Feministisch gelesen: Kann man die Bibel gendern?
Fotos: Clarissa Breu/Melanie Mordhorst-Meyer
Podcast vom 19. Juli 2025 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Moderation: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Diesseits von Eden. Heute widmen wir uns der Frage, wie man die Bibel im akademischen wie kirchlichen Kontext feministisch auslegen kann. Ich freue mich sehr, mit zwei Expertinnen sprechen zu dürfen:
Einerseits mit Prof.in Marianne Grohmann, Alttestamentlerin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, und mit der Bibelwissenschaftlerin und Literaturwissenschaftlerin Clarissa Breu.
Herzlich willkommen!
Die erste Frage gleich vorweg: Warum soll, kann oder darf man die Bibel überhaupt feministisch lesen? Ist das erlaubt? Vielen ist womöglich gar nicht klar, dass die Bibel kein abgeschlossenes, festes Konstrukt ist. Wie nähern Sie sich dieser Frage?
Marianne Grohmann: Biblische Texte sind Grundtexte der Menschheit. Sie laden dazu ein, sie immer wieder neu und aus verschiedenen Perspektiven zu lesen. Seit den 1970er-Jahren ist die Frage nach der Ungleichbehandlung von Frauen ein zentrales Thema – und leider immer noch aktuell.
Heute geht es dabei nicht nur um Gleichbehandlung von Frauen, sondern auch um Intersektionalität, also die Vielschichtigkeit von Diskriminierungserfahrungen. Die biblischen Texte zeigen, dass diese Fragen eine lange Geschichte haben – sie begleiten uns seit Tausenden von Jahren. Dabei zeigen sie, wie Menschen in unterschiedlichen Epochen Geschlechterrollen jeweils anders konstruiert haben.
Moderation: Frau Breu, Sie arbeiten interdisziplinär – theologisch wie literaturwissenschaftlich. Wie nähern Sie sich dem Thema feministische Bibellektüre?
Clarissa Breu: Die Frage „Kann man die Bibel feministisch lesen?“ ist berechtigt – immerhin hatten die Autor*innen der Texte keine Ahnung von Feminismus oder Gendertheorie. Manche kritisieren, dass heutige Lesarten anachronistisch seien. Aber man sollte vielleicht eher fragen: Warum sollte man die Texte nicht so lesen?
Geschlechterkonstruktionen gab es schon immer – auch wenn sie damals anders benannt wurden. Theorie will nicht zeitgebunden bleiben, sondern universale Fragen stellen.
Aus der Literaturwissenschaft habe ich gelernt: Texte bedeuten oft mehr, als wir im Moment des Lesens erfassen können. Gerade im Neuen Testament ist das Spannende, dass etablierte Lesarten immer wieder in Frage gestellt werden – das relativiert auch die eigene Deutung.
Moderation: Frau Grohmann, wie arbeiten Sie mit den Urtexten des Alten Testaments, die ja in einem patriarchalen Weltbild entstanden sind?
Marianne Grohmann: Dieses Umfeld müssen wir zur Kenntnis nehmen – aber die Texte laden ein, genauer hinzusehen. Oft haben sie mehr Potenzial, als die Wirkungsgeschichte erkennen ließ.
Ein Beispiel: In Genesis 1 heißt es, Gott schuf den Menschen männlich und weiblich – eine Gleichberechtigung ist im hebräischen Text angelegt. Oder Genesis 2–3: „Adam“ heißt zunächst einfach „Mensch“, nicht „Mann“. Die berühmte Rippe kann auch als „Seite“ oder „Baustruktur“ übersetzt werden. Das sind poetische Texte – keine biologischen Fakten
Exegese und Eisegese – ein künstlicher Gegensatz?
Moderation: Was sagen Sie zum Vorwurf, man lese da etwas in den Text hinein, das gar nicht drinsteht?
Clarissa Breu: Da kommen wir zur Unterscheidung zwischen Exegese (etwas aus dem Text herauslesen) und Eisegese (etwas hineinlesen). Ich halte diese Trennung für problematisch. Es gibt nicht „die eine“ Botschaft, die nur ausgegraben werden muss. Sinn verändert sich mit der Zeit und dem Lesehorizont – beides gehört zusammen.
