologie sich gestaltet - die andere, wie die Theologie beginnt, Habermas zu rekonstruieren. Wenn ich von Habermas ausgehe, dann würde ich das Standardnarrativ wählen: Ja, am Beginn steht diese Idee einer Säkularisierungstheorie, einer Versprachlichung des Sakralen im Hintergrund mit Emile Durkheim, der da die Referenz ist für den Gedanken. Das Sakrale wird verständigungsorientiert letztlich aufgefangen. Das heißt, wir brauchen nicht mehr eine sakrale Legitimation oder Motivation moralischer Normen, sondern das kann tatsächlich durch die kommunikative Vernunft, wenn man so will, von selbst geleistet werden. Sehr viele Fundierungsleistungen können selbstständig mit Mitteln der Vernunft geleistet werden - selbst der säkulare, liberale Rechtsstaat kann sich aus sich selbst heraus begründet werden, also aus einem solchen prozeduralen Vernunftverständnis heraus. Und ab einem bestimmten Zeitpunkt - und da ist 2001 und sind dann die Nullerjahre natürlich jetzt die spannende Phase - ab diesem Zeitpunkt gibt es ein neues Nachdenken, das sich vielleicht schon vorher ankündigt, das aber dann ganz klar wird: ein neues Nachdenken von Habermas über Religion. Da kommt dann der Begriff der 'Post-Säkularität' vor, der 2001 für Aufsehen sorgte und auch noch mal ein Nachdenken, wie das ist mit Religion in unseren Gesellschaften. Es gibt unabgegoltene Gehalte, die in der Fortexistenz der Religionen vielleicht zum Ausdruck kommen. Und da gibt es etwas, was bleibend auch für die Vernunft von Interesse sein kann. Prinzipiell also kann man mit Habermas sagen: Diese schwankende Schale Vernunft hat alles, wenn es um Staatsbildung geht, was sie braucht. Sie ist hinreichend dicht. Aber angesichts der grassierenden Globalisierung, einer Sprache des Marktes, die in alle Poren dringt, sollte man doch schauen, dass man alle Allianzpartner sammelt, einen Partner vielleicht, der die Idee der Humanität, der Solidarität weiter kultivieren, pflegen, lebendig halten kann, dass man mit all diesen Quellen schonend umgeht. Und da ist die Religion dann eine solche Gesprächspartnerin, von der man lernen kann und aus der sich solche Quellen der Solidarität speisen."
Würden Sie sagen, dass das eine funktionale Verkürzung von Religion ist, die Habermas da vornimmt, Prof. Schmidt?
Schmidt: "Nein, eher eine nützliche Orientierung. Es gibt ja so ein beliebtes Dreierschema, wie man sich die Entwicklung vorstellt. Die erste Stufe wurde ja schon genannt: die Versprachlichung. Also das ist in der Tat, würde ich auch sagen, Habermas' Version der klassischen Säkularisierungsthese im Anschluss an Durkheim und Weber. Also diese Vorstellung, dass die Metaphern der religiösen Sprache in philosophische Argumente transformiert werden und dass gesellschaftlicher Konsens eben nicht mehr durch rituelle Praktiken, sondern durch rationalen Diskurs gestiftet wird. Und dann haben - Phase zwei - die Rede von skeptischer Enthaltsamkeit. Die Schriften übers nachmetaphysische Denken finde ich da ganz interessant: Enthaltsamkeit kann man ja zweifach verstehen - auch in dem Sinne, dass sich das nachmetaphysische Denken einer Prognose über die Zukunft der Religion enthält. Und die dritte Stufe ist ja auch schon genannt worden, das ist dann das, was man Kooperation nennen könnte, also dass man sagt: Angesichts der Bedrohung des Projekts der Moderne, also des Gedankens der Aufklärung und das Ziel einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft, braucht es eben Bündnispartner, die helfen, dass diese Moderne nicht entgleist, wie Habermas so gern sagt. Und da ist dann