Warum Missbrauch in der Kirche ein Thema für die Theologie ist
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Podcast vom 3. März 2022 | Gestaltung: Henning Klingen*
Im Januar hat ein Gutachten einer Münchner Kanzlei zu einem kirchlichen Beben geführt, das in Form von hitzigen Debatten, Empörung und Kirchenaustritten bis nach Österreich hin spürbar war und ist. Es geht um das Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zum Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising. 1.900 Seiten stark dokumentiert es kirchliches und persönliches Fehlverhalten in zahlreichen Missbrauchsfällen zwischen 1945 und 2019. 235 Täter wurden aufgespürt, darunter 173 Priester, und 497 Opfer.
Was die Debatte in den folgenden Wochen bestimmte, war allerdings vor allem eine Sache: die Verantwortung von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., dessen Amtszeit zwischen 1977 und 1982 als Erzbischof von München genau in die untersuchte Zeit fällt. Der Vorwurf steht im Raum, Ratzinger habe im Blick auf eine Sitzung über einen Priester und Missbrauchstäters wissentlich gelogen. Anfang Februar ruderte er zurück und bat für das Versehen um Entschuldigung.
Doch wir wollen heute nicht über Joseph Ratzinger urteilen oder über einzelne Fälle des Gutachtens sprechen, sondern über das Problem des Missbrauchs an sich. Missbrauch - sei er körperlicher Art, sei er seelischer Art – ist ein Thema für die Kirche als Institution, für ihre Gremien, Einrichtungen. Aber ist Missbrauch auch ein Thema für die Theologie?
Darüber möchte ich mit meinen Gästen heute sprechen. Zum einen mit der Grazer Kirchenrechtlerin Prof. Sabine Konrad, dann mit dem Südtiroler Moraltheologen Prof. Martin Lintner – und schließlich mit der Wiener Pastoraltheologin Prof. Regina Polak. Herzlich willkommen!
Vielleicht sollten wir uns dem Thema mit ein paar Klärungen nähern. Frau Prof. Konrad – zunächst: Lässt sich klar benennen, was gemeint ist, wenn wir von Missbrauch im kirchlichen Raum sprechen?
Konrad: "Ja, es gibt da in der Tat eine sehr große Bandbreite an Verhaltensweisen, die hierunter fallen können. Die Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich hat einen Versuch unternommen, hier verschiedene Kategorien zu definieren. Denn nicht jedes Verhalten ist gleich schwerwiegend. Also hier gibt es wirklich Abstufungen im Verhalten und je nach Schweregrad. Jeder Mensch hat etwa eine natürliche Grenze um sich herum als Schutz, die, wenn sie überschritten wird, verletzend sein kann. Das markiert Grenzverletzungen. Das Verhalten ist aber nicht so schwerwiegend wie übergriffiges Verhalten. Übergriffiges Verhalten würde bedeuten, dass Grenzverletzungen regelmäßig und immer schwerwiegender passieren. Und dann gibt es natürlich noch die ganz schwerwiegende Kategorie der Straftaten. Und hier sind wir eben beim Begriff des Missbrauchs. Da haben wir sowohl spirituellen Missbrauch als auch sexuellen Missbrauch. Und hier muss man auch wieder unterscheiden zwischen sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Das bedeutet, dass hier auch körperliche Grenzen stark überschritten werden. Meistens fängt es leicht an mit zufälligen Berührungen, es ist aber als geplante Tat zu beurteilen und als nicht zufällig. Geistlicher Missbrauch ist eine Kategorie, die man im Moment noch zu definieren versucht. Also man weiß, dass es das gibt und darunter versteht man, dass mittels religiöser Inhalte oder unter der Berufung auf die geistliche Autorität Druck, Unfreiheit und Abhängigkeiten entstehen."
"Kirche in Österreich hat ihre Hausaufgaben gemacht"
Ist die Definition, die Sie genannt haben, dem staatlichen Recht entnommen, oder war das eine Darlegung zur kirchlichen Rechtsmeinung?
Konrad: "Das war jetzt rein kirchenrechtlich, also das, was die Rahmenordnung für die katholischen Kirchen definiert hat in den Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen bei Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche."
Welche Vorgehensweise sieht das Kirchenrecht, sieht die Rahmenordnung vor, wenn im kirchlichen Kontext ein Missbrauchsfall auftritt?
