Wider das christliche Schattenerbe: Der Antisemitismus und seine Wurzeln
Podcast vom 17. Jänner 2024 | Gestaltung: Henning Klingen*
Am heutigen 17. Jänner begehen die christlichen Kirchen in Österreich den sogenannten "Tag des Judentums". An diesem Tag – eingeführt im Jahr 2000 vom Ökumenischen Rat der Kirchen – soll des jüdischen Erbes bzw. der jüdischen Wurzeln des Christentums gedacht werden; und natürlich auch des Leids, das Juden durch die Geschichte hindurch immer wieder gerade auch von Christen angetan wurde.
In diesem Jahr findet der Gedenktag, der eine gewisse Routine in den vergangenen Jahren angenommen hat, in einem besonderen Licht statt: Er steht im Lichte des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. In Folge dieses Angriffs flammte plötzlich und – in dieser Heftigkeit wohl unerwartet – plötzlich an allen möglichen Stellen in der Gesellschaft, in den Gesellschaften Mitteleuropas, plötzlich Judenhass auf. Das Gespenst des Antisemitismus – das man über viele Jahre durch eine lebendige Gedenkkultur dachte bändigen zu können – es war plötzlich wieder da. Entfesselt. Mehr als 1.200 antisemitische Straftaten seither allein in Deutschland. Auch in Österreich wurde eine Verdreifachung dieser Straftaten gemeldet.
Über dieses Phänomen des Antisemitismus wollen wir heute reden – und zwar aus der spezifisch christlichen Sicht. Welche Quellen des Antisemitismus gibt es? Welche Verantwortung tragen Theologie und Kirchen – und was meint Antisemitismus eigentlich?
Meine Gesprächspartnerinnen und Partner sind dazu die Wiener evangelische Kirchenhistorikerin Uta Heil, dann ihr Wiener katholischer Kollege, der Dogmatiker Jan-Heiner Tück – und aus Deutschland zugeschaltet ein Special Guest diesmal in unserem kleinen feinen Podcast: Rainer Kampling. Er ist emeritierter Professor für Biblische Theologie/NT an der Freien Universität Berlin. Außerdem – das erwähne ich zusätzlich, um zu verdeutlichen, wie gut er in unsere Runde passt - war er Mitglied der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz. Er ist außerdem Koordinator des Forschungsprojektes "Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus" – und hat auch im vergangenen Jahr bei der Entwicklung eines Forschungsprojekts zum Thema Antisemitismus an der Uni Graz geholfen.
Genug der Vorrede – Zunächst würde ich gern auf die Eskalationen im Kielwasser des 7. Oktober zu sprechen kommen. Hätten Sie diese neue (oder doch alte?) Form des Antisemitismus in dieser Form erwartet? Worin sehen Sie hier die spezifischen Quellen?
Kampling: "Also für mich kam die Häufung schon überraschend, auch dass es so eindeutig inszeniert von der Hamas war. Auch der Schrecken kann sich inszenieren. Und was mich nun wirklich erschüttert hat, war, dass auch viele Berliner, die seit Jahrzehnten hier leben, auf einmal daran beteiligt sind. Andererseits, wenn man wie ich seit 40 Jahren eigentlich nichts anderes als das Thema des christlichen Antisemitismus bearbeitet, dann hat mich das nicht gewundert. Also der Antisemitismus war nicht tot, er hat nur seine noch hässlichere Fratze gezeigt. Also das finde ich persönlich sehr, sehr schrecklich - und auch, dass es gerade in dieser Stadt Berlin viele Menschen gibt, die hier offensichtlich völlig fremd sind."
"Der Antisemitismus war nicht tot, er hat nur seine noch hässlichere Fratze gezeigt. Also das finde ich persönlich sehr, sehr schrecklich."
Haben Sie beide, Jan-Heiner Tück und Ute Heil, auch in Wien ähnliche Erfahrungen gemacht?