Religion eine Ressource, aus der das nachmetaphysische Denken schöpfen kann. Also ist dann eine Kooperation möglich zwischen Glaube und Vernunft, Religion und Philosophie - unter der Bedingung, dass Religion auch die Standards der prozeduralen Vernunft einhält, akzeptiert und sich um diskursive Rechtfertigung religiöser Geltungsansprüche bemüht. Und gerade was die Theologie und ihr Verhältnis zu Habermas angeht, würde ich die 70er-Jahre als eine Art erste Sattelzeit bezeichnen, die oft vergessen wird, also eine Art Rezeption der Theorie des kommunikativen Handelns als eine Basistheorie der Wissenschaft überhaupt, auf die dann auch die Theologie aufbauen sollte. Da war vor allem Helmut Peukert, ein großer Schüler von Johann Baptist Metz, sehr einschlägig. Und dann gab es auch die Versuche, wirklich Theologie neu zu formulieren im Stile einer Theorie des kommunikativen Handelns, also bis in die praktische Theologie oder in die Exegese hinein - Edmund Arendts aus Luzern hat etwa versucht, die Exegese als eine Theorie des kommunikativen Handelns zu begründen. Und mir scheint dann, dass ab den 90er-Jahren so ein anderes Problemfeld ins Zentrum rückte: eben das Verhältnis von Religion in der demokratischen Öffentlichkeit oder pluralistischen Gesellschaft. Und das kulminiert natürlich dann in der Friedenspreisrede und dem Gespräch mit Kardinal Ratzinger über die Dialektik der Säkularisierung. Das heißt, in dieser Phase geht es nicht mehr so sehr um die methodische Auseinandersetzung, sondern mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber, welchen Ort Religion in der demokratischen Öffentlichkeit hat. Und dann will ich jetzt in der Tat auch sagen: Die dritte Stufe ist die zentrale Bedeutung der Aufgabe, die Habermas sieht, einer genealogischen Selbstvergewisserung der Vernunft. Also wenn die Vernunft oder gerade auch Philosophie im Zeitalter der Verwissenschaftlichung nicht zu einer belanglosen Spezialdisziplin werden will, aber auch keine Weltanschauung, wo man sich auf seine Gewissheiten versteift und die dem anderen nur entgegenschleudert, also in Philosophie die Spannung bewahren will zwischen Verwissenschaftlichung und Weltanschauung, dann muss sie sich immer auch auf ihr religiöses Erbe beziehen, auch wenn sie sich davon abgestoßen hat. Und das ist ja wirklich die große Aufgabe, die er sich in diesem monumentalen Werk stellt. Es gibt also Rezeptionsverhältnisse, Gesprächsverhältnisse mit der Theologie seit vielen Jahrzehnten. Aber es gibt eine Verschiebung der inhaltlichen Schwerpunkte, würde ich meinen."
Prof. Thomas M. Schmidt
Esterbauer: "Was mir noch aufgefallen ist in der Zeit zwischen Peukert und der letzten Zeit, die Herr Schmidt dargestellt hat: Da gab es in der Theologie, die nicht so sehr sich mit Habermas beschäftigt hat, zunächst einmal eine Aversion gegen ihn. 'Das ist der, der uns quasi wegerklären will mit seiner Säkularisierungsthese'. Und plötzlich dann hatte man nun das Gefühl: 'Jetzt bekommen wir Religiösen doch wieder eine andere Funktion, einen Rahmen, eine Aufgabe für die Gesellschaft zugesprochen.' Also wir werden wieder zurückgeholt von dieser Theorie und wir sind plötzlich wieder nützlich. Und dabei ist aber übersehen worden, dass es diese Zwischenstufen der Rezeption gibt, die jetzt erwähnt worden sind, nämlich dass es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Habermas in der Theologie gegeben hat und auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Positionen, das, was er wollte oder wie er die Theologie oder die Religion überhaupt eingestuft hat."
