Mehr als alles, was der Fall ist: Jürgen Habermas und die Theologie
Foto: Wolfram Huke, http://wolframhuke.de, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Podcast vom 9. Februar 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Vor etwas mehr als einem Jahr ist ein neues Buch von Jürgen Habermas erschienen. Das allein wäre wohl noch kein zwingender Grund, dem einen eigenen theologisch-religiösen Podcast zu widmen. Doch das Buch, das inzwischen in dritter Auflage erschienen ist, hat es in sich. Und dies nicht nur für Philosophen, sondern auch für religiös interessierte Menschen. Denn was der inzwischen 90-jährige Meisterdenker da entfaltet, ist nichts Geringeres als eine groß angelegte Geschichte des säkularen Denkens, das sich in Habermas Lesart durch die Jahrhunderte hindurch aus seinem religiösen Würgegriff befreit hat.
"Auch eine Geschichte der Philosophie" heißt das Werk, und es umfasst 1.800 Seiten. Hartes Brot, aber nahrhaftes Brot auch für die Theologie. Warum? Das habe ich österreichische Theologinnen und Theologen gefragt, die sich schon lange mit dem Denken von Habermas auseinandersetzen. Martin Dürnberger etwa, Fundamentaltheologe an der Uni Salzburg, betont zunächst einmal den Spaßfaktor!
"Mein erster Impuls auf die Frage ist eigentlich, dass es unglaublich Spaß macht. Da ist einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts, der bislang sehr, sehr systematisch gearbeitet hat. Und der wirft jetzt einen Blick in die Theologiegeschichte, in die Geistesgeschichte im christlichen Westen - und er liest nochmal Thomas von Aquin und Augustinus. Und er sieht sich Johannes Duns Scotus an... Es ist einfach spannend, ihm dabei über die Schulter zu schauen, ihm beim Denken zuzusehen und zu sehen, was er daran spannend findet. Was nehmen wir vielleicht nicht zur Kenntnis, aber was zieht er daraus? Und warum findet er das spektakulär, was in diesen jeweiligen Etappen der Geschichte funktioniert? Also es macht einfach Spaß, das zu lesen."
Religion als Ernstfall des Lebens
1.800 Seiten Spaß? Nein. Natürlich ist es auch harte Arbeit. Und die hat sich auch die Innsbrucker Fundamentaltheologin Michaela Quast-Neulinger angetan. Denn Habermas stellt für sie insgesamt eine unausweichliche Größe für jedes aufrichtige Bemühen der Theologie dar, öffentliche Relevanz zu bekommen, sich in den Diskursen der Gegenwart Gehör zu verschaffen:
"Sein jüngstes Werk 'Auch eine Geschichte der Philosophie', erscheint mir deswegen so wichtig, weil er darin Religionen wirklich als epistemische Ordnungen ernst nimmt, als wirkliche Wissensträger ernst nimmt. Sie haben einen Anspruch, den die Gläubigen auch in konkreten sozialen Ordnungen umgesetzt wissen wollen. Religion ist bei Habermas nicht ein bloßes Hobby, ein Sondergut, sondern sie ist wirklich der epistemische Ernstfall, der zum Leben ganz Wesentliches beiträgt."