Konrad: "Also das ist jetzt ein sehr ausgebautes System mit verschiedenen Stellen. Es gibt verschiedene Anlaufstellen, an die sich der Betroffene oder die Betroffene wenden kann und die auch dann so handeln, wie der Betroffene es möchte. Also zum Beispiel, ob Informationen an die Diözesen, eine Kommission weitergegeben werden oder an den Diözesanbischof weitergegeben werden oder auch an die unabhängige Opferschutz-Kommission, die die Kirche eingerichtet hat. Ob das weitergegeben wird, entscheidet die Betroffene oder der Betroffene selbst. Oft sind die Erwartungen der Opfer sehr unterschiedlich. Manche möchten gar nicht, dass es weiter strafrechtlich verfolgt wird und andere wollen das unbedingt. Und manchmal sind die Erwartungen auch so, dass es um Entschuldigungen geht oder um ein Gespräch mit den Tätern. Aber wie damit umgegangen wird, entscheidet eben der Betroffene selbst."
Also kann man sagen, dass die Kirche, zumindest was den rechtlichen Rahmen angeht, in den letzten zwölf Jahren seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals ihre Hausaufgaben gemacht hat?
Konrad: "Ja, also ich sehe das so, dass sehr viel gemacht wurde, dass da durch diese diözesanen Kommissionen, die unabhängige Opferschutzanwaltschaft rein rechtlich gesehen sehr viel passiert ist und dass dieses System auch gut funktioniert."
Wir haben unseren Ausgang in München genommen, dem jetzt ja Gutachten in fast allen weiteren deutschen Diözesen folgen werden. Aber die Sache beschränkt sich ja nicht auf den deutschsprachigen Raum, sondern es gibt Ähnliches auch in anderen Ländern. In Italien ist kürzlich eine Datenbank mit Missbrauchsfällen online gegangen. 182 Stück sind dort dokumentiert. Die katholischen Bischöfe erwägen eine Untersuchung, heißt es. Da hat man fast den Eindruck: so richtig weit wie in Deutschland oder in Österreich ist man in Italien offenbar noch nicht. Trügt dieser Eindruck, Herr Prof. Lintner?
Lintner: "Der Eindruck trügt nicht, es ist tatsächlich so, dass Italien hinten nachhinkt und sich viel abschauen kann in besonderer Weise von Österreich. Ich erinnere mich noch sehr gut, als man in der Diözese Bozen-Brixen vor 10 Jahren die erste Präventionsstelle gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt eingerichtet hat. Da hat Südtirol so etwas wie eine Vorreiterrolle eingenommen für den gesamten italienischen Raum. Damals hat das ganz großes Aufsehen in Italien erregt und der damalige Bischof hat das eben damit begründet, dass wir an der Schnittstelle von Kulturen sind und damit natürlich auch durch das in diesem Falle dann positiv beeinflusst worden sind, was in Österreich schon viel länger und damals dann eben auch unter dem Druck dessen, was durch das Canisius-Kolleg in Berlin in Bewegung gesetzt worden ist. Mittlerweile ist es tatsächlich so, dass in Italien relativ viele Diözesen solche Präventionsstellen eingerichtet haben und erst langsam aber auch Anlaufstellen für Opfer von sexualisierter Gewalt oder sexuellem Missbrauch eingerichtet werden. Mittlerweile gibt es Diözesen, die das machen, aber eher unter dem Eindruck und unter dem Druck von dem, was im europäischen Ausland in diesem Sinne passiert und nicht so sehr in Italien selber. Wobei, wie Sie richtig sagen, von sehr vielen Betroffenen und auch Laienverbänden der Druck auf die Kirche jetzt wächst. Und die Studie, die Sie angesprochen haben: hier hinken die Bischöfe noch etwas nach bzw. sie haben eine gewisse Sorge, dass damit vielleicht zu viel an die Oberfläche kommen könnte, aber Bassetti hat sich sehr vorsichtig ausgedrückt: Er will jetzt eine Studie. Allerdings ist noch vollkommen offen, wer diese Studie durchführt, ob das die Kirche selber intern macht, in dem eben nur die gemeldeten Fälle tatsächlich dann auch aufgearbeitet werden. Oder ob es eine unabhängige Studie sein soll, die zugleich dann eben auch die strukturellen Hintergründe beleuchtet. Das ist derzeit noch offen. Ich hoffe, dass sich die Kirche dann entscheiden wird für zweiteres."