Schmidt: "Und ich glaube, dass der Vorwurf der Funktionalisierung, also Religion ist jetzt irgendwie nützlich und soll halt die Schäden einer kalten, einseitigen Modernisierung reparieren, zu einseitig ist. Es geht ja auch um die Frage einer gleichberechtigten Inklusion. Also ähnlich wie bei John Rawls: Wie können wir eine Form von öffentlicher Vernunft begründen? Wie können wir Demokratie, Rechtsstaatlichkeit so begründen, dass sich auch Angehörige verschiedener Weltanschauungen und religiöser Strömungen darin aufgehoben fühlen? In diesem demokratischen Rechtsstaat und das steht ja gerade bei 2001er Friedenspreis-Rede im Zentrum. 'Glauben und Wissen' - dieses Thema hatte er ja sehr kurz gewählt. Er wollte eigentlich über etwas anderes sprechen. Dann kam eben der 11. September 2001 - und was ihn da in seiner Doppelrolle als politischer Intellektueller und Philosoph beunruhigt hat, ist, dass es offensichtlich eine immer aggressiver werdende Gruppe von Menschen gibt, die sich prinzipiell exkludiert fühlt vom liberalen Rechtsstaat und die das Versprechen auf Freiheit und Gerechtigkeit des demokratischen Rechtsstaats als eine Ideologie wahrnehmen, die sie und ihren Lebensstil entwertet. Und dann, glaube ich, war es Habermas wichtig, die Prinzipien der Vernunft und einer vernünftigen Demokratie so zu formulieren, dass sich niemand prinzipiell ausgeschlossen, unterdrückt und entwertet fühlen muss. Also es war dieses Motiv der Integration von Religion, nicht so sehr das Motiv ihrer Funktionalisierung. Es bleibt also auch asymmetrisch. Also die Rede von der Kooperation ist schon so, dass auch die säkulare Vernunft, würde ich sagen, nach wie vor die Standards setzt. Also er spricht ja auch von den kognitiven Herausforderungen für religiöse Bürger. Also die müssen den Vorrang des Rechtsstaates, den Vorrang der Wissenschaft, den das Faktum des religiösen Pluralismus anerkennen. Nun, das ist ihre schwierige Aufgabe, das zu bewerkstelligen. Das ist eigentlich nur eine Steilvorlage für die Notwendigkeit von Theologie in Gesellschaft, finde ich dann. Denn dieses Geschäft also aus der Binnenperspektive einer religiösen Tradition sich ins Verhältnis zu setzen zu rationalen Standards, das können die religiösen Traditionen nur selbst leisten, und das wäre eigentlich die originäre theologische. Aber das kann der Philosoph der religiösen Tradition nicht abnehmen."
Was ist denn der Stand der Dinge in der Befassung von Habermas mit Theologie nach dem letzten Opus magnum? Ich selber habe den Eindruck von zwei "Aha-Erlebnissen". Martin Dürnberger und ich hatten ja die Ehre, dass wir mit Habermas selber in Starnberg ihn besuchen und drei Stunden mit ihm über dieses Buch reden durften. Das war sehr erhellend. Und das eine ist seine Befassung mit Mythos und Ritual/Ritus, durch die er eigentlich den Ball, wie Sie gerade schon sagten, fast zurückspielt an die Theologie. Denn der 'Pfahl im Fleisch der Moderne' bleibt Religion nur, solange Religion nicht eine ausgetrocknete Übung ist. Das war das eine und das andere: Eigentlich hat er in gewisser Weise den theologiegeschichtlichen Job gemacht, in dem er klassische Autoren gelesen hat - Thomas, Luther etc. - und daran aufgezeigt hat, dass der nachmetaphysische Diskurs nicht gegen oder außerhalb, sondern gerade innerhalb der heiligen Hallen der Theologie und der Religion selber geführt wurde...
Schmidt: "Ja, da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Auf der einen Seite ist das ja auch eine Aufwertung nach wie vor des säkularen Denkens, denn fast alles kann die säkulare Vernunft selbst, nicht nur die Welt beschreiben und erklären, sondern auch die Moral fundieren und das Recht rechtfertigen. Dazu braucht es die Religion nicht. Aber was die Religion kann, ist eine bestimmte Art von Solidarität auf rituelle Weise herstellen. Und das vermag der akademische Diskurs oder auch die politische Willensbildung qua Abstimmung nicht. Und das deckt sich jetzt mit den gegenwärtigen Themen: Man hat ja den Eindruck, er glaubt jetzt, mit diesem Buch, so im Wesentlichen alles gesagt zu haben über Religion. Und jetzt ist er ja eher engagiert in diesen Debatten, die die Phänomene des Zerfalls der Öffentlichkeit betreffen, also Themen der Digitalisierung, Vereinzelung, dass sich jeder in seinen Meinungsblasen einhaust und es keinen Diskurs mehr gibt. Das hat damit zu tun, dass diese intermediären Institutionen fehlen, wo wir gemeinsam Auge in Auge, in fleischlicher, leiblicher Präsenz uns austauschen. Und der Verlust an Gemeinde-Vitalität ist auch politisch besorgniserregend. Und da sehe ich den Zusammenhang zwischen den jetzigen Debatten über den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit und Ihre Bemerkungen zum Ritual als dem Beitrag der Religion zur politischen Öffentlichkeit."