Bevor wir genauer ins Auge fassen, wie Religion als Ernstfall des Lebens von Habermas durchdacht und entwickelt wird, sollten wir aber noch einen Schritt zurück machen und kurz einordnen, wie sich Jürgen Habermas in seiner Philosophie überhaupt zur Religion verhält. Also nicht erst seit diesem großen neuen Buch. Tatsächlich nämlich arbeitete sich Habermas immer wieder an der Frage ab, welche Gehalte, welche semantischen Potenziale, wie er es nennt, es sein könnten, die Religion in sich birgt und die für eine säkulare, moderne Gesellschaft von Nutzen sein können. Denn die Moderne drohe im Blick auf ihre moralischen Ressourcen leerzulaufen, auszutrocknen, wenn sie nicht zumindest eine Ahnung von einem 'Mehr', einem Überschuss an - sagen wir es ruhig christlich - Hoffnung bewahrt. Mit den Worten des evangelischen Wiener Theologen Christian Danz hört sich das so an:
"Der Hauptpunkt einer Auseinandersetzung oder warum das für die Theologie lohnt, sich mit Habermas auseinanderzusetzen, besteht darin, dass er eben ein prononciertes Programm eines nachmetaphysischen Denkens vertritt. Das heißt, dass er sich darum bemüht, nach dem Zusammenbruch der alten Metaphysik, der Kosmologie durch die Kantische Kritik und durch die Kritik der Aufklärung, dass er sich darum bemüht, eben Wege zu finden, wie geltende Wahrheit und geltende Werte begründet werden können. Und das Besondere, das steht quasi noch im Vorfeld zu dem großen Opus, ist natürlich, dass er die Kantische Transzendentalphilosophie, also ein Denken, in dem das Prinzip quasi im denkenden Ich gesucht wird, durch die Kommunikation ersetzt; also der Schritt von der Transzendentalphilosophie zur Kommunikationstheorie, die die Grundlage bildet für die Begründung von Normen. Ich glaube, das ist der wichtigste Aspekt. Jedenfalls aus meiner Sicht. Und er hat mich auch immer wieder fasziniert in der Lektüre von Habermas oder auch in die Diskussion mit ihm. Und genau diese Position hat er ja in verschiedenen Formen oder in verschiedenen Werken versucht, nochmal in den Entwicklungsprozess und in die Entwicklung der Geistesgeschichte Europas hineinzustellen. Erstmals eigentlich in der 'Theorie des kommunikativen Handelns'. Auch das Buch präsentiert eine Genese, wenn man so möchte, der Moderne. Und in diesem späten Hauptwerk 'Auch eine Geschichte der Philosophie' hat er jetzt nochmal genau diese Genese nachgezeichnet. Und diese Genese ist ja eigentlich eine Genese seines eigenen nachmetaphysischen Denkens."
Es geht Habermas in seinem neuen Werk also um alles, was der Mensch erkennen und mit seiner Vernunft durchdenken kann - aber eben nicht nur instrumentell, sondern darum, wie der Mensch Bedeutung schafft, wie er auf die großen Fragen des Lebens vernünftig Antwort gibt. Und da spielt eben auch Religion eine Rolle. Um das aufzuzeigen, arbeitet sich Habermas, einem Maulwurf der Vernunft nicht unähnlich, durch Epochen und Zeitalter, durch historische Quellen und längst verflossene Diskussionen von der sogenannten Achsenzeit über Thomas von Aquin, Martin Luther bis zu Kant und Hegel. Ein Streifzug durch die Geschichte der abendländischen Philosophie unter dem großen Vorzeichen Glauben und Wissen. Noch einmal Martin Dürnberger:
"Das grundsätzliche Thema, glaube ich, ist kein neues. Das grundsätzliche Thema ist die Frage nach der Vernunft. Was heißt es, ein 'animal rationale' zu sein, würde man ganz klassisch formulieren. Und da gibt's ja Anfang der 80er zwei Bände - die 'Theorie des kommunikativen Handelns'. Da gibt's, wenn man so will, eine systematische Antwort auf diese Frage, was es heißt, ein zur Rationalität fähiges Wesen zu sein. Was heißt es, ein Mensch zu sein? Und jetzt liefert er darauf, würde ich sagen, nochmals eine Antwort. Aber die ist stärker geschichtlich unterfüttert. Und sie nimmt den okzidentalen Denkpfad auf, sprich: das Denken, so wie es sich in der Christentumsgeschichte im Westen, in Europa herausgeprägt hat. Weil er sagt: wenn ich verstehen will, was Rationalität ist, dann muss ich im Blick haben, dass das, was wir darunter verstehen, ja nicht geschichtslos ist, sondern dass sich das entwickelt hat eben aus einem Diskurs über Vernunft und Glaube oder Vernunft, Wissen und Glaube heraus."