Kommen wir jetzt über die Schleife nach Österreich und zu Frau Prof. Polak. Auch hier wird ja die Situation in Deutschland wahrgenommen. Auch hier steigen die Austrittszahlen. Aber hier verweisen Kirchenvertreter immer wieder auf die Klasnic-Kommission, die 2010 von Kardinal Schönborn eingesetzt wurde. In Österreich habe man rasch und Opfer zentriert reagiert. Daher braucht es eigentlich auch keine Kanzlei wie die in München, die die Dinge extern aufarbeitet: Das ist die das Narrativ, was man in Österreich verfolgt. Ist das eigentlich aufrichtig? Geht diese Rechnung auf? Ist Österreich tatsächlich so ein Vorreiter?
Polak: "Missbrauch ist eine eminent theologische Frage"
Polak: "Also ich glaube, was diese strukturelle Aufarbeitung angeht, ist Österreich in Bezug auf die Klasnic-Kommission und das rasche Agieren tatsächlich ein Vorreiter. Der zweite Teil dessen, was Sie gesagt haben, da bin ich nicht ganz so dieser Ansicht, weil das kann natürlich auch dazu führen, dass man das gesamte Thema Missbrauch quasi externalisiert und als ein Problem von einzelnen darstellt. Also diese strukturelle Form der Aufarbeitung hat schon noch einen gewaltigen Schatten, den ich generell als problematisch betrachte. Ich glaube, dass das Thema Missbrauch ein Thema ist, mit dem sich die ganze Kirche beschäftigen muss. Es ist auch nicht nur eine strukturelle Frage, es ist auch eine eminent theologische Frage, weil sexueller Missbrauch sehr oft mit spirituellem Missbrauch in Verbindung auftritt, auch wenn der letztere nicht so eindeutig definiert ist. Aber wenn man sich das mal genauer anschaut, welche Vorgeschichten es gibt, bis es zu beispielsweise gewaltsamen Übergriffen kommt, gibt es regelmäßig spirituelle Beziehungen, die mit spirituellen und damit auch mit theologischen Aussagen in Verbindung gebracht werden. Und wenn man sie genau anschaut, wird man feststellen: die damit verbundenen Gottesbilder, die Vorstellungen davon, was ein Priester ist, die finden sich jetzt quasi nicht mehr im Umfeld von Missbrauch, sondern die finden sich auch in der ganz normalen Pastoral wieder. Also insofern ja, ich finde, Österreich hat eine Vorreiterrolle. Man kann da viel lernen und ich glaube, dass die ganze Kommission da ganz ausgezeichnete Dinge gemacht hat. Es wäre auch interessant, das mal wissenschaftlich zu evaluieren, um noch weiter zu lernen und das, was man da gelernt hat, auch in andere Länder zu kommunizieren."
Ich möchte noch einen zweiten Anlauf im Blick auf die Klasnic-Kommission nehmen und eine provokante Frage oder These in den Raum stellen: In Deutschland ist jetzt der Ertrag oder das Besondere des Gutachtens in München gewesen, dass eine Umkehr der Sicht stattgefunden hat. Man schaut in Österreich sehr stark und völlig zurecht auf die Opfer und das, was ihnen zugestoßen ist. In Deutschland hat man jetzt mit dem Gutachten die nächste Stufe genommen und blickt nun auf die Täter. Ich habe den Eindruck, das tut man in Österreich nicht oder noch nicht so, das ist auch nicht die Aufgabe der Klasnic-Kommission. Deswegen die Frage: Braucht es vielleicht doch ein solches externes Gutachten, um jetzt die Täterfrage in den Blick zu nehmen in Österreich?