Dürnberger: "Die Wahrnehmung, die ich habe, ist, dass Habermas einiges von Theologie und Religion erwartet. Er will aber keine Religionsintellektuellen, sondern tatsächlich aus dem Inneren der Theologie und der Religion Impulse. Es gab solche Impulse immer wieder, und die Erwartung besteht nach wie vor. Aus der Innenperspektive der Religion denkt man sich da vielleicht: Mal schauen, ob wir das überhaupt liefern können... Denn so lebendig ist die Reproduktion von Solidarität im Ritual ja vielleicht doch nicht, wie Habermas meint. Da gibt es die Außenperspektive, die man auch von Politikerinnen und Politikern kennt, die besagt: Kirchen haben immer noch eine große zivilgesellschaftliche Relevanz. Aber aus der Innenperspektive denkt man sich: hinter den Kulissen kracht's. Das ist so einfach nicht. Was macht man nun damit? - Na ja, Habermas würde wahrscheinlich sagen: einen Lernprozess durchlaufen. Und das ist es ja auch, was nach wie vor für Studierende langfristig von Interesse ist. Die katholische Theologie hat im 20. Jahrhundert lange gebraucht, um in der Moderne anzukommen. Und als sie in der Moderne ankommt, hat sie mit Habermas einen idealen Gesprächspartner gefunden: rationalitätstheoretisch fundiert, soziologisch fit, mit Expertise in Entwicklungspsychologie, Sprachphilosophie etc. Das heißt, ich habe eine Reihe von Diskursen, die wir theologisch nachvollziehen müssen, um zu verstehen, wo wir jetzt stehen. Und dann kann man auch mit Habermas genau die Fragen stellen nach dem Zerfall, nach den unvollendeten Projekten der Moderne."
Schmidt: "Ich habe ein gewisses Unbehagen angesichts des Eindrucks, dass sich Habermas jetzt aus der aktiven Debatte über Religion und Theologie zurückzieht, nach dem Motto: Es ist alles gesagt, jetzt seid ihr dran. Also ich glaube - und das habe ich auch an seine Adresse schon mal gerichtet -, dass er auch die Gefahren der Erosion einer Solidarität in der Gemeindepraxis, also die Erosion zum Beispiel von Liturgie durch Digitalisierung und Individualisierung unterschätzt. Und jetzt aus philosophischer Perspektive finde ich diese Arbeitsteilung auch ein bisschen unbefriedigend: Der Philosoph gibt den Rahmen der Rationalität vor. Und jetzt, Theologinnen und Theologen, arbeitet mal den schön inhaltlich... Ich finde auch, die Philosophie müsste sich einen Reim darauf machen, was Religion ist und sie nicht nur normativ von außen begrenzen. Also was Habermas ja für unmöglich hält, ist, einen nachmetaphysischen Begriff von Religion zu entwickeln. Das ist dann immer schon religiöse Philosophie. Und das finde ich ein bisschen unbefriedigend. Kooperation kann nicht nur ein reines Außenverhältnis sein, nicht nur eine funktionale Arbeitsteilung, sondern muss das innere Verständnis der anderen Seite beinhalten."
Esterbauer: "Also ich glaube, es ist wichtig, zwischen Theologie und Religion genauer zu unterscheiden. Wenn wir die Erwartungshaltung von Habermas irgendwie akzeptieren würden, dann wäre dies die erste Aufgabe von Religion - nicht so sehr Liturgie, sondern großflächiger - denn das, wo Solidarität entstehen kann, ist eher interkonfessionell und interreligiös zu denken. Dort haben Religionen quasi eine Bringschuld hätten. Und auf der anderen Seite würde ich mir seitens der Theologie erwarten, dass sie ihre gesellschaftskritische Funktion ernst nimmt. Also nicht nur für die Philosophie 'zu liefern', was eine Gesellschaft braucht, sondern auch Kritik zu formulieren."
Vielen Dank in die Runde für diese Ausführungen, Hinweise und Tauchgänge und tiefen Gedanken. Am Ende, wie anfangs angekündigt, noch ein Hinweis in Sachen Salzburger Hochschulwochen. Denn dort kann man sowohl Martin Dürnberger als auch Thomas Schmid in diesem Jahr live erleben - und zwar Ende Juli, Anfang August. Da geht es nämlich bei den Hochschulwochen um das Thema "Vertrauen - eine kostbare Ressource". Und Thomas Schmid wird dort als Laudator zu hören sein, wenn er den diesjährigen Preisträger des Theologischen Preises der Hochschulwochen, Hans Joachim Höhn, würdigen wird.
Und so bleibt mir am Ende nur noch zu danken fürs Zuhören. Bleiben Sie uns gewogen, lassen Sie uns ein paar Sterne da und empfehlen Sie uns gerne weiter. Herzlichen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.