20 Jahre 9/11: Religion und Gewalt als bleibende theologische Hypothek
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Podcast vom 11. September 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
"Good evening. Today, our fellow citizens, our way of life, our very freedom came under attack in a series of deliberate and deadly terrorist acts. The pictures of airplanes flying into buildings, fires burning, huge structures collapsing have filled us with disbelief, terrible sadness and a quiet, unyielding anger."
Mit diesen Worten wandte sich Präsident Georg W. Bush am 11. September 2001 an die US-amerikanische Bevölkerung – und an die ganze Welt. Zwei Flugzeuge waren zuvor in die Zwillingstürme des World Trade Centers gerast, ein weiters auf das Pentagon gestürzt. Ein Terroranschlag, dessen Folgen bis heute geopolitisch spürbar sind und der daher auch ohne Zweifel als historisch bezeichnet werden darf. Ein Anschlag, der auch religionspolitisch und theologisch nicht folgenlos blieb. Und damit in den Fokus unseres Podcasts "Diesseits von Eden" rückt, zu dem Henning Klingen Sie herzlich begrüßt.
Persönliche Erinnerungen an den 11. September 2001
Wenn man nach 9/11 fragt, so ruft das bei allen Gesprächspartnern zunächst ähnliche Reaktionen hervor: Man erinnert sich sehr konkret an das zurück, was man damals getan, gesehen, empfunden hat. So auch meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in diesem Podcast:
"Ich kam mit unseren Kindern aus dem Kindergarten zurück nach Hause und meine Frau sagte: 'Schau mal, ist nicht wahr!' Und dann sah ich, wie im Fernsehen die Ikonen der amerikanischen Macht gewissermaßen kollabierten, weil die Flugzeuge da reinrasten. Ja, unglaublich." (Jan-Heiner Tück)
"Dieses Ereignis hat bis heute meine berufliche Laufbahn ganz stark geprägt." (Wolfgang Palaver)
"Von den Anschlägen habe ich erfahren, wie ich gerade mit meinem damals neuen Freund und heutigen Ehemann am Weg ins Kino war. Ich erinnere mich, es war ein warmer Herbsttag und alle Menschen um uns herum waren fassungslos." (Claudia Paganini)
"Ich war in der Schule, bin nach Hause gekommen, machte gerade Hausaufgaben und wollte parallel den Fernseher einschalten. Immer wieder dieselben Bilder: Flugzeuge, die in Hochhäuser hineinfliegen, dann die Staubwolke, die nach dem Einschlag aus den Twin Towers ausgetreten ist. Und ich habe damals noch nicht die Dimensionen von dem verstanden, was da gerade passiert." (Benedikt Collinet)
"Ich bin an diesem Tag mit 31 Frauen zu einer Begegnungsreise in den Libanon aufgebrochen. Als wir ankamen am Flughafen hatte ich biblische Reisen am Telefon, die mich informiert haben, was in New York passiert ist und gefragt haben, was wir als Reisegruppe tun wollen. Ich bin heute noch stolz darauf, dass die gesamte Reisegruppe gesagt hat 'Jetzt sind wir hier. Jetzt führen wir sie auch durch.'" (Ulrike Bechmann)
"Beim Betrachten der Fernsehbilder damals war mein stärkster Eindruck: Das bedeutet für die Welt nichts Gutes - und das wird die Welt verändern." (Alois Halbmayr)
Wolfgang Palver, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Innsbruck, war ein theologischer Kommentator der ersten Stunde. Medial viel gefragt und gehört, weil er seit über dreißig Jahren das Thema Religion und Gewalt beforscht.
"Das Erste, was mir klargeworden ist: dass wir zwar sehr viel über Gewalt und Religion nachgedacht haben, aber z.B. uns gar nie intensiver mit der Frage des Islams auseinandergesetzt haben. Und die nächsten Jahre waren dann in meiner Arbeit davon geprägt, das nachzuholen und dieser Frage genauer nachzugehen. Das Erste, was ich getan habe, war, dass ich intensiv Schriften von Mahatma Gandhi studiert habe, weil er sich ja damals in seiner Zeit in Südafrika und Indien intensiv mit den verschiedensten Religionen, auch dem Islam auseinandergesetzt hat. Und es war mir eine große Hilfe zu sehen, dass Mahatma Gandhi im Islam grundsätzlich eine Religion des Friedens gesehen hat, obwohl er natürlich auch mit islamistischer Gewalt wie auch mit Gewalt anderer Religionen in seiner Zeit konfrontiert war. Aber er konnte sehr gut unterscheiden, was in dem Sinn genuin diesen Religionen, vor allem dem Islam entspricht und was in dem Sinn Perversionen dieser Weltreligionen darstellen."