Heil: "Also persönlich in meinem direkten Umfeld nicht. Aber es gab ja auch hier schon im Oktober dann Parolen, die an die Wände des Campus der Uni Wien geschmiert wurden, mit eindeutiger Ausrichtung. Und da bin ich auch froh, dass wir darauf reagiert haben und gemeinsam - also unsere beiden Fakultäten gemeinsam, Evangelische Theologische Fakultät, Katholisch Theologische Fakultät zusammen mit dem Institut für islamisch-theologische Studien, dazu eine Erklärung herausgegeben zu haben, die sowohl auf unseren Homepages und dann auch übernommen auf der Startseite des Rektorats platziert wurde. Und das war meines Erachtens eine sehr eindeutige, klare Positionierung der Uni, die ich auch gut fand in diesem Kontext. Wenn man dann hört, dass jüdische Studierende Angst haben, die Lehrveranstaltung an der Universität zu besuchen, weil sie Anfeindungen befürchten und dort eine Sicherheits-Überwachungskamera angebracht wurde, um höhere Maß an Sicherheit zu erzeugen und Wachpersonal verschärft wurde, dann stimmt das natürlich schon bedenklich."
Hat Sie das denn überrascht?
Heil: "Nein, überrascht hat es mich nicht. Wenn man in die jüngere Vergangenheit schaut, dann muss man ja sagen, dass jede kriegerische Auseinandersetzung oder Kriege mit Hamas oder im Libanon vorher schon jeweils entsprechende Reaktionen provoziert hat. Wenn man natürlich in die längere Vergangenheit zurückschaut, ist der Antisemitismus ein Geschwür, was nicht kleinzukriegen ist. Und Herr Kampling hat eben schon die Brunnenvergiftung angesprochen: Ein altes Narrativ, was dann ja seit dem Hochmittelalter im Kontext der Pest-Epidemie ausgebaut wurde und den Juden vorgeworfen wurde und seitdem grassiert. Und das ist ja schon auch im Bezug jetzt nicht nur auf diesen Krieg, sondern in Bezug auf Wasserversorgung im Gaza allgemein bereits aktualisiert wurden. Oder wenn man jetzt das andere Narrativ hört, das in Bezug auf die kriegerischen Auseinandersetzungen ständig in erster Linie betont wird, dass Israel die Kinder im Gazastreifen ermorde, so ist das natürlich auch ein sehr alter Vorwurf, der an die alte Ritualmordlegende anknüpft und die wieder aktualisiert. Und so hat mich das dann auch nicht überrascht, dass hier ständig die Kinder vorgeschoben werden. Natürlich sind die Gräuel und das Elend im Gaza-Streifen zu kritisieren oder zu bemängeln. Das ist natürlich nicht in Frage zu stellen, aber die einseitige Beschreibung, dieses Elend und die Seite des Leides, was Israel erlitten hat durch die Angriffe der Hamas, die fällt dann immer ganz unter den Tisch und wird gar nicht erwähnt. Also mich hat überrascht, schon nach dem 7. Oktober, wie schnell die Gräuel der Hamas in den Hintergrund gedrängt wurde, sogar geleugnet wurden, und wie sehr dann der Kampf und das Abschlachten als Befreiungskampf stilisiert wurde. Und wie sehr hier mit zweierlei Maß gemessen wird, was man ja jetzt hier wieder bei dem Prozess vor dem Strafgerichtshof erkennen kann. Also wie schnell dieses Narrativ nach dem 7. Oktober, wo man erst entsetzt war über die Gräuel, kippt und das dann wieder ins Hintertreffen gerät. Und dann kommen die alten Narrative, die wir seit der Antike und seit Mittelalter kennen, in neuem Aufguss hier wieder in den Vordergrund."
