Die "christliche Rechte" in Europa und russische Orthodoxie
Foto von Kristina Stoeckl
Podcast vom 11. April 2024 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner & Henning Klingen
Diese Folge kommt direkt aus einem Unigebäude, dieses Mal aus dem Hauptgebäude der Universität Wien. Wir sitzen im Dekanat der katholisch theologischen Fakultät. Also das machen wir heute gemeinsam. Franziska Libisch-Lehner und Henning Klingen. Und wir führen heute gemeinsam durch ein Gespräch mit der Religionssoziologin Kristina Stoeckl.
Kristina Stoeckl lehrt und forscht als Professorin für Soziologie an der LUISS Universität, einer Freien Internationalen Universität für Soziale Studien in Rom, und zwar seit dem letzten Jahr. Sie ist außerdem außerordentliche Professorin an der Uni Innsbruck, wo sie bis 2001 auch studierte, nämlich Vergleichende Literaturwissenschaften, Germanistik und Slawistik und wo sie nach ihrer Dissertation in Florenz auch wieder mit vielen anderen Stationen dazwischen geforscht hat. Bis 2022 leitete Kristina Stoeckl außerdem das Forschungsprojekt “Postsecular Conflicts”, ein hoch dotiertes ERC Starting Grant für herausragende Forschungsprojekte. Ihr Leib- und Magenthema sind die Verbindungen von russisch orthodoxe Kirche und rechtskonservativen und moral konservativen Kreisen in Russland, aber auch darüber hinaus. Darüber hat sie auch immer wieder publiziert, zuletzt und sehr aktuell "The Christian Right in Europe".
Frau Stoeckl, herzlich willkommen in dieser Runde. Sie haben sehr lange schon dieses Thema in Bearbeitung. Warum eigentlich? Was reizt Sie da? Oder gibt es persönliche Nähe zu dem Thema? Wie kommt man darauf?
Stoeckl: Nun ganz erst mal vielen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch. Ich habe in Innsbruck Slawistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und bin bereits in dieser Zeit mit dem Gedankengut der russischen Religionsphilosophie in Kontakt gekommen und habe begonnen, mich nicht nur für Russland und russische Literatur zu interessieren, sondern auch für das russische religiöse Denken. Und es hat mich nicht losgelassen. Ich habe dann auch meine Dissertation über russische religiöse Denker in der späten Sowjetzeit geschrieben und ein Postdoc-Projekt über Staatskirchenbeziehungen in Russland in der postsowjetischen Zeit durchgeführt sowie über diese Arbeiten zur russisch-orthodoxen Kirche. In der postkommunistischen Phase bin ich zu der Verbindungen der russisch-orthodoxen Kirche zu Kirchen im Westen sowie zu christlich rechten Akteuren im Westen gekommen. Das ist also das letzte Projekt. Ich habe mich sozusagen vorgearbeitet von einem sehr russischen slawistischen Thema hin zu einem Thema der transnationalen Netzwerke und Akteure.
Und vorgearbeitet dann auch in dem Sinne, dass sie wahrscheinlich jetzt von beiden Seiten, sowohl von russisch-orthodoxer als auch vonseiten der rechtsnationalen konservativen Netzwerke, nicht wirklich als beliebt angesehen werden mit diesen Forschungen, nehme ich an?
Also es ist weniger ein Russland findet sich selbst, als ein Russland findet seine Rolle in den westlichen Kulturkriegen.
Stoeckl: Ich würde das nicht sagen, denn meine Forschung ist religionssoziologisch und nicht investigativ journalistisch. Wir haben nicht in dem Forschungsprojekt keine Dinge ans Licht gebracht, die nicht bereits sichtbar waren. Aber wir haben durch qualitative soziale Forschung, durch Interviews, durch teilnehmende Beobachtung einige Dynamiken aufzeigen können, die gerade vielleicht in der journalistischen Betrachtung untergehen oder überraschen. Und damit meine ich jetzt ganz speziell diese konservative Wende Russlands, die seit den 2010er-Jahren, vor allem seit 2012 - der dritten Amtszeit Putins - ersichtlich war und die vor allem innerhalb Russlands so dargestellt wird als ein Zurückkehren zu den Wurzeln, als ein wieder Aufkommen der traditionellen Werte, als ein sich etwas Zurückerobern, das die Sowjetzeit Russland genommen hat. Unsere Forschung zeigt ein völlig anderes Bild, und zwar ist es ein Bild von einer russisch-orthodoxen Kirche und einer russischen Staatsideologie, die erkennt, welche Werte und Moral-Konflikte im Westen an Gesellschaften zerren. Das sind aktuell Themen rund um die traditionelle Familie, Themen rund um LGBTIQ-Rechte, Abtreibung oder die Zukunft der Demokratie. Und diese Themen und Fragen werden dann übernommen, als eine Sichtweise dessen, was der Westen ist, was die moderne liberale Demokratie ist und was die Rolle Russlands in dieser liberalen Weltordnung eigentlich sein soll. Also es ist weniger ein Russland findet sich selbst, als ein Russland findet seine Rolle in den westlichen Kulturkriegen.