Gandhi – das erscheint Palaver bis heute eine mögliche friedensethische Antwort auf die Herausforderung, die sich seit dem 11. September mit einem Schlag stellte. Aber es galt auch, den Islam selber neu und intensiver in den Blick zu nehmen:
"Es ist wichtig, hier noch einmal zurückzublicken und festzuhalten, dass tatsächlich der Islam als negativer Begriff, als eine negative Religion in die öffentliche Debatte gekommen ist. Das hat mich und meine Kolleginnen und Kollegen über mehrere Jahre intensiv beschäftigt. Und wir konnten festhalten, dass der Islam wie Judentum und Christentum sich klar von den archaischen frühen Religionen deutlich unterscheidet, weil es auch im Islam darum geht, die Opferung unschuldiger Opfer zu überwinden. Dass aber die Gefahr für alle abrahamitischen Religionen darin besteht, aus dieser Identifikation mit dem Opfer dann neue Gewalt zu generieren, wenn diese Parteinahme für die Opfer nicht mit dem Gedanken der Vergebung zusammengebracht wird, der zwar zentral in den heiligen Schriften dieser drei Religionen zu finden ist, aber in der konkreten Praxis dieser Religionen oft vergessen wird und dann zur Gewalt antreibt."
Monotheismus unter Generalverdacht
Ähnlich sieht das auch sein Wiener Kollege, der Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück. Bei der Suche nach den Quellen des Gewaltpotenzials und dessen Bändigung in den Religionen geht Tück jedoch nicht von René Girard aus, wie Palaver und ein ganzes Wissenschaftler-Team an der Uni Innsbruck, sondern von Thesen des Ägyptologen und Kulturwissenschaftlers Jan Assmann:
"Die Diskussion um die Assmann-Thesen, also dass der biblische Monotheismus unter Gewalt Verdacht steht, die haben natürlich durch 09/11 Rückenwind bekommen; und die Frage also, ob jetzt die Offenbarungsreligionen durch ihre Wahrheitsansprüche ein semantisches Dynamit mit sich führen, dass quasi hier im Islamismus grausame Realität geworden ist - das war schon plötzlich eine Frage, die im Raum stand. Und es reichte nicht, hier mit Phrasen zu kommen: 'Ja, das Christentum ist eine Religion der Liebe, des Gewaltverzicht und hat damit nichts zu tun', sondern es wurde schon die Frage nach der potenziellen Intoleranz von religiösen Wahrheitsansprüche neu auf die Agenda gebracht."
Und diese Agenda ist bis heute nicht erschöpfend abgearbeitet: Immer wieder – zuletzt im Kontext des Anschlags in Wien im November 2020 – haben Theologen wie Tück darauf hingewiesen, dass eine Revision der koranischen Quellen religiös legitimierter Gewalt aussteht – und zwar seitens der islamischen Theologie selbst:
"Man hat natürlich nach dem 11. September eine ganze Serie von dschihadistischen Attacken erlebt, die diese Frage nochmal neu aufgeworfen haben: Wie sieht das im Islam aus? Wie kann man reformwillige Kräfte stärken, die ein Antidot gegen den Dschihadismus darstellen? Aber dieses Problem der fundamentalistischen Strömungen im Islam, die sich herausgefordert sehen durch die liberale Kultur des Westens - dieses Problem wird uns noch lange erhalten bleiben. Insofern ist das 20-Jahr-Gedenken an 9/11 ein Anlass, weiter über diese Fragen nachzudenken, die man sicher auch interdisziplinär bearbeiten muss: politologische, psychologisch, soziologisch, aber eben auch theologisch."
Ikonen des Terrors
Aus einem ganz anderen Antrieb und zugleich vor einem ganz anderen biografischen Hintergrund befassen sich die jungen TheologInnen Claudia Paganini und Benedikt Collinet mit dem Thema: Paganini, die lange an der Universität Innsbruck christliche Philosophie gelehrt hat und inzwischen Sozialethik an der Hochschule für Philosophie in München lehrt, war bei den Anschlägen 23 Jahre alt und stand am Beginn ihrer Habilitation. Sie interessierte in Folge wissenschaftlich vor allem die mediale Inszenierung und Rezeption des 11. September 2001:
"Dramaturgisch gesehen waren die Twin Towers das perfekte Ziel: Terroristen haben ja das Problem, dass sie ihre Pläne einerseits geheim halten müssen, andererseits die größtmögliche Wirkung erzielen wollen. Mit den Twin Towers ließen sich beide Ziele realisieren. Denn in dem Moment, in dem das erste Flugzeug in den ersten Turm einschlug, richteten sich alle verfügbaren Kameras auf den zweiten Turm und zeichneten den zweiten Einschlag live auf. Damals waren innerhalb weniger Minuten alle Foto- und Filmkameras im Umfeld der Twin Towers ausverkauft."