Konrad: "Ja, da haben Sie vollkommen recht, dass die Klasnic-Kommission und auch die diözesanen Kommissionen alle die Opfer im Blick haben. Das ist die Perspektive. Und es ist auch nicht das Ziel, die individuelle Schuld von Tätern zu ermitteln. Das machen die Kommissionen nicht, sondern die Opfer haben hier eine Anlaufstelle und werden gehört. Und es wird eben versucht, ihnen Hilfe, Finanzhilfen oder Therapiehilfen zukommen zu lassen. Die Täter werden von denen tatsächlich nicht in den Blick genommen. Und es macht aber auch diese Kommissionen aus, dass natürlich auch den Opfern die Möglichkeit gegeben wird, sich zu öffnen und auch in einem sicheren Rahmen sich an die Stellen zu wenden. Ein externes Gutachten ist rein rechtlich gesehen eine individuelle oder private Meinungsäußerung. Es ist kein Gutachten, das von einem Gericht in Auftrag gegeben wurde. Insofern sind die Konsequenzen, die daraus gezogen sind, rein individuell. Also jeder, wie er damit umgeht: Der eine tritt aus der Kirche aus, der andere, der vielleicht ein Verantwortungsträger in der Kirche ist, überlegt sich: Welche Strukturen müssen wir verändern, damit so was nicht mehr passiert? Also insofern: es kann die Augen öffnen, je nachdem, welche Position man innehat. Und daher denke ich in dieser Situation ist es immer gut, neue Perspektiven auch zu beleuchten und anzuschauen."
Polak: "Eine sehr österreichische Lösung also, ja, die ich auch für wertvoll erachte. Ich sage aber auch kritisch dazu: Es gibt halt auch in Österreich diese Kultur, dass man nicht gerne über etwas spricht, also dass so Themen wie Schuld und Verantwortung nicht zu den Lieblingsthemen der gesamten Gesellschaft gehören. Das macht man auch im kirchlichen Raum nicht gerne. Ich verstehe es momentan auch, wenn man sich anschaut, was jetzt quasi die wirkliche mediale Hetze angeht, die man in Deutschland beobachten kann, wo man ja manchmal nicht unbedingt das Gefühl hat, es geht jetzt irgendwie um die Sache, sondern die Kirche wird da eine Projektionsfläche für ein Problem, das auch die Gesellschaft hat. Ich würde mir auch wünschen, dass andere gesellschaftliche Institutionen genauso das Missbrauchs-Thema aufgegriffen hätten. Ich kann verstehen, warum man das sehr zögerlich ist, weil man diese Kirchenkrise nicht noch verschärfen will. Aber aus einer theologischen Perspektive halte ich das für problematisch, wenn man nicht auch Taten benennt. Es geht natürlich nicht um Stigmatisierung oder um eine Art 'Ausspeien' diese Personen. Aber es gehört eigentlich zu unserer christlichen Tradition dazu, Taten beim Namen zu nennen und dann Wege zu finden: Wie geht man mit Vergebung um? Wie geht man mit Versöhnung um? Wie übernimmt jemand Verantwortung? Wie schaut das mit der Reue aus? Also das ist für mich schon noch ein Beispiel dafür, wie wir generell kirchlich mit dem ganzen Thema Schuld und Verantwortung umgehen. Ich vermisse da etwas und da geht es jetzt nicht darum, Täter zu dämonisieren. Und auch das ist eigentlich eine Angelegenheit der ganzen Kirche. Und da gibt es auch ein Interesse von Gläubigen daran. Also mir fehlt da schon etwas, muss ich sagen, aber der Moraltheologie kennt sich da sicher noch besser aus, wenn es um Schuld und Vergebung geht..."