Wie schlagen Sie dann die Brücke zu den christlichen Rechten? Weil in Ihrem neuesten Buch geht es ja um christliche Rechte europaweit und nicht nur Russlands oder die orthodoxe Kirche. Wo sind die Brücken von der einen Ideologie zu einer postkommunistischen Ideologie?
Stoeckl: Nun, zuerst muss ich sagen, dass dieser Sammelband ja gar nicht von mir ist, sondern er wurde herausgegeben von Gionathan Lo Mascolo. Das ist ein Journalist, der in Deutschland lebt und arbeitet. Wir haben aber gemeinsam die Einleitung zu dem Sammelband geschrieben, und ich habe auch das Kapitel über Russland geschrieben. Nun vielleicht mal zum Begriff der christlichen Rechten in Europa. Das ist ja an sich schon eine kleine Provokation, denn der Begriff christliche Rechte wird gemeinhin mit den USA in Verbindung gebracht und dort mit Gruppen und Kirchen, die oft protestantisch evangelikal geprägt sind, aber auch ein rechter Rand der katholischen Kirche in den USA sind, die sich ganz massiv in der Zivilgesellschaft, in der Politik durch Lobbyarbeit für Moral konservative Themen einsetzen - gegen die Abtreibung, gegen LGBTIQ-Rechte, zu Beginn der 60er-Jahre, auch noch gegen die Aufhebung der Rassentrennung, für Schulgebet usw. Also das ist die christliche Rechte, die man gemeinhin auch in Europa im Blick hat. Zuletzt hat Donald Trump im Wahlkampf die "God bless America Bible" präsentiert. Das ist also diese Art von christliche Rechte in den USA, die es seit den 60er, 70er-Jahren gibt. Und warum sagen wir jetzt die christliche Rechte in Europa, wenn man doch sagen kann Ja, in Europa gibt es dieses Phänomen und diese Frage gewinnt der Sammelband durch Länderstudien.
Aber was wir sehen, ist, dass es auch in Europa verstärkt das Phänomen gibt, dass sich Gruppen mobilisieren, die eben als christlich rechte Gruppen nach dem Vorbild der USA gesehen werden können.
Lässt sich das eins zu eins umlegen wie in den USA?
Stoeckl: Eins zu eins umlegen lässt sich das nicht. Aber was wir sehen, ist, dass es auch in Europa verstärkt das Phänomen gibt, dass sich Gruppen mobilisieren, die eben als christlich rechte Gruppen nach dem Vorbild der USA gesehen werden können. Und hier sind drei Punkte wichtig. Also einmal ist es das stark moral-konservative Ideenspektrum. Zweitens ist es eine besondere Form von Institutionalisierung als Bewegung oder religiöse Gruppierungen – wie Brotherhood. Zum Teil sind es auch nur Plattformen im Internet, die bestimmte Themen posten und reposten. Der dritte Punkt der Definition sind die strategischen Ziele, die dann diese christliche Rechte auch vom christlichen, demokratischen Mainstream unterscheiden. Und zwar ist das Ziel eine Schwächung, zum Teil vielleicht sogar eine Abschaffung der liberalen Demokratie, und zwar in dem Sinne, dass die Demokratie nicht mehr als die politische Ordnung gesehen wird, die für Christen am günstigsten ist. Und ich glaube, das ist etwas, das wir uns klarmachen müssen, dass es das auch in Europa gibt, dass es Gruppen gibt, die sagen, "die demokratische Ordnung funktioniert eigentlich nicht, denn sie hat uns in die EU geführt, und die EU hat uns jetzt eigentlich die Demokratie geraubt. Wir werden von Migranten überschwemmt oder uns werden LGBTIQ-Rechte aufgedrückt, die wir nicht wollen usw. Wir können als Christen eigentlich in dieser politischen Ordnung gar nicht leben. Wir wollen zurück in eine andere politische Ordnung".