Tatsächlich wurden die Bilder der von Rauchschwaden umzogenen Zwillingstürme, die nach dem Einsturz verbliebenen wenigen Stahl-Gerippe, die in den Himmel ragten, und die Bilder der Feuerwehrleute, die versuchten, die Menschen aus den Türmen zu lotsen und zu bergen, zu Ikonen des Terrors:
"Der Anschlag auf die Twin Towers ist mit Abstand der am meisten durch Bildmaterial dokumentierte. Aus medienphilosophischer Perspektive fällt dabei auf, dass, obwohl es so viele Bilder und Filmsequenzen gegeben hätte, immer nur fünf oder sechs Motive gezeigt wurden. Ganz zentral ist das Motiv der Feuerwehrleute, die auf Ground Zero eine Fahne hissen. Dieses Bild erinnert unmissverständlich an den 23. Februar 1945 und an das damals entstandene Bild, auf dem sechs US-Soldaten zu sehen sind, die auf der Insel Iwojima im Pazifik die amerikanische Flagge hissen. Die Ikonografie, die dabei entstanden ist, spricht eine deutliche Sprache: Sie inszeniert die USA nämlich uneingeschränkt als Opfer und ruft Erinnerungen wach an den letzten sozusagen gerechten Krieg der USA, nämlich den Pazifik-Krieg. Interessant ist, dass sich europäische Medien einer ganz anderen Ikonografie bedient haben: Hier wurden beispielsweise Bilder von Menschen gezeigt, die vor den herunter stürzenden Trümmern fliehen. Diese Bilder erinnern stark an den Vietnamkrieg und an das preisgekrönte Foto von einem nackten Mädchen, das aus einer Napalmwolke flieht. Das ist für die Rezeption durchaus bedeutsam, denn im Vietnamkrieg war die Rolle der USA weit weniger rühmlich als im Pazifik-Krieg. Durch die Art und Weise also, wie und welche Bilder ausgewählt wurden, wurden die Rezipienten in den USA wie in Europa klar in Richtung einer bestimmten Interpretation gelenkt."
Unter ständigem Rechtfertigungsdruck
Der an der Universität Innsbruck lehrende Bibelwissenschaflter Benedikt Collinet war am 11. September 2001 gerade mal 12 Jahre alt. Für ihn ist die Welt daher quasi per se eine Welt nach 9/11. Und mehr noch als bei seinen Vorrednern prägte ihn der 11. September daher auch persönlich bzw. biografisch:
"Für mich als Kind von zwei TheologInnen, der auch in der Schule immer schon als religiöser eingestuft worden ist, waren das teilweise sehr harte Jahre: Viel Anfragen, viel Kritik, viel Verlangen danach, dass ich etwas begründe, dass ich etwas erkläre: Warum tun die Muslime dies und das? Warum gibt es christlich motivierte Gewalt? Kreuzzüge, Hexen, die ganzen Klassiker natürlich permanent und in der Art und Weise, wie Jugendliche sich das gegenseitig entgegenschleudern. Das war einer der Gründe, der mich motivierter Theologie zu studieren: Antworten zu finden und zu reflektieren über das, was ich erlebt und erfahren habe."
Auch wenn er als Bibelwissenschaftler gewohnt sei, eher in Jahrhunderten als in 20-Jahr-Schritten zu denken, so hat doch auch Collinet eine klare Vorstellung davon, was von seinem Fach, der Bibelwissenschaft, erwartet wird, worin ihre Aufgabe auch 20 Jahre nach "dem Ereignis" besteht:
"Jetzt scheint mir, haben wir zusätzlich die Aufgabe und gerade durch die Erfahrungen, die unsere Wissenschaftsdisziplin Bibelwissenschaft schon gemacht hat, auch im Dialog mit dem Islam, mit den Musliminnen und Muslimen und natürlich mit anderen Religionen aufzutreten; aber zwischen Judentum, Christentum und Islam gibt es doch nochmal gewisse Beziehungen, die sich gerade auf der Ebene heiliger Schriften austrägt, auch wenn sie unterschiedlich gewichtet werden, die es uns erlaubt, sehr, sehr viel miteinander zu teilen und zu verarbeiten und bearbeiten. Und ich glaube, gerade von diesem Wissen kann und will auch die Gesellschaft in Zukunft profitieren, wenn wir sehen, in welche Richtung im deutschen Sprachraum oder auch speziell hier in Österreich die Politik tendiert, wenn es um Religionspolitik geht oder wenn es um den Islam geht - Stichwort Islam-Landkarte, über die wir auch schonmal einen Podcast hatten - und wenn man sich dann anschaut, was war mit dem IS?, wie ist es jetzt mit den Taliban?, dann kommt man sehr, sehr schnell in alte Fahrwasser zurück, von denen wir eigentlich hoffen konnten, dass sie langsam überwunden werden."