Lintner: "Opfer schützen, Täter und Verantwortung benennen"
Lintner: "Also ich denke, dass zunächst einmal diese Entwicklung, dass die Kirche die Opfer in den Blick genommen hat, positiv zu würdigen ist. Denn sie hat sich ja lange genug mit sich selber auseinandergesetzt und mit den eigenen Tätern leider im Sinne von Täterschutz auseinandergesetzt, sodass dieser Schritt und diese Sensibilität, die wir haben, die Opfer in den Blick zu nehmen, ihr Leid in den Blick zu nehmen, uns zu fragen: Wie können wir ihnen gerecht werden? - Das alles hat meines Erachtens die Klasnic-Kommission gemacht; und das ist zu würdigen. Allerdings eben im Zuge der Aufarbeitung geht es natürlich auch um die Frage: Wer übernimmt wofür Verantwortung? Und für mich ist es äußerst interessant gewesen zu beobachten diese ganze Debatte jetzt eben in Bezug auf Joseph Ratzinger. Denn meines Erachtens hätte man hier ganz deutlich zwei Sachen differenzieren müssen: Einmal, dass man wirklich von der objektiven Perspektive her feststellt und auch versucht zu verstehen und zu untersuchen, wie es zu gewissen Fehlentscheidungen gekommen ist, für die er eben natürlich in seinem Amt damals als Erzbischof von München die Verantwortung trägt. Da gibt es nichts zu rütteln: Er hatte damals für den Einsatz von Priestern in seiner Diözese die letzte Verantwortung. Unabhängig davon, ob er jetzt gewusst hat oder nicht: was passiert ist in der Kirche war es ja, wenn ich jetzt beispielsweise denke an den Umgang mit Geschiedenen und Wiederverheirateten: Gerade unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. und von Benedikt XVI. war es immer so, dass man gesagt hat: Dieser objektive Sachverhalt, der ist der wesentliche und der ist der entscheidende. Das andere, die persönliche, die subjektive Dimension, die berücksichtigen wir zwar, aber auf der Ebene der Konsequenzen ist das entscheidend, was objektiv feststellbar ist. Während jetzt plötzlich im Umgang mit diesem Gutachten in München sich die Sache vollkommen umdreht. Ich meine, ich kann nicht wissen, ob Ratzinger damals persönlich schuldig geworden ist oder nicht. Das kann er nur selber bekennen. Und ich muss es ihm dann glauben oder nicht. Und da könnte man nur hoffen, dass mehr und mehr Täter diese Verantwortung übernehmen. Auch jene, die Mitverantwortung tragen, dass sie wirklich das benennen, wo sie sagen: Hier bin ich meiner Verantwortung nicht nachgekommen. Und zwar konkret benennen. Dieses allgemeine Schuldbekenntnis, das wir alle im Gottesdienst beten, das reicht nicht aus. Und das, glaube ich, hat auch ganz zu Recht eine Empörung hervorgerufen. Bei ganz vielen auch auf die zweite Erklärung, die der emeritierte Papst denn hier noch einmal nachgeliefert hat."
Wenn Theologie pathologische Formen annimmt
Damit haben wir jetzt schon einige theologische Paradigmen gestreift: Frau Polak hat darauf hingewiesen, dass Spiritualitäten pathologisch werden können. Heißt es denn eigentlich, dass die Theologie da auch selber noch Hausaufgaben zu machen hat?
Polak: "Ich wäre schon zufrieden, wenn vieles von dem, was in der Theologie schon längst bekannt ist, entsprechend rezipiert würde. Also ich meine, die Theologie muss immer Hausaufgaben machen, weil auch wir nicht abgeschlossene, endgültige 'Everlasting Truth' haben. Was man wahrscheinlich zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass auch ein Theologiestudium als solches noch nicht automatisch zu einer Veränderung der mitgebrachten Spiritualität führt. Was man wahrscheinlich viel bewusster wahrnehmen muss, ist, dass in unseren Hörsälen Menschen mit unterschiedlichen Spiritualitäten sitzen, wo sich eben auch solche Spiritualität findet, die problematisch und vielleicht auch pathologisch sein kann. Und dass man auch damit rechnen muss, dass in unseren Hörsälen Studierende sitzen, die selber Erfahrungen mit dem Missbrauch haben."
Lintner: "Ich denke, dass ein ganz wesentlicher Aspekt der ist, dass wir unsere eigene Verantwortung wahrnehmen, erkennen, eingestehen müssen in Bezug darauf, dass sehr viele Menschen sich nicht nur von der Kirche entfremden und sie auch verlassen, Kirchenaustritte beispielsweise, sondern auch in ihrem Glauben behindert werden. Ich habe noch lebhaft in Erinnerung, wie Kardinal Schönborn mittlerweile auch bereits vor zehn Jahren im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche von Gottesvergiftung gesprochen hat und damit eben Bezug genommen hat auf die Opfer, denen eine positive Glaubensbeziehung, Gottesbeziehung verunmöglicht wird, und zwar oft wirklich über Jahrzehnte, wenn nicht sogar ein ganzes Leben lang. Und da denke ich an das, was das Zweite Vatikanum in Bezug auf den Atheismus gesagt hat in Gaudium et Spes: dass es auch einen Atheismus gibt, der von der Kirche, von uns als Glaubensgemeinschaft verantwortet ist. Also ich glaube, wir haben als Kirche die Aufgabe, genau da dran zu bleiben und unsere Fehler, unsere Schuld auch wiedergutzumachen, wenn es denn möglich ist."