Das heißt, nur weil ich jetzt oder wenn ich moral-konservativ bin, als Katholik, als Protestant falle ich nicht automatisch in den Fokus Ihrer Studien, weil dazu muss etwas anderes kommen. Dazu muss noch kommen, dass ich mich auch in dem Gemeinwesen, in dem ich lebe, unwohl fühle und das für falsch halte oder dagegen aktiv was tue. Also es muss eine politisch konservative Komponente dazukommen.
Stoeckl: Genau. Es muss eine aktive Komponente dazukommen, also ein Handlungsziel. Und es muss auch eine Form von Institutionalisierung dazukommen, also eine aktive Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit in einer Organisation, Partei oder Bewegung, die sich für diese politischen Ziele einsetzt. Also mir ist es ganz wichtig zu sagen, dass alleine eine christlich konservative Weltsicht nicht bedeutet, dass man zur christlichen Rechten gehört. Denn es ist völlig normal in einer Demokratie und in einer pluralistischen Gesellschaft, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben und sich auch unterschiedlich in die politische Debatte einbringen. Und Demokratie ist gerade dazu da, um solche Unterschiede dann auch auszuhandeln oder bis zu einem gewissen Grad auch auszuhalten.
Machen wir es vielleicht konkret: Wo sehen Sie denn in Österreich oder in Deutschland, wo jetzt das Hauptpublikum unseres Podcasts herkommt, solche institutionalisierten Formen christlicher Rechter? Ist das so was wie eine Gruppe Christen in der AfD zum Beispiel?
Stoeckl: Ja, genau die. Die Gruppe Christen in der AfD wäre ein Beispiel und die Publizistin Gabriele Kuby, die das Buch geschrieben hat "Die globale sexuelle Revolution" und wie unsere Kinder geraubt werden. Es gibt auch bestimmte unterschiedliche Verlagshäuser, die bestimmte Literatur der christlichen Rechten publizieren, etwa eine Übersetzung des Buchs von Rod Dreher "Die Benedikt Option". In Österreich reicht dieses Spektrum hinein in die ÖVP und FPÖ. Es gibt in dem Sammelband, den Sie gerade erwähnt haben, auch einen Beitrag von Katharina Limacher, Astrid Mattes und Barbara Urbanic, die genau die österreichische Situation beleuchten und auf verschiedene Aktionen hinweisen. Es gibt etwa die Gebetsstunde im Parlament usw, wo sie sagen, das sind eigentlich Formen von Organisation, die irgendwie christlich rechte Züge haben.
Aber die drängen noch nicht zur Abschaffung der Demokratie. Also ich kenne die Kritik daran und man kann die auch teilen. Aber das heißt noch nicht, dass die Leute, die dahinterstehen, also im Prinzip das Hohe Haus, in dem es stattfindet, missachten, oder?
Stoeckl: Nein, das würde ich jetzt so auch nicht sagen. Und ich glaube auch, man, man muss irgendwie die Kirche im Dorf lassen und darf nicht zu alarmistisch sein. Denn natürlich sind in den meisten nationalen Kontexten diese Gruppen relativ klein, also eigentlich ein kleiner Rand oder auch im Ideenspektrum sicher nicht Mainstream. Ich glaube, das, was diese Publikation die christliche Rechte in Europa zeigt und auch unsere Forschung zu Russland gezeigt hat, ist, dass diese Gruppen an Gewicht gewinnen, weil sie sich zunehmend transnational vernetzen und weil sie auch und das ist etwas Neues und folgt dem amerikanischen Modell sich überkonfessionell vernetzen und der Unterschied zwischen katholischen, protestantischen und auch orthodoxen Gruppierungen gar nicht mehr so groß ist, solange sie dieselbe Ansicht haben über traditionelle Familienwerte oder LGBTI-Rechte.
Die klassisch katholisch Traditionellen, die ja ganz viel Wert auf dieses Katholisch-Sein legen, vernetzen sich hier über Konfessionsgrenzen hinweg wegen dem höheren Ziel einer neuen Gesellschaftsordnung?