Prof. Jan-Heiner Tück
Tück: "Ich habe den 7. Oktober wirklich als Eskalation erlebt, als ein Datum, das auch zu einer Allianz verschiedener Formen von Antisemitismus geführt hat. Rechts, links, islamistisch motiviert, alte kirchlich-traditionalistische Motive, die da irgendwie zusammengekommen sind. Dennoch, seit ich in Wien bin, hat es immer wieder auch solche Vorfälle gegeben. Ich erinnere nur an diese Ausstellung der Holocaust-Fotografien an der Ringstraße, die nachts feige ganz übel beschmiert wurden. Also es gibt einen Bodensatz eines vielgestaltigen Antisemitismus, der jetzt quasi den 7. Oktober zum Anlass genommen hat, die Hässlichkeit der Fratze noch mal deutlich zu zeigen. Mich hat auch irritiert, wie die eigene Kirche, also die vatikanische Friedensdiplomatie, zunächst reagiert hat: Sie hat beide Seiten zur Mäßigung und zur Pazifizierung aufgerufen, ohne den Namen des Aggressors klar und deutlich zu benennen. Und meines Erachtens zeigt sich hier auch eine Grenze der bisherigen vatikanischen Friedensdiplomatie. Also neutral zu bleiben. Kann man angesichts eines solch barbarischen Massakers wirklich neutral sein? Ist das nicht gewissermaßen auch eine Form mangelnder Empathie, so dass man dann auch die Autorität verliert, quasi die Politik in Israel auch zu einer Mäßigung quasi der jetzt erforderlichen Selbstverteidigung anzumahnen? Ein komplexes Feld, was in den Medien auch differenziert besprochen worden ist."
Christlicher Antisemitismus: "Viel lebendiger, als viele meinen"
Aber vielleicht, Herr Kampling, wäre das nicht schlecht, wenn wir kurz genereller werden und versuchen zu definieren: Was meinen wir denn, wenn wir Antisemitismus sagen?
Kampling: "Zunächst einmal ist Antisemitismus ein Kunstprodukt. Es ist ein politischer Begriff, der nicht etwas beschreiben wollte, sondern etwas durchsetzen wollte, nämlich den Antisemitismus. Theologen und Historiker haben in nicht geringem Maße im 19. Jahrhundert dazu beigetragen, dass er so schnell überhaupt wissenschaftlich etabliert wurden, insbesondere durch Aufsätze wie 'Paulus der erste Antisemit'. Da war man dann auch noch stolz, wie modern man war. Aber das ist sicherlich nicht die Antwort auf Ihre Frage. Heute benutzen wir den Begriff als Schirmbegriff für verschiedene Phänomene. Wir haben einen archaisch anmutenden christlichen Antisemitismus, den ich für viel lebendiger halte, als viele meinen. Wir haben dann einen archaischen Finanz-Antisemitismus. Und wir haben dann etwas, was tatsächlich sehr merkwürdig ist, nämlich eine Spielart des christlichen Antisemitismus bei Nichtchristen. Das haben Umfragen ergeben in Polen und Ungarn, dass auch kirchlich Nicht-Gebundene einen der größten Vorwürfe gegen die Juden die Tötung Jesu nannten. Also, wir kommen jedenfalls sehr gut mit dem Begriff Judenfeindschaft erst einmal hin, der sich in verschiedenen Formen äußern kann."
Und was ist mit der aktuell im Fahrwasser des modernen Anti-Kolonialismus aufflackernden linken, "woken" Antisemitismus? Wo kommt der her?
Kampling: "Das hängt damit zusammen, dass der Begriff Imperialismus eine Geburtsnähe zum Antisemitismus aufweist und dass wir gerade in bestimmten Ländern, die kolonial ausgebeutet und unterdrückt wurden, eine enge Verbindung haben. Tatsächlich ist es so, dass die postkoloniale Theorie sich ja nicht um Tatsächlichkeiten schert. Israel wird als Prototyp des weißen Imperialismus gesehen und dies führt dann zu dieser Solidarisierung, die wir übrigens auch nur haben, weil es um Israel geht, also das Abschlachten der Palästinenser in Jordanien hat nicht die gleiche Wirkung gehabt ..."
Prof. Rainer Kampling
Warum tat sich Papst Franziskus so schwer, die Täter klar zu benennen?