Damit haben sie schon die Kurve zur Schlussrunde angesteuert. Wenn Sie ein wenig prospektiv nach vorne blicken könnten: sehen Sie denn bei dem Thema irgendwie Licht am Ende des Tunnels? Also Licht am Ende des Tunnels insofern, dass den Opfern nachholende Gerechtigkeit geschieht, Täter kirchlich oder säkular geahndet werden, zur Konsequenz gezogen werden. Und Kirche als Institution in irgendeiner Form geläutert oder anders hervorgeht? Ist da der synodale Prozess, der jetzt läuft, ein Hoffnungsschimmer für Sie?
Lintner: "Also, wenn ich einsteigen darf in die Beantwortung dieser Frage: Ich persönlich habe tatsächlich geglaubt, dass wir weiter sind, aber die Debatte derzeit in vielen Bistümern in Deutschland und wie ich eingangs ja auch gesagt habe, in Bezug auf Italien, da sehe ich tatsächlich, wie viel Resistenzen es noch gibt. Ich sehe bei sehr vielen Bischöfen, aber auch bei einfachen Gläubigen sehr viele Ängste und sehe einfach noch einen blutig harten Weg vor uns liegen. Und in besonderer Weise das, was mich auch immer wieder erschüttert: die Begegnung mit Betroffenen, wenn sie sich in geistlichen Gesprächen anvertrauen, dass die Kirche nicht imstande ist, glaubwürdig den Eindruck zu vermitteln, dass sie tatsächlich bemüht ist, alles zu tun, um einerseits Prävention zu leisten, aber wirklich eben das Unrecht, das durch Kirche zugefügt worden ist, eben auch aufzuarbeiten. Da gibt es sehr viele Lippenbekenntnisse, so ganz glaubwürdig ist sie in vielen Bereichen hier noch nicht."
"Ich dachte, dass wir in diesen Fragen schon weiter sind"
Polak: "Ich schließe mich dem absolut an. Ich nehme das sehr ähnlich wahr. Wenn die Kirche begreift, welche Erschütterung das eigentlich ist für uns in jeglicher Hinsicht, und wenn sie sich an ihre eigene Tradition erinnert, dass die Wahrheit uns frei machen wird, also quasi den eigenen Glauben und Gott ernst nimmt. Und das heißt: man kann und darf Schuld und Verantwortung benennen, ohne sich fürchten zu müssen, dass man damit auf alle Zeiten verbannt ist - wenn sie sich an dieses Erbe erinnern könnte, dann kann auch dieses Drama, das noch lange nicht ausgestanden ist, eine Chance sein, etwas zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Aber einfach wird das nicht. Und ich finde diesen Widerstand eigentlich auch ein Zeichen von einem ziemlichen Misstrauen: Die Angst, Schuld zu benennen, muss so unglaublich groß sein, dass das offensichtlich nicht geht. Da traut man offenbar der eigenen Tradition nicht."
Konrad: "Ja, da kann ich mich nur anschließen, dass ich auch denke, dass die Wahrheit das ist, was jetzt wirklich ergründet und aufgearbeitet werden soll und dass da auch noch ein langer Prozess bevorsteht. Ohne das wirklich aufzuarbeiten, wird es auch keinen Neuanfang geben können. Was den synodalen Prozess angeht, bin ich davon überzeugt, dass wenn wir diese Chance gut nutzen, dass uns dieser Prozess dann auch weiterbringen kann. Aber dazu möchte ich wirklich betonen: Wir müssen das klug machen. Wir dürfen nicht über das Ziel hinausschießen wollen, sondern es muss wirklich realistisch gesehen werden. Was können unsere nächsten Schritte sein? Wie können wir mehr Partizipation für Laien und für das Volk Gottes schaffen? Da gibt uns die Kirche schon durch die bestehenden Strukturen sehr viele Möglichkeiten, die ausgebaut werden können. Und wenn wir das klug machen, denke ich, ist es eine besonders gute Chance für die Kirche, in die Zukunft zu gehen."
Das sagt Sabine Konrad, Kirchenrechtlerin an der Universität Graz. Und