Stoeckl: Genau. Also das wird über Konfessionsgrenzen hinweg vernetzt und es wird zumindest bei der Frage der politischen Führerschaft ja über klassische katholische Prinzipien hinweggesehen. Gutes Beispiel dafür ist Italien, wo Matteo Salvini eine Leitfigur rechter Christen christlicher Gruppen ist, mit dem Rosenkranz in der Hand Wahlkampf macht, selbst geschieden ist, selbst in einer neuen Beziehung lebt und also wahrlich nicht von seinem Lebenswandel her jetzt diesen klassischen Prinzipien entspricht, genauso wenig wie Giorgio Meloni u.v.m. Das ist vielleicht noch das Wichtigere, er geht auf Konfrontationskurs mit der katholischen Amtskirche. In Italien ist es ja deutlich, wo in der Migrationsfrage die rechten Parteien, die sich für Familie und traditionelle Werte einsetzen, gleichzeitig andere Werte wie Gastfreundschaft oder Kampf gegen die Armut der Kirche abwerten.
Was ich bei Ihnen heraushöre, sind bei christlichen Rechten ganz viele Ängste: Eine Angst vor dem Verlust der traditionellen Familie, Angst vor unterschiedlichen Geschlechtlichkeit und vor der LGBTIQ+-Bewegung, vor dieser Genderfalle, wie sie oft genannt werden. Was kommt dann noch dazu? Also was sind dann noch so tief sitzende Ängste oder Themen an denen sich die christliche Rechte reibt?
Stoeckl: Da gibt es die Angst vor einer Form von Statusverlust. Es geht auch ganz stark um Status im Sinne was unsere Gesellschaft ausmacht oder ob es noch eine primär christliche Gesellschaft ist oder schon eine post-christliche, pluralistische? Aber eine Sache, die mir auch wichtig ist zu sagen und das wurde mir in unserer Feldforschung besonders deutlich, ist, dass sich viele Personen aus genuinem Interesse an Themen oder auch moralischen Überzeugungen zuerst einmal in einem bestimmten Diskurs einbringen, zum Beispiel gegen Abtreibung eintreten, ohne aber deshalb sofort gegen LGBTIQ-Rechte, Russland-Fan oder gegen die öffentliche Schule zu sein. Und viele Personen, die wir in der Feldforschung kennengelernt haben, kamen über ein bestimmtes Thema in Berührung und dann entweder über Kongresse oder übers Internet, Social Media und Postings. Wenn man mal einen Weg einschlägt, kommen auch noch ganz andere Wege dazu. Dann wird auf einmal ein genuines Anliegen zu einer allgemeinen Weltanschauung und auf einmal kann man nicht mehr gegen Abtreibung sein, ohne nicht auch gleichzeitig gegen LGBTIQ-Rechte zu sein und ohne nicht auch gleichzeitig der Meinung zu sein, dass die liberale Demokratie Christen bedroht in ihrer Freiheit. Und das ist eigentlich das Problematische, was diese transnationale Vernetzung betrifft, weil es eben eine einseitige, all-umspannende Weltsicht generiert, die oft von den eigentlichen Themen dann auch wieder ablenkt und Lösungen fast unmöglich macht.
Und das ist eigentlich das Problematische, was diese transnationale Vernetzung betrifft, weil es eben eine einseitige, allumspannende Weltsicht generiert, die oft von den eigentlichen Themen dann auch wieder ablenkt und und Lösungen fast unmöglich macht.
Ich möchte noch einmal kurz zurück zu den Gruppierungen, die sie auch in Österreich und Deutschland markiert haben. Das sind ja Gruppen, auf die die Amtskirche – auch in Österreich – gewisse Hoffnungen setzt. Das sind evangelikal auftretende Gruppen, die die "Fackel der Spiritualität" vor sich her tragen. Würden Sie da quasi amtskirchlich sagen "Vorsicht"? Wir haben das Gebetshaus in Augsburg, für viele ein Vorbild ist, auch im kirchlichen Kontext. Es gibt Bewegungen, die in Österreich stark sind, wie die Loretto Bewegung, in der ja viel amtskirchliche Hoffnungen ruhen, dass sie sagen, das ist das Christentum der Zukunft. Würden Sie da sagen "Lieber ein bisschen vorsichtiger sein bei diesem Jubel dafür"?