Marianne Grohmann: Ein Ursprungssinn lässt sich ohnehin nicht exakt rekonstruieren. Auch die Textüberlieferung ist vielfältig. Wir können uns Annäherungen überlegen – was im historischen Kontext plausibel war. Aber die Texte sind zugleich für immer neue Lektüren gedacht. Beides ist nötig: historische Kontextualisierung und gegenwärtige Auslegung.
Perspektiven öffnen: Von David bis Maria Magdalena
Moderation: Wo stehen Sie beide in der gegenwärtigen feministischen Exegese?
Marianne Grohmann: Ich versuche, die ganze Bandbreite der Zugänge zu zeigen – etwa beim Buch Ruth, das sich für viele Lesarten eignet: historisch-kritisch, queer, feministisch. Auch die Männlichkeitsforschung bringt neue Perspektiven. David etwa ist eine schillernde Figur mit Beziehungen zu Frauen und Männern – er weint um Absalom. Auch Joseph weint. Das zeigt, wie Geschlechterrollen konstruiert und historisch wandelbar sind.
Clarissa Breu: Wichtig ist mir, nicht in Stereotypen zu verfallen. Nicht „die Frau ist so, der Mann ist so“. Feminismus bedeutet nicht, Frauen als „besser“ darzustellen, sondern Vielfalt sichtbar zu machen.
Vielfalt der Frauenbilder in der Bibel
Moderation: Können Sie Beispiele für die Vielfalt der Frauenrollen in der Bibel nennen?
Marianne Grohmann: Ja – Eva wurde oft als Urbild der Frau gelesen. Aber auch Sarah und Hagar zeigen soziale Unterschiede. Irmtraud Fischer hat betont, dass Erzmütter oft auf Reproduktion reduziert werden. Gleichzeitig wird hier auch Geschichte als Familiengeschichte erzählt – das betrifft Männer und Frauen.
Es gibt Königinnen wie Ester, Richterinnen wie Deborah, Prophetinnen wie Miriam. Und viele anonyme Frauen ohne Namen. Die Bilder sind vielfältig.
Clarissa Breu: Im Neuen Testament etwa in der Johannesoffenbarung gibt es die Hure, die Mutter und die Jungfrau – stereotype Frauenbilder. Aber selbst da: Die Frau in Kapitel 12 wird als Ursprungsgestalt beschrieben, mit „Same“, einem sonst männlichen Begriff. Maria Magdalena wird zur Zeugin der Auferstehung – als „Nicht-Prophetin“ dient sie Johannes zur Selbstprofilierung.
Verantwortung als Theologin?
Moderation: Spüren Sie eine Verantwortung als Theologinnen, feministische Perspektiven in die kirchlichen Strukturen einzubringen?
Marianne Grohmann: Die biblischen Frauen sind oft sperrig. Aber sie sind Spuren im Kanon, die Mut machen, die Vielfalt der Geschlechter sichtbar zu machen – etwa Hanna oder Hulda.
Clarissa Breu: In der evangelischen Kirche gab es Phasen, wo kaum Frauen in Leitungsfunktionen waren. In einem Synodentext habe ich auf Maria Magdalena verwiesen – als Beispiel, dass ein vielfältiges Zeugnis die Kirche glaubwürdiger macht. Es braucht theologische Reflexion auch über „Unconscious Bias“.
Feministische Exegese: Nische oder Mainstream?
Moderation: Ist feministische Exegese noch eine Nische?
Marianne Grohmann: Das kommt auf den Kontext an. Aber manches, was vor 30 Jahren feministisch erarbeitet wurde, findet sich heute in theologischen Standardwerken. Wichtig ist die Vermittlung – etwa über populäre Bücher wie Ist die Bibel frauenfeindlich? von Siegmann/Eder oder über Literatur wie Bible Badass von Edith Löhle.
Clarissa Breu: Studierende zeigen großes Interesse. Viele wünschen sich mehr Lehrveranstaltungen mit diesen Perspektiven. Es ist ein Thema, das auch die persönliche Identität betrifft.
Moderation: Erleben Sie Vorbehalte gegenüber feministischer Theologie?
Marianne Grohmann: Natürlich gibt es Kontexte, wo das als unwissenschaftlich abgetan wird. Aber in vielen Fachkonferenzen wie der Society of Biblical Literature sind Gender-Panels selbstverständlich. Feministische Exegese ist ein Thema unter vielen – nicht der ganze Fokus, aber ein relevanter Beitrag.