Tück: "Ich sehe hier auch eine gewisse Differenz zwischen der Neuen Politischen Theologie und den Spielarten der Befreiungstheologie. Die Neue Politische Theologie, die immer bemüht war, die anamnetische Solidarität mit den jüdischen Opfern hochzuhalten und jede Form eines aufflackernden Antisemitismus direkt auch öffentlich zu bekämpfen, während die Befreiungstheologie eine Tendenz dazu hat, quasi jetzt auch die Palästinenser im Gazastreifen als unterdrückte Bevölkerung wahrzunehmen und in Folge diese Attacke der Hamas entschuldigend abzumildern, weil es ihr als Aufstand einer unterdrückten Minorität gegen eine sie bedrückende Majorität erscheint. Das finde ich auch befremdlich. Und mir scheint fast, dass das bei Papst Franziskus, der ja auch diese lateinamerikanische, etwas befreiungstheologisch geprägte Sozialisation hat, auch ein Grund dafür ist, warum er die barbarischen Attacken der Hamas nicht sofort klar und deutlich verurteilt. Das ist natürlich jetzt eine Spekulation oder ein Interpretationsversuch, aber hier gibt es, denke ich, eine gewisse Spannung."
"Mir scheint fast, dass das bei Papst Franziskus, der ja auch diese lateinamerikanische, etwas befreiungstheologisch geprägte Sozialisation hat, auch ein Grund dafür ist, warum er die barbarischen Attacken der Hamas nicht sofort klar und deutlich verurteilt."
Heil: "Hier scheint mir auch eine Kongruenz zum sogenannten linken Antisemitismus deswegen vorzuliegen, wo wir auch eine Art Grundhaltung erkennen, dass Unterdrückte per se recht haben, weil sie unterdrückt sind und deswegen auch nicht zu kritisieren sind. Und Unterdrückte sind daher auch nicht im eigentlichen Sinne Täter. Also ist die Hamas nicht ein Täter, sondern reagiert nur und so kommt man halt dahin, das als Befreiungskampf einzukleiden. Das ist aber auch kein neues Narrativ. Und wenn man mal jemanden bemüht, die da auch ganz stark in die Richtung argumentiert hat, zum Beispiel Judith Butler, die ja auch in dieser Richtung auch publiziert hat und auch in letzter Zeit noch viel diskutiert und zitiert wurde, die schon vor mehr als zehn Jahren die Hamas und die Hisbollah als Teil eines linken globalen Widerstands thematisiert hat. Also das ist nicht erst jetzt mit Oktober 2023 aufgepoppt. Nur dieser Krieg hat jetzt das natürlich noch mal verstärkt, dieses Narrativ."
Die Vorwürfe gegen das Judentum funktionieren auch ohne christlichen Glauben
Sie haben auf die Narrative eben schon hingewiesen, die aktualisierbar sind oder aktualisiert wurden, also ganz alte Narrative. Wie passt denn das zusammen, wenn eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in Deutschland attestiert, dass eigentlich der Traditionsabbruch, also der Abbruch der Narrative, massiv groß ist? Wie passt das zusammen?
Tück: "Kardinal Jean-Marie Lustiger hat mal gesagt: Der kirchliche Antijudaismus, da geht es um die Bestreitung des Erbes, während der aufklärerische Antisemitismus eigentlich ein Anti-Theismus ist, also die Universalität der Vernunft stellt in Frage, dass es so etwas wie Erwählung gibt. Die Konkretion der Geschichte ist hier der Anstoß: Wir wollen universal sein. Und eine dritte Stufe wäre dann gewissermaßen der rassistische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, der dann in einen eliminatorischen Antisemitismus bei Hitler geführt hat. Das scheint mir, auch wenn es natürlich quasi Überschneidungen gibt, noch mal hilfreich zu sein, diese Überbietungsfiguren, die es im Christentum gibt, die das Judentum abwerten als obsolete heilsgeschichtliche Vorstufe, dass hier quasi der Streit um das Erbe zentral ist, während es Formen eines aufgeklärten Antisemitismus gibt, der Gott und damit auch das erwählte Volk in Frage stellt und auf den Universalismus als Ebene verweist. George Steiner hat das mal zum Anlass genommen zu fragen: Woher kommt das überhaupt? Und er hat gesagt: Es gibt Kränkungen, Zumutungen, die der mosaische Monotheismus allen zufügt, vor allem auch den Paganen, Nichtgläubigen: Er hält das Gottesgedenken wach und damit die Abkehr von allen Idolatrien; er hält zweitens den Dekalog wach, also ethische Weisungen, die den Trieben und Instinkten entgegenstehen und hat damit eine Domestizierungsfunktion. Und er geht noch weiter und sagt drittens: es gibt auch den Marxismus, der jüdischen Ursprungs ist, der die Idee der sozialen Gerechtigkeit wach hält, was auch eine politische Provokation dergestalt ist, dass alle asymmetrischen Ausbeutungsformen hier quasi konterkariert und angefragt werden. Das sind jetzt natürlich nur mal Versuche, grob in dieses komplexe Feld ein paar Unterscheidungen einzuziehen."