Stoeckl: Ja, es ist sicher nicht an mir, der Amtskirche was auszurichten, auch weil ich völlig außenstehend bin. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich vielleicht die österreichische und deutsche Situation nicht so gut kenne. Aber zumindest in Italien ist es nicht so, dass die Amtskirche so positiv auf diese Entwicklungen schaut. Und auch in Österreich war es nicht immer so: Als Strache mit dem Kreuz Wahlkampf gemacht hat, hat der Bischof ihn ermahnt. Dasselbe passiert in Italien. Also ich glaube, die Kirchen wissen sehr wohl, dass eine Politisierung der Religion und gleichzeitig der Versuch einer Sakralisierung der Politik schnell zu großen Katastrophen führen kann. Und das ist auch eine Lektion, die die Kirchen im 20. Jahrhundert gelernt haben und nicht leicht vergessen wollen. Ich sehe ein gewisses Risiko, wenn man versucht, Politik re -religiös zu prägen. Und an Russland sieht man ganz klar, wohin es führt, nämlich zu einer absoluten Abhängigkeit der Kirche vom Staat, zu einer Unterordnung, dann letztlich und eine Staatsideologie.
Ab wann ist das passiert? Ab wann ist es passiert, dass eine russisch-orthodoxe Kirche sich so abhängig gemacht hat von Wladimir Putin? Ist es aus dieser Panik der postkommunistischen Zeit heraus, endlich wieder was zu sagen zu haben, gelten zu wollen, groß zu sein? Ist es von Jahr zu Jahr, von Amtszeit zur Amtszeit von Wladimir Putin gewachsen? Oder wie können Sie das skizzieren, damit man sich das ein bisschen vorstellen kann?
Stoeckl: Nun ja, es ist tatsächlich so, dass die russisch-orthodoxe Kirche in den Nullerjahren noch stärker bestrebt war, eine gewisse Distanz zu wahren. Das war auch noch die Zeit von Patriarch Alexej, und es war auch noch eine Zeit, in der die Verfolgung durch den Staat sehr präsent war. Der Schulterschluss zwischen Staat und Kirche passiert tatsächlich ab 2012, der dritten Amtszeit von Putin, der Zeit von Patriarch Kyrill, der 2009 ins Amt gewählt wurde. Und das ist eine Zeit, in der dann der russische Staat voll einschwenkt auf eine konservative Staatsideologie, die traditionelle Werte hochhält. In Russland wird immer von traditionellen Werten gesprochen, nicht vom christlichen. Das muss inklusiv sein gegenüber Muslimen und Buddhisten und anders Gläubigen in Russland und damit natürlich dem Patriarchen und der orthodoxen Kirche sehr entgegenkommt. Denn das ist genau das Ziel, das sie auch verfolgen. Und irgendwie nimmt aber dann der Kreml ab einem gewissen Zeitpunkt, würde ich sagen, der Kirche diesen Begriff der traditionellen Werte auch aus der Hand.
Ich kann mich erinnern, Metropolit Hilarion, als er noch in Österreich tätig war, hat nach der seiner Bestellung ins Außenamt des russisch-orthodoxen Patriarchats für eine Allianz zwischen Orthodoxie und Katholizismus geworben. Da war weil, beides moralkonservativ sozusagen ist. Und da gab es ja immer noch das Werben um den Westen. Inzwischen ist aber der Westen der gefallene Westen komplett, oder?
Stoeckl: Also über dieses Werben um den Westen habe ich ein ganzes Buch geschrieben – "The Moralist International - Russia in der Global Culture Voice" – wo wir diese Episode der Heiligen Allianz beschreiben, die relativ kurzlebig war. Also sie war ein großes Thema von 2009 bis 2013 und endete dann eigentlich mit der Amtszeit von Papst Franziskus. Denn Franziskus hat immer sehr deutlich gemacht, dass er eigentlich nicht so interessiert ist an Allianzen gebaut um ideologische Werte. Kurz nach seiner Amtsübernahme hat die Kirche einen Artikel veröffentlicht, in dem es um den Weltkongress der Familien ging, und der wird dort als eine "Ökumene des Hasses" bezeichnet. Ich bezeichne sie immer als eine konservative Ökumene. Diese Idee der Heiligen Allianz endet primär katholischerseits, geht dann aber weiter mit Kontakten zwischen bestimmten Gruppen, Moskauer Patriarchat und katholischen Gruppen, aber nicht mehr auf der höchsten Ebene.