Clarissa Breu: Gerade weil es Vorbehalte gibt, muss man besonders sorgfältig argumentieren. Theorie überlagert die theologische Botschaft nicht – sie kann sie sogar verdeutlichen. Aber das ist oft erklärungsbedürftig.
Persönliche Reibung mit biblischen Texten
Moderation: Gibt es Texte, die Sie am liebsten streichen würden?
Clarissa Breu: Ein Beispiel ist der 1. Timotheusbrief, Kapitel 2: „Eine Frau soll sich still und in Unterordnung belehren lassen.“ Ich bin in einem Milieu aufgewachsen, in dem die „gute Frau“ still und unauffällig zu sein hatte. Dieser Text triggert mich – und zeigt mir gleichzeitig, warum es wichtig ist, laut zu sein.
Marianne Grohmann: Texte streichen würde ich nicht. Aber ich finde es spannend, Gegenstimmen zu finden – etwa zu den Verurteilungen in Levitikus die Beziehung zwischen David und Jonathan oder zwischen Ruth und Noomi. Der biblische Kanon ist ein Diskursraum. Wir führen das Gespräch weiter.
Persönlicher „Badass“-Moment?
Moderation: Jetzt würde ich gern noch mit einer persönlichen Perspektive schließen. Neben mir liegt der Roman Bible Badass von Edith Löhle – ein Buch über rebellische, biblische Frauenfiguren. Deshalb meine Frage: Gab es für Sie in den letzten Jahren so etwas wie einen persönlichen „Badass-Moment“ in Ihrer Forschung? Einen Aha-Moment, eine überraschende Entdeckung, eine Figur, die Sie neu gelesen haben?
Marianne Grohmann: Zunächst einmal musste ich mir den Begriff „Badass“ überhaupt erst erschließen – durch das Buch. Es geht dabei wohl um Frauen, die sich nichts gefallen lassen, sich nicht verbiegen. Vielleicht könnte man sagen: rebellische Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Aber mir fällt jetzt nicht ein einziger, klarer Moment ein. Das Thema begleitet mich einfach beständig.
Clarissa Breu: Ich denke dabei an Maria Magdalena. In der Ostergeschichte erkennt sie den auferstandenen Jesus zunächst nicht. Das wurde oft so interpretiert, dass sie „es nicht kapiert hat“. Aber ich fand es spannend zu zeigen: Gerade dieses vermeintliche Missverstehen offenbart eine tiefe Wahrheit. Es zeigt, dass Jesus jetzt „anders“ ist als vorher. Für mich war das so ein Moment, wo ich dachte: Warum wird hier eigentlich wieder einer Frau unterstellt, sie sei naiv? Vielleicht sieht sie in dem Moment sogar mehr als andere.
Einsteiger:innen-Tipps für feministische Bibellektüre
Moderation: Zum Schluss: Was würden Sie Einsteiger:innen empfehlen?
Marianne Grohmann: Das Buch Ist die Bibel frauenfeindlich? ist ein guter Einstieg – es stellt klassische Themen verständlich dar. Auch die Bibel in gerechter Sprache kann sensibilisieren. Übersetzungen sind immer auch Interpretationen – daher lohnt es sich, mehrere nebeneinanderzulegen.
Chapters
00:00 Einführung in die feministische Bibelauslegung
02:58 Die Relevanz der feministischen Lesart
05:57 Intersektionalität und Geschlechterrollen in der Bibel
08:59 Die patriarchalen Strukturen der Bibel
11:50 Herausforderungen der Exegese
14:47 Die Entwicklung der feministischen Theologie
17:52 Vielfalt der Geschlechterkonstruktionen
20:45 Schlussfolgerungen und Ausblick
20:23 Vielfalt der Frauenperspektiven in der Bibel
21:00 Biblische Frauenbilder und ihre Widersprüche
22:23 Die Rolle der Frauen im Neuen Testament
23:44 Verantwortung der Theologinnen gegenüber Frauen in der Kirche
25:06 Feministische Exegese und ihre Herausforderungen
27:05 Widerstand gegen feministische Exegese
29:06 Interesse der Studierenden an feministischer Exegese
30:07 Vorurteile gegen feministische Exegese
31:42 Umgang mit schwierigen biblischen Texten
36:31 Persönliche Badass-Momente in der Forschung
38:31 Einstieg in die feministische Exegese
"Diesseits von Eden. Gespräche über Gott & die Welt" ist der Podcast der Theologischen Fakultäten in Österreich und Südtirol.