Tauchgänge zum Wurzelgrund abendländischer Philosophie
Anders gesagt: Habermas versucht nichts Geringeres in seinem neuen Werk, als eine Rekonstruktion der Geschichte säkularen Denkens insgesamt. Dabei arbeitet er sich nicht nur akribisch durch philosophische Klassiker, sondern er liest auch religiöse Klassiker und theologische Klassiker wie Thomas von Aquin oder Luther als Philosoph neu. Sein Hauptinteresse gilt dabei aber nicht der Religion oder gar der Theologie, sondern der Klärung des dunklen Wurzelgrundes abendländischer Philosophie. Die an der katholischen Privatuniversität Linz lehrende Fundamentaltheologin Isabella Bruckner nennt diese Rekonstruktion eine 'motivierte Rekonstruktion', also eine Geschichte, die einem speziellen Motiv folgt:
"Seine Lektüre der Geschichte, so könnte man sagen, ist also entsprechend motiviert, in einer bestimmten Weise gefärbt und wird den einzelnen besprochenen Autoren und auch dem Verlauf als Ganzem sicher nicht immer ganz gerecht. Deutlich wird dies z. B. in den Auslassungen, also darin, welche Denker und vor allem auch welche Denkerinnen in seiner Geschichte eben nicht vorkommen. Die Theologie könnte sich aber durch Habermas auch noch einmal neu herausfordern lassen und sich die Frage stellen, welches Verständnis von Geschichte ihrer Botschaft gerecht wird und welcher Blick, welche Perspektive auf Geschichte der biblischen Erfahrung entspricht. Vor allem aber stellt Habermas und die Theologie heute die Frage, ob und wie sich aus ihrem Erbe eine nachmetaphysische Theologie entwickeln lässt und welchen Beitrag die Theologie und die Religionsgemeinschaften zu einem gelingenden Zusammenleben in einer postsäkularen Gesellschaft leisten können."
Es ist dies also der groß angelegte Versuch einer Geschichtsphilosophie, könnte man sagen, also einer Rekonstruktion von Entwicklungen der Geschichte des modernen säkularen Denkens. Signalworte, die Theologen-Herzen höher schlagen lassen, habe ich bereits genannt: Es sind dies Autoren wie Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Luther, und auch Augustinus interessiert Habermas. Für den an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Graz lehrenden Philosophen und Habermas-Experten Reinhold Esterbauer eine erhellende Lektüre:_
"Aus meiner Sicht ist es bei der Rezeption von Augustinus bei ihm so, dass Habermas sehr schön zeigen kann, wie von Augustinus der Versuch gemacht wird, alles noch einmal unter einer jetzt transzendenten, nicht transzendentalen, aber transzendenten Perspektive aus zu denken. Man würde sagen: Na klar, das macht ja die Theologie überhaupt. Aber auch dort bei Augustinus allmählich ganz am Anfang zu versuchen, alles Mögliche reinzubringen, nämlich nicht nur die spezifische Frage nach Gott, sondern ganz früh im Krieg, im Christentum. Die Bereiche, die sonst heute aus profanen Bereiche sind, von dieser Perspektive auszulesen, bis hin eben in der Unterscheidung civitas dei civitas Terrine, also auch so was wie eine Staatsphilosophie aufzubauen oder statt Theologie aufzubauen. Man könnte fast sogar sagen, so etwas wie eine politische Theologie aufzubauen, also wirklich herzugehen und zu sagen 'Ich kann das aus dieser einen Perspektive, und zwar mit der Perspektive, die die Transzendenz inkludiert und zwar nicht nur inkludiert, sondern ins Zentrum setzt, von dort her denken'. Also das, was mich dort fasziniert hat, war zu zeigen, wo schon im Mittelalter die Risse aufbrechen, die dann für die Neuzeit wichtig werden. Was jetzt das Auseinanderklaffen von Religion auf der einen Seite und Staat auf der anderen Seite oder Glauben und Vernunft aufbrechen. Der Begriff des Zerfalls des Das hat mich sehr fasziniert."
Und auch Martin Dürnberger, der Habermas zu einem ausführlichen Gespräch über das Buch im vergangenen Jahr treffen konnte, sieht in der Augustinus-Lektüre von Habermas interessante Aspekte, die auch für die Theologie neue Impulse bereit hielten:
"Das, was ich z. B. hoch spannend fand, ist seine Augustinus-Lektüre, weil er hier sieht: Da kommen mindestens zwei große Linien zusammen - eine griechische Denk Denktradition und eine christliche Denktradition. Und er fragt sich, ob es bei Augustinus etwas gibt, was tatsächlich neu ist, was eine echte Entdeckung ist, von der wir heute auch noch zehren; philosophisch nämlich, wie er es nennt, die epistemische Autorität der Beteiligten oder Innenperspektive. Also dass wir, wenn wir Rationalität verstehen wollen, uns nicht nur orientieren können an einer Beobachterperspektive, also dass man sich möglichst zurücknimmt und möglichst neutral beobachtet, was der Fall ist, sondern Rationalität auch als etwas begreift, was zu tun mit Innenperspektive, mit einer Beteiligten-Perspektive, wo ich selbst engagiert bin. Man kann sich das vielleicht an einem Beispiel veranschaulichen: wenn wir Menschen sehen, die ein Gesellschaftsspiel wie etwa 'Die Siedler von Catan' spielen, dann kann ich das Spiel verstehen durch die reine Beobachtung, die ich mache, weil ich bestimmte Muster erkenne. Aber ich kann das Spiel vielleicht sogar noch besser und anders verstehen, wenn ich selbst mitspiele und in einer Beteiligten-Perspektive engagiert bin. Das spricht nicht dagegen, dass ich da noch rational engagiert bin, sondern vielleicht kann ich aus der Beteiligten-Perspektive sogar besser verstehen, was die entscheidenden Moves sind, worum es da eigentlich geht. Und das ist vielleicht das, was man als epistemische Autorität der beteiligten Perspektive umschreiben kann. Aus der Innenperspektive können mir Dinge aufgehen, die ich in der Beobachterperspektive gar nicht hinreichend oder angemessen würdigen kann."