Sie haben in einem Gastkommentar in der Tageszeitung Der STANDARD 2022 geschrieben: "Die Russische Orthodoxe Kirche ist Trägerin der nationalen Ideologie geworden." Also sie ist es geworden, vor allem jetzt 2022 durch den russischen Angriffskrieg noch mehr. Oder wie zeichnet sich das aus?
Stoeckl: Jetzt ist sie dazu geworden, denn Patriarch Kyrill hat gerade erst vor Ostern den Krieg in der Ukraine als den Krieg gegen den satanistischen Westen bezeichnet. Die Ukraine ist aus russischer Sichtweise nur der Austragungsort und es ist sozusagen nicht das Ziel dieses Krieges. Was nicht stimmt, denn es ist ein Überfall auf ein souveränes Land. Aber das wird in Russland immer anders dargestellt. Die Ukraine wird sozusagen als ein Schlachtfeld zwischen Russland und dem Westen dargestellt. Die russische Orthodoxie ist zur staatstragenden Ideologie geworden und hat aber dafür eben einen großen Preis bezahlt, denn sie hat die Unabhängigkeit gegenüber dem Staat verloren. Man sieht das zum Beispiel auch darin, dass jetzt nach dem Angriffskrieg staatliche Organe gegen Priester eingreifen, die sich nicht enthusiastisch zu dieser Spezialoperation äußern, die vielleicht sogar kritisieren. Bischöfe haben sich nicht schützend vor diese Priester gestellt, viele haben inzwischen Russland verlassen. Ein besonders prominenter Fall war ein Priester, der ein Gebet abgeändert hat, das Patriarch Kyrill ausgegeben hatte. Man solle für den Sieg Russlands beten, und dieser Priester hat das eigenmächtig abgeändert und für den Frieden gebetet und dafür sein Amt verloren. Das muss man sich auch mal vorstellen. Demonstrierende vor Kirchen sind verhaftet worden für das Hochhalten eines Schildes mit "Göttliches Gebot Du sollst nicht töten". Also diese Eingriffe der Staatsmacht in die Kirche sind natürlich ein starkes Zeichen. Die Tatsache, dass sich die Kirchenspitze nicht hier nicht positioniert und auch nicht schützend vor Christen stellt, ist ein anderes Zeichen. Und natürlich hat das Moskauer Patriarchat auch die ukrainisch orthodoxe Kirche verloren, also jenen Teil der orthodoxen Christen in der Ukraine, die eigentlich noch zum Moskauer Patriarchat hin orientiert waren. Die haben sich 2022 für unabhängig erklärt.
Sie haben gerade gesagt, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche nicht vor die Priester, die Abtrünnigen stellt, ist ein Zeichen. Aber man kann ja sagen, dass das ein Zeichen ist, dass sie das ja richtig finden. Also dass vielleicht eine Theologie dahintersteht, die jetzt nicht "Die" russisch-orthodoxe Theologie ist, sondern die jetzt Oberwasser hat und sagt, "Das, was Putin, die Staatsmacht macht, entspricht unserem Bewusstsein, unserer Idee von einem Gott gewollten sozialen Gebilde". Inwiefern haben Sie mit theologischen Argumenten zu tun?
Stoeckl: Ich habe sehr viel damit zu tun. Ich habe manchmal scherzhaft gesagt, die Theologie ist mein Forschungsfeld. Und auf eine gewisse Art und Weise ist sie das auch. Denn ich habe immer versucht zu verstehen, was die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der orthodoxen Theologie sind. Und wie ich schon gesagt habe, in meiner Dissertation ging es um dissidente Religionsphilosophen in der späten Sowjetzeit. Also das waren pro-demokratische orthodoxe Theologen, die eine Kirche wollten, die sich vom Staat fernhält. Und gleichzeitig gab es immer auch diese fundamentalistischen, nationalistischen Strömungen innerhalb der orthodoxen Kirche. Und für mich war das Panorama relativ eindeutig. Es gab unterschiedliche Strömungen, eher liberale, stark fundamentalistische. Und dann dieses Mittelfeld, das ich die Traditionalisten genannt habe, die also versucht haben, die Kirche ein bisschen auf einem Mittelweg zu halten. Und ich glaube, das, was wir jetzt gesehen haben, ist, dass eigentlich die nationalistisch fundamentalistischen Kräfte überhand gewonnen haben. Und innerhalb Russlands sehen wir jetzt eine russisch-orthodoxe Kirche, die stark auf diesen Kurs eingeschlagen ist. Aber natürlich gibt es auch in Russland Dissidenten. Es gibt viele Theologen, die Russland verlassen haben. Und es gibt nicht nur die russisch-orthodoxe Theologie, sondern es gibt ja auch die globale Orthodoxie und eine Theologie, die zum Beispiel eher am ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel ausgerichtet ist. Und natürlich auch in den orthodoxen Ländern, in Serbien, Rumänien, Bulgarien usw., haben sie ja auch ihre Meinungen dazu, wie eine Kirche sich zum Staat verhalten soll. Innerhalb dieser Welt-Orthodoxie steht Russland für den Pool einer Staatskirchenideologie, die auch der Demokratie eigentlich eine Absage erteilt.