"Das Christentum ist so etwas wie ein Transmissionsriemen für antijüdische Ressentiments, die es in der Antike schon gibt. Wenn man jetzt sozusagen die Christen oder den christlichen Glauben da im Kernpunkt rausnimmt, so hat das eine Festigkeit erreicht, dass das auch ohne diesen Kern weiterläuft."
Die jetzt vielleicht von der Kirchenhistoriker schon wieder zertrümmert werden ...
Heil: "Nein, also diese bleibende, eher theologische Infragestellung kann ich gut so stehen lassen. Man muss aber auch ergänzen natürlich, dass diese Sammlung an Vorwürfen gegen das Judentum auch ohne christlichen Glauben funktionieren. Auch wenn sich der Streit am Anfang konkretisiert über die Auslegung des Alten Testaments - also die Frage, ob Jesus der erwartete Messias ist oder nicht - da geht es natürlich um die Auslegung des Alten Testaments, und das ist die bleibende Infragestellung für das Christentum. Und auch die anderen Vorwürfe - die Juden hätten Jesus getötet, sie betrieben Finanzwucher, töteten angeblich Kinder, vergifteten die Brunnen etc. - so sind das Vorwürfe, die sich natürlich auch ohne christlichen Glauben und Überzeugung transportieren lassen. Und so ist das Christentum so etwas wie ein Transmissionsriemen für antijüdische Ressentiments, die es in der Antike schon gibt. Und hinzu kommt ja auch noch die Figur des 'hermeneutischen Juden', also dass anderen Gruppierungen vorgeworfen wird, das sind jetzt die 'neuen Juden' seien - seien es die Arianer, weil sie die Gottheit Jesu nicht konkret festhalten, oder die Pelagianer, weil sie zu sehr am Gesetz festhalten und nicht auf die Gnade Gottes vertrauen. So gibt es immer wieder ein riesiges Konvolut an zusätzlichen Formen des Judenhasses, das sich anreichert, das aber eben nicht implodiert im Nichts. Wenn man jetzt sozusagen die Christen oder den christlichen Glauben da im Kernpunkt rausnimmt, so hat das eine Festigkeit erreicht, dass das auch ohne diesen Kern weiterläuft."
Tück: "Ich möchte allerdings noch mal daran erinnern, dass der 'Tag des Judentums' nicht nur die Aufgabe hat, die vielfältigen Gestalten und Pseudomorphosen des Antisemitismus zu bekämpfen und die Solidarität mit den heute lebenden Juden zu fördern, sondern eben von Nostra aetate ausgehend es für die katholische Tradition verpflichtend ist, die wurzelhafte Verbindung von Kirche und Israel zu unterstreichen und damit also gegen die Israelvergessenheit der kirchlichen Theologie Akzente zu setzen. Und vielleicht wenden wir noch mal den Blick dahin: Was kann eigentlich heute im Sinne dieser Stärkung der Israelverbundenheit von Kirche und Theologie gesagt und getan werden?"
Danke, dass du mir als Moderator das jetzt abgenommen hast - denn genau diese Frage wollte ich gerade stellen...: Herr Kampling, sie haben ihr ganzes Forscherleben an diesem Thema gearbeitet: Was folgt da theologie-didaktisch draus?