Inspirierende Aspekte bei Augustinus und Liturgie
Inspirierend empfinden die Theologinnen und Theologen auch die Ausführungen von Habermas zum Thema Liturgie, also zur konkreten gottesdienstlichen Praxis. Eine nicht defätistische säkulare Vernunft wisse darum, so schrieb Habermas bereits in früheren Publikationen, dass die Entweihung des Sakralen in den Religionen selbst ihren Anfang nahm, indem die Religion nämlich selber dazu beitrug, dass Magie entzaubert und der Mythos überwunden wurde. Dazu noch einmal Isabella Bruckner:
"Überraschend ist sicherlich, wie stark Habermas in seinem jüngsten Buch den religiösen Ritus beleuchtet. Deutlich wird dabei, dass ihm, der sich selbst als religiös unmusikalisch bezeichnet, das Rituelle in gewisser Weise fremd bleibt. Zugleich hält er jedoch fest, dass die Religionen ohne diesen, wie er sagt, archaischen Kern der liturgischen Praxis in der Spätmoderne kaum Überlebenschancen haben. Gerade die liturgische Praxis ist es in seinen Augen, die - wie er es formuliert - die Erinnerung an ein starkes Transzendenzbewusstsein wach hält. Stellt sich aber dadurch an die Theologie nicht die Herausforderung, ihr Denken gerade auch in Bezug auf bzw. ausgehend von der Feierpraxis für unsere Epoche neu zu erschließen, ohne sich deshalb wiederum allein in einer religiösen Binnensprache zu bewegen?"
Womit sich abschließend noch die Frage stellt: Alles rosig, alles gut? Aus Sicht der Theologie formuliert: ist Habermas gar 'fromm' geworden auf seine alten Tage? Nein, natürlich nicht. Er bleibt durch und durch ein Denker der Aufklärung. Und als solcher agiert er mit Vorbehalten gegen die Religion, die er auf etwas 'Opakes', etwas dunkel Schillerndes verkürzt. So jedenfalls die Kritik von Christian Danz, der einen verkürzten Religionsbegriff am Werke sieht:
"Der säkulare Staat und die säkulare Moderne ist eben angewiesen auf diese Ressource Religion. In diesem Religionsbegriff oder dem Religionsverständnis, was dem zugrunde liegt, dass die Religion irgendwie sperrig sein muss gegenüber der modernen Gesellschaft und ihrem säkularen Selbstverständnis. Denn nur so, wenn sie sperrig ist gegenüber der Vernunft, wenn sie nicht selbst Vernunft sein will, dann kann sie irgendwelche semantischen Potenziale oder Bedeutungsüberschüsse liefern, die auch die moderne Gesellschaft braucht. Auf der anderen Seite darf aber auch die Religion nicht zu moderne-kritisch sein. Da ist eine gewisse Ambivalenz in diesem Religionsverständnis. Ich habe das kritisiert als ein substanzielles Religionsverständnis, mit dem er arbeitet; als ob die Religion etwas wäre, wo ein besonderes Geheimwissen überliefert ist, was sie, was auch der Staat braucht oder die die autonome Gesellschaft braucht. Ich würde da eher ein anderes Bild favorisieren und sagen, es stehen einfach verschiedene Sichten der Welt nebeneinander."