Die aus dem Zarentum kommt.
Stoeckl: Genau, die also eher noch monarchistische Nostalgie hegt. Und auf der anderen Seite eben eine orthodoxe Theologie, die genau wie Sie das beschrieben haben, mit der Säkularisierung irgendwie ihren Frieden geschlossen hat, die sich eher als zivilgesellschaftliche Kraft versteht und nicht auf den Staat setzt.
Und was schwappt dann von diesen national-orthodoxen Strömungen zu den christlichen Rechten nach Europa rüber?
Stoeckl: Also eigentlich in meinem Buch argumentieren wir ja nicht so sehr, dass viel von Russland in den Westen schwappt, sondern dass sehr viel von Russland vom Westen nach Russland schwappt. Also gegen LGBTIQ-Rechte zu sein, ist in meinen Augen eine starke Übernahme von westlichen Konfliktlinien und nicht eine, die sich aus der Werdung der Orthodoxie oder der aktuellen sozialen Lage in Russland ergibt. Also das Überschwappen sehe ich eher vom Westen nach Russland. Was ich auch sehe, ist dass natürlich die ganze russische Ordnung, die Wladimir Putin in 25 Jahren seiner Macht geschaffen hat, durchaus Bewunderer im Westen findet. Also diese Idee, dass es einen starken Staat gibt, eine Führung, die nicht durch Wahlen immer wieder in Kritik gerät und abgesetzt wird, wo sich nichts ändert und wo eben Werte von oben durchgesetzt werden können. Denn man kann eben LGBTIQ-Gruppierungen verbieten in Russland, so wie es passiert ist. Aber hier ist eben der Denkfehler. Denn viele christliche rechte Gruppen, die mit Bewunderung nach Russland blicken sehen nicht, dass der russische Staat nur diese Ziele als christlich fördert, die ihm genehm sind. Eben die Unterdrückung von LGBTIQ-Gruppen, die eher liberal und pro-demokratisch gesinnt sind, gerade nicht. Ein Einschreiten oder ein größerer Kampf gegen Abtreibung, das war nie großes Ziel. Also wenn Wladimir Putin Abtreibung verbieten wollte, dann könnte er das morgen tun. Aber das tut er nicht. Also er greift nicht die Themen auf, die man vielleicht jetzt aus theologischer Sicht als prioritär sehen würde, sondern die, die politisch opportun sind und die auch sozusagen in diese Repressionsmaschinerie, die in Russland jetzt eingesetzt hat, hineinpassen.
Ist diese Phalanx, diese Allianz zwischen Orthodoxie und russischer Politik, eine rein von Opportunismus geprägte oder eine von politischen Zielen durchdrungene Allianz? Oder glauben das russische Politiker oder Vertreter der Zivilgesellschaft, soweit es sie noch gibt? Glauben die der russischen Orthodoxie das? Oder sind das Narrative, die einfach nur politisch gebraucht werden, weil sie ins Konzept passen? Treffen Sie in Ihren qualitativen Tiefeninterviews auf Leute, die wirklich davon überzeugt und durchdrungen sind?