"Ich möchte allerdings noch mal daran erinnern, dass der 'Tag des Judentums' nicht nur die Aufgabe hat, die vielfältigen Gestalten und Pseudomorphosen des Antisemitismus zu bekämpfen und die Solidarität mit den heute lebenden Juden zu fördern, sondern eben von Nostra aetate ausgehend es für die katholische Tradition verpflichtend ist, die wurzelhafte Verbindung von Kirche und Israel zu unterstreichen und damit also gegen die Israelvergessenheit der kirchlichen Theologie Akzente zu setzen."
Kampling: "Es gibt eine geschichtliche Aufgabe, die ich in diesen 40 Jahren, die ich das mache, auch nachgehe, nämlich nachzuweisen, dass es keinen Zwang zum Antijudaismus und Antisemitismus gibt. Es gab immer in der Kirche Stimmen, Kardinäle, Bischöfe, Priester und Gläubige, die ganz klar judenfreundliche Positionen hatten. Also das meine ich sehr ernst: Wir haben in der Geschichte Beispiele, die abweichen vom Mainstream. Und es ist die Aufgabe, nicht nur die Opfer zu erinnern, sondern auch diese christlichen Stimmen, die oft auch Opfer wurden, weil sie natürlich etwas sagten, was eben in dem Sinne redlich war. Was den Christenmenschen und insbesondere den Katholiken ansteht, ist, endlich aufzuhören, Platzanweiser des Heils und Unheils zu sein. Also was wir in der Krise der jetzigen Kirche brauchen, wäre endlich eine Ekklesiologie, die sich nicht nach außen definiert."
"Die Juden brauchen keine theologische Nachhilfe oder Aufbauhilfe"
Da waren jetzt sowohl Anfragen an die evangelische Theologin dabei als auch an den katholischen Dogmatiker ...
Heil: "Ja, ich kann das nur unterschreiben. Und ich würde jetzt von theologischer Seite noch einfach betonen, dass natürlich keinem Christen genommen werden darf, seinen christlichen Glauben zu bekennen. Ja, aber um, aber eben nicht mit dieser daran anknüpfenden Ausgrenzung oder Negation und Abweisung von anderen Überzeugungen, also den Glauben im positiven Sinne bekennend. Wir müssen also wegkommen von den Verurteilungen, Ausgrenzungen, Verdammungsurteilen gegenüber anderen Überzeugungen. Und das knüpft daran an, Herr Kampling, was Sie sagten: Die Juden brauchen in der Hinsicht keine theologische Nachhilfe oder Aufbauhilfe. Ja, und da muss ich noch ein Wort als Kirchenhistorikerin sprechen: Wir müssen in unseren Lehrveranstaltungen mit den Studierenden auch christliche Geschichte und die Kulturgeschichte überhaupt entsprechend thematisieren und kritisch thematisieren und da ein bisschen aufräumen. Ja, also diese Aspekte, die wir schon in 2000 Jahren Kirchengeschichte angesprochen haben, die sind auch zu thematisieren und zu hinterfragen. Und die Studierenden sind zu sensibilisieren, um entsprechend diesen Ballast nicht weiter zu transportieren, um bei entsprechenden Äußerungen oder Handlungen da sensibel zu sein. Also das ist eine Aufgabe an die Universität, an die Lehrenden, hier entsprechende Aktivitäten zu setzen. An der Universität Wien laufen ja auch ein paar Sachen. Ich denke, das ist absolut wichtig, hier entsprechend in der Lehre auch aktiv zu sein, weil das ist ja das Wichtige, die nächste Generation zu sensibilisieren und für Differenzierungen, für Aufarbeitung des eigenen Schattenerbes zu aktivieren und da mitzumachen."
" Wie kann man also einerseits den säkularen Staat Israel völkerrechtlich anerkennen und wie kann man gleichzeitig die mit den Bundeszusagen verknüpften Landverheissungsaussagen theologisch deuten, ohne in die Falle einer theologiepolitischen Aufladung etwa der Siedlerbewegung zu kommen? Das scheint mir eine wichtige Aufgabe zu sein, die auch von unseren jüdischen Gesprächspartnern erwartet wird".
Und jetzt der Dogmatiker ...
Tück: "Der Dogmatiker hat jetzt hier keine besondere Kompetenz geltend zu machen. Ich würde nur noch mal an den 'Tag des Judentums' erinnern wollen, der uns eigentlich die Aufgabe ins Stammbuch schreibt, die Verbundenheit zum Judentum auch theologisch ernst zu nehmen und jede Form von wieder aufflackernden Markionismus abzuwehren, der das Neue Testament zulasten des Alten hochstilisiert oder mit Opposition in der Gotteslehre arbeitet: dort der Gott der Rache und der Vergeltung, hier der Gott der Liebe. Das kommt bis in die systematischen Entwürfe der Gegenwart vor. Jesus ist im semantischen Universum Israels großgeworden. Er hat mit den Psalmen Israels zu beten gelernt. Das eben auch in der systematischen Theologie neu oder immer wieder neu präsent zu halten, scheint mir eine ganz wichtige Aufgabe zu sein. Und eine - um an den 7. Oktober noch mal anzuschließen - durchaus delikate Aufgabe ist es, die Theologie des nicht aufgekündigten Bundes mit der Landverheißung zusammen zu sehen, ohne in eine Theologie politische Aufladung des konkreten Staates Israels zu münden. Wie kann man also einerseits den säkularen Staat Israel völkerrechtlich anerkennen und wie kann man gleichzeitig die mit den Bundeszusagen verknüpften Landverheissungsaussagen theologisch deuten, ohne in die Falle einer theologiepolitischen Aufladung etwa der Siedlerbewegung zu kommen? Das scheint mir eine wichtige Aufgabe zu sein, die auch von unseren jüdischen Gesprächspartnern erwartet wird. Wie verhaltet ihr euch eigentlich zu diesem, ja, biblischen Erbe?"
Das Eingedenken fremden Leids als Weg der Pazifizierung
Vielleicht eine letzte Frage, weil das bedrängt ja viele Menschen auch: Wie gehen wir eigentlich mit dem Auftrag um, dass es für uns als Christen eigentlich kein Leid geben sollte, das uns nicht angeht? Das heißt ja auch, dass uns das Leiden auf Seiten der palästinensischen Bevölkerung angehen muss. Wie kann uns dieser Spagat gelingen, Solidarität zum Ausdruck zu bringen, ohne dass es uns zerreißt?
Tück: "Ich finde den von Johann Baptist Metz geltend gemachten Anstoß des Gedenkens fremden Leids hier hilfreich: Also man versteift sich gewissermaßen nicht auf die eigenen Leidensgeschichten, um sie jetzt als Potenzial neuen Widerstandes zu nutzen, sondern man nimmt eine Horizont-Überschreitung vor und ist auch bereit, auf der Seite der anderen das Leiden wahrzunehmen. Es hat ja interessanterweise von beiden Seiten solche von den Medien kaum wahrgenommenen Initiativen gegeben. Rabbiner, die gesagt haben: Bitte schaut her, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, das ist unendlich schrecklich, was dort passiert ist, dämmt die militärischen Aktionen ein! Und umgekehrt hat es auch Solidaritätsaktionen von der anderen Seite gegeben. Und ich finde, das sind Keimzellen, die einer Pazifizierung dieser völlig aus dem Ruder gelaufenen, alle ratlos stimmenden Situation dienen. Und das zu fördern wäre meines Erachtens ein jüdisch-christlicher Grundauftrag, vielleicht auch ein muslimischer Grundauftrag. Denn das steht eigentlich auch vom 7. Oktober an: Den Dialog jüdisch, christlich, muslimisch gewissermaßen zu weiten, mit allen Schwierigkeiten, die das in sich birgt."
Vielen Dank für diese interessanten Ausführungen zum Thema Antisemitismus. Und ich hoffe, es hat auch bei unseren Hörerinnen und Hörern das eine oder andere Aha-Erlebnis gegeben und ich hoffe zugleich, dass Sie uns weiterempfehlen! Vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.