An's philosophisch "Eingemachte" geht auch die Kritik von Johann Schelkshorn, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien Christliche Philosophie lehrt:
"Ein wichtiger Impuls von Habermas' Theorie der Moderne für das christliche Denken scheint mir darin zu liegen, dass Habermas Rationalitätsstandards der Moderne klar benennt, die Religionen nicht unterbieten dürfen. In der Friedenspreisrede 2001 nannte er drei Bedingungen: erstens die reflexive Bearbeitung der Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionen; zweitens die Akzeptanz moderner Wissenschaft und drittens die Affirmation des menschenrechtsbasierten Verfassungsstaates. Wenn Gläubige diesem dreifachen Reflexionsschub sich verweigern, entfalten religiöse Gemeinschaften, wie Habermas zu Recht warnt, in pluralistischen Gesellschaften ein destruktives Potenzial. Dennoch enthält Habermas Theorie der Moderne gerade in ihren geschichtlichen Rekonstruktionen auch zahlreiche Angriffsflächen. Um zunächst einen Aspekt hervorzuheben: Der Begriff des Säkularen oder Nachmetaphysischen schillert zumindest zwischen drei Bedeutungen: säkular kann schlicht dem Primat der Vernunft, d. h. den Verzicht auf eine autoritäre Berufung, auf eine göttliche Offenbarung meinen. Zweitens kann säkular einen methodischen Atheismus bezeichnen. Und drittens kann säkular auch als Absage an jede Art von Metaphysik und Religion verstanden werden. Nun ist Habermas zuzugestehen, dass eine pluralistische Gesellschaft nicht auf offenbarungstheologischen Prämissen aufbauen kann. In seiner Genealogie nach metaphysischen Denkens entlarvt jedoch Habermas, inspiriert von Feuerbach, metaphysische und religiöse Weltbilder insgesamt als Projektionen der Lebenswelt. Habermas steht daher einer anspruchsvollen Religionsphilosophie, wie seine deutliche Abgrenzung zu Jaspers zeigt, ablehnend gegenüber. Damit droht jedoch, das nachmetaphysische Denken letztlich doch in einen nicht nur methodischen Atheismus zu münden. Und dies zeigt sich z. B. in seiner Deutung von Kierkegaard, der das freiheitliche Selbstverhältnis des Menschen in einer sie gründenden, transzendierenden Macht verankert hat. Nun muss man diese Macht nicht mit Kierkegaard christlich auslegen. Das würde ich Habermas zugestehen. Doch Habermas schlägt eine säkulare Lesart vor, die die religionsphilosophische Dimension von Kierkegaards Subjektphilosophie überhaupt reduktionistisch einzieht. Denn die gründende Macht, von der Kierkegaard spricht, kann nach Habermas nachmetaphysisch mit dem anonymen Logos der Sprache rekonstruiert werden. Nun, damit drohen alle Fragen von Religion und Metaphysik, und ich betone bereits die Fragen, noch gar nicht die Antworten, suspendiert bzw. aus einem, wie mir scheint, zu engen Begriff von Philosophie eliminiert werden."
Michaela Quast-Neulinger nimmt in ihrer abschließenden Kritik den Grundgestus des Aufklärers Habermas ins Visier. Ist das nicht vielleicht ein wenig zu optimistisch, dieses Grund-Credo des kommunikativen Handelns, diese Grundüberzeugung, dass Übersetzungen gelingen können zum Nutzen beider Seiten?
"Schwierig wird es in puncto Idealismus. Mir scheint, dass die Position von Habermas fast zu idealistisch ist, um in Realität umgesetzt zu werden. Wie gehen wir mit jenen um, die sich diesem Vorschlag eines öffentlichen Vernunftgebrauchs und vor allem der Übersetzung zwischen religiösen und säkularen Positionen verweigern? Wo sind jene Orte heute, wo diese Einübung in die epistemische Demut, in vielleicht auch die Empathie, das Einfühlungsvermögen geschult werden können? Und was mir besondere Sorge bereitet ist: wir leben in einer Zeit zunehmender Blasenbildung, wo diese große Zuversicht von Habermas, dass die Besetzung möglich ist zwischen unterschiedlichsten Diskursen, dass diese Möglichkeit angesichts dieser Blasenbildung ja fast utopisch geworden ist."
Wem das jetzt alles Geschmack auf mehr gemacht hat. Das heißt Geschmack auf 1.800 geballte Seiten Habermas, dem seien die beiden Bände "Auch eine Geschichte der Philosophie", erschienen bei Suhrkamp, sehr empfohlen.