Stoeckl: Nun, man kann das nicht pauschal beantworten, denn es gibt mit Sicherheit viele Personen, die das tatsächlich glauben und auch bereit sind, ihr Leben nach dem auszurichten. Ich teile Ihre Skepsis, ob Kyrill das wirklich selbst glaubt, vor allem angesichts der Tatsache, dass er vor 15 Jahren noch völlig anders gesprochen hat. Und dasselbe gilt, glaube ich, für Entscheidungsträger in der kirchlichen oder staatlichen Administration, die vielleicht auch aus Pragmatismus dann auf ein bestimmtes Narrativ einschwenken. In der qualitativen Forschung mit Aktivisten habe ich schon bemerkt, dass die wirklich genuin und authentisch motiviert sind. Diese Motivation ist aber eingebettet in eine viel größere politische Welterzählung. Und dann wird sie eigentlich erst zu einer christlich rechten Ideologie. Ich gebe Ihnen ein ganz einfaches Beispiel: Ich habe einen Kongress besucht, da ging es um Heimunterricht, also Homeschooling, nicht in Russland, aber von Russland organisiert, in einem westeuropäischen Land. Und eine Teilnehmerin hat mir dann erklärt, dass sie Mutter eines Militärs ist, der oft versetzt wird und deswegen die Kinder zu Hause unterrichtet. Und nach dem ganzen Tag von Reden und Erklärungen, warum Heimunterricht aus christlichen Gründen ja so wichtig ist, sagte sie dann "Heute habe ich gelernt, dass ein demokratischer und ein totalitärer Staat eigentlich dasselbe sind, denn beide wollen deine Kinder rauben." So werden Menschen, die eigentlich aus einem bestimmten Grund dort sind und Antworten suchen, hineingezogen in eine ganz allgemeine und große Weltsicht. Und das ist das, was die christliche Rechte für mich ausmacht und gefährlich macht.
Sie haben jetzt eben von Ihrem sorgenvollen Blick auf die christliche Rechte auch gesprochen. Nun stehen in Europa einige Wahlen an und es steht zu befürchten, das sagen wir jetzt auch sehr wertend, dass rechte Parteien in verschiedenen Ländern, sei es an die Regierung kommen oder zumindest sehr stark und nicht mehr ignorierbar wären, sei es in Deutschland, bei der AfD, in Österreich mit der FPÖ. Marine Le Pen ist auch immer noch ein Zugpferd in der französischen Politik. In Italien haben wir es schon mit Meloni. Wäre ein Sieg oder ein weiteres Erstarken der politischen Rechten für Sie automatisch ein Zeichen dafür, dass dahinter christliche Rechte stehen? Oder kann man das nicht eins zu eins sagen?
Anders als ein christlich demokratischer Mainstream, der für sich beschlossen hat, dass Demokratie die politische Ordnung ist, in der sie leben können, bekommen wir es mit Kräften zu tun, die der Meinung sind, Demokratie ist nicht mehr die Ordnung, die gedeihlich ist für ihre Weltanschauung. Und wenn sich das durchsetzt, dann riskieren wir tatsächlich, Demokratie zu verlieren. Und das ist das, was mich mit Sorge erfüllt.
Stoeckl: Nein, das kann man auf keinen Fall eins zu eins zu sagen. Es ist ja auch nicht gesagt, dass wenn diese Parteien an der Macht sind, dass dann christliche Werte tragend werden und vor allem werden sie oft in der Außenpolitik nicht tragend. Das hat man in Italien an Meloni und Salvini gesehen, die genau auf Tagungen waren, gemeinsam mit russisch-orthodoxen christlichen Aktivisten, und sich ganz klar hinter die europäische Linie im Ukrainekonflikt gestellt. In der Innenpolitik Italiens fahren sie eine stark konservative Linie. Also ich glaube, da muss man dann genau hinsehen und man darf sich darauf verlassen, dass diese Parteien oft pragmatisch argumentieren. Ich glaube, dass der springende Punkt der ist, dass anders als ein christlich demokratischer Mainstream oder großteils die Amtskirchen, die für sich beschlossen haben, dass Demokratie die politische Ordnung ist, in der sie leben können, bekommen wir es mit Kräften zu tun, die der Meinung sind, Demokratie ist nicht mehr die Ordnung, die gedeihlich ist für ihre Weltanschauung. Und wenn sich das durchsetzt, dann riskieren wir tatsächlich, Demokratie zu verlieren. Und das ist das, was mich mit Sorge erfüllt.
Dann sage ich Danke, Kristina Stoeckl, Professorin an der Freien Internationalen Universität für Soziale Studien in Rom. Danke für das Interview und danke für diesen Einblick in christliche Rechte und nationale Orthodoxie in Russland.
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