Politische und religiöse Verflechtungen genau benennen
Differenzierungen sind also angesagt – nicht nur um der wissenschaftlichen Genauigkeit willen, sondern aus der Überzeugung heraus, dass maßvolle politische Urteile und Entscheidungen letztlich aus der genauen Kenntnis der komplexen Zusammenhänge hervorgehen. Das betont die Grazer Religionswissenschaftlerin, Professor Ulrike Bechmann:
"Für das wissenschaftliche Arbeiten hieß und heißt das aber, dass die Komplexität von Zusammenhängen, die Komplexität und Differenz zwischen den verschiedenen Ländern und ihren jeweiligen religiösen und politischen Traditionen und politischen Entwicklungen immer stärker in den Fokus rücken muss. Man kann nicht von 'dem' Islam reden, sondern man muss kontextualisieren und differenzieren. Und die Erfahrungen sind aber, dass dies immer schwieriger wird. Nicht weil die Verhältnisse immer schwieriger würden, sondern weil die Rezeption, das Aufnehmen der Komplexität, eine eher komplexe Bearbeitung in der Öffentlichkeit immer schwieriger zu werden scheint. Natürlich, in den Fach-Medien ist das der Fall, aber es ist schwierig, Dinge, die mehr als fünf Sätze beinhalten, um Verhältnisse auszudrücken, um politische Fragen zu klären, um religiöse Differenzierungen anzubringen, diese auch in der Allgemeinheit anzubringen."
Selbst wenn man aber genau hinsieht, genau erklärt, genau analysiert, so müsse man doch mit dem Abstand von 20 Jahren sagen, dass sich die Situation gerade in islamisch geprägten Ländern des Nahen Ostens weiter verschärft hat, so Bechmann:
"Nach 20 Jahren würde ich sagen, die Gewaltbereitschaft, die Gruppen, die Gewalt anwenden, die politischen Verhältnisse, die in Gewalt geendet sind gerade im islamisch geprägten Raum, wenn man nur den Nahen Osten anschaut, haben sich verschärft. Das liegt aber nicht nur am Nahen Osten oder gar an 'dem' Islam; es liegt an komplexen politischen Verhältnissen, die sich radikalisiert haben. Diese Radikalisierung hat aber auch mit den politischen Entwicklungen in der Welt, im Westen, im Osten und in anderen Regionen zu tun. Noch einmal: zu differenzieren, je nach Land, je nach Region, je nach religiöser Beteiligung, je nach politischer Verflechtung und Beteiligung, das war schon 2001 wichtig - es ist umso wichtiger geworden."
Religionen als Reflexionsorte von Gewalterfahrungen
Man kann nicht über den 11. September sprechen, nicht das Thema Religion und Gewalt thematisieren, ohne politisch zu werden, d.h. ohne einen Kenner der sogenannten Politischen Theologie zu Wort kommen zu lassen. Der Salzburger Dogmatiker Prof. Alois Halbmayr ist ein solcher Kenner. Er verweist darauf, dass Gewalterfahrungen stets eng verknüpft waren mit Religion, ja, das Religionen in gewisser Weise Reflexionsorte und -Geschichten bieten, um Gewalterfahrungen zu verarbeiten - und schließlich zu überwinden.
"Das Thema Gewalt ist ein elementares Thema für jede Religion, weil es die Erfahrung von Menschen ist. Gewalt ist eines der großen Themen der Menschheit schlechthin. Deswegen sind Religionen Reflexionsgeschichten über das Handeln der Menschen, Reflexionsgeschichten über die Erfahrung von Gewalt. Und da ist die eine Aufgabe jeder Religion, genau diese Gewaltphänomene, die wir aus unserem Alltag kennen, die wir aus der Politik kenne, zu bearbeiten. Und aus meiner Sicht müssten Religionen nicht Verstärker von Gewalt sein, sondern Überwinder von Gewalt."
Als ein Unding und eine der Quellen der Gewalt bezeichnet Halbmayr jede Form der politischen Instrumentalisierung von Religion. Dagegen müssten sich die Religionen nicht zuletzt mithilfe der Theologie wehren:
"Auch im Dialog der Religionen geht es in erster Linie um hermeneutische Fragen: Wie lesen wir die Texte der Bibel oder des Korans? Was bedeuten die Gewaltgeschichte, die dort vorhanden sind? Und da muss man einfach sagen, dass wir heute andere Lektüren haben, sie anders verstehen, sie im Kontext anders interpretieren können. Denn hermeneutisch bleibt für jede Religion unabdingbar: Es gibt eine unüberwindliche Differenz zwischen dem, was Gott ist, und dem, wie wir ihn verstehen, wie wir ihn erkennen. Das heißt, wir müssen viel stärker auf die Differenz hinweisen, die jeden Gläubigen davor warnt, sich zum Schwert und zum Sprachrohr Gottes zu machen. Das können wir nicht tun. Wir wissen letztlich nicht, was Gottes Wille ist. Wir haben keine Einsicht 1:1. Aber was wir aus der Religionsgeschichte definitiv wissen, ist, dass wir mit Gott keinerlei Gewalt rechtfertigen können, keinerlei Gewalt in keiner Art und Weise. Das ist durch die Religionsgeschichte die große Lernerfahrung, und wer immer zur Gewalt greift, ja das Schwert in die Hand nimmt, der handelt gegen den Willen Gottes. Das kann man definitiv sagen. Und hier haben alle Religionen noch einige Hausarbeiten vor sich."
Von Gewaltfreiheit & Weltgebetstreffen
Schlagen wir am Ende unserer kleinen theologischen Umschau noch einmal den Bogen zum Anfang – und zur Frage, was denn mögliche christliche Antworten auf die Problemstellung religiös motivierter Gewalt wäre. Unabhängig voneinander haben der Innsbrucker Theologe Palaver und der Wiener Theologe Tück beide für Konzepte einer gewaltfreien Friedensethik votiert, die auch einen sehr konkreten, ja, prominenten Ort in der katholischen Kirche hat. Noch einmal abschließend Wolfgang Palaver und Jan-Heiner Tück:
"Mir ist selber in den letzten Jahren immer klarer geworden, dass wir uns viel stärker mit gewaltfreien Methoden der gesellschaftlichen Veränderung auseinandersetzen müssen. Das letzte halbe Jahr war ich in einem Forschungsprogramm zu Gandhis Gewaltfreiheit engagiert, weil ich heute mehr denn je sehe, dass die Gewaltfreiheit die eigentliche Antwort auf die Gefahr des Terrors darstellt, während der Krieg gegen den Terror keine Lösung und auch keine Lösung an der Wurzel des Problems bietet, sondern nur zur Eskalation der Gewalt beiträgt."
"Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. als auch Franziskus haben ja durch die Assisi-Weltgebetstreffen ganz konkrete Akte gesetzt, wie man pragmatisch mit der Situation der zusammenwachsenden Menschheit umgeht, in der eben auch unterschiedliche Religionen friedlich koexistieren müssen. Statt jetzt mit dem Finger auf andere zu zeigen 'Ihr habt da ein Gewaltproblem', ist die Idee, dass man unterschiedliche religiöse Akteure zusammen ruft, um Zeugnis abzulegen für die Förderung von Gerechtigkeit und Frieden in der globalen Welt. Und das eben so zu tun, dass man sich auf friedensfördernde Ressourcen in der eigenen Tradition besinnt und sogar bereit ist, sich von anderen mögliche Defizite spiegeln zu lassen. Und jede Religion ist faktisch in der Geschichte auch mit Hypotheken belastet, die sie vielleicht besser sieht, wenn sie sie von anderen spiegeln lässt. Benedikt XVI. hat das Programm der Assisi-Weltgebetstreffen noch erweitert, indem er auch bekennende Agnostiker und Atheisten eingeladen hat, weil er der Auffassung war, dass diese die Unglaubwürdigkeit religiöser Bezeugung nochmal so spiegeln können, dass religiöse Akteure dadurch lernen können. Und hier wird eigentlich eingeübt, was in einer globalen Situation unverzichtbar ist: dass Religion lernt, sich mit den Augen der anderen zu sehen, dass sie reflexives Selbstverhältnis ausbildet, was Fundamentalismen bricht."
Das war "Diesseits von Eden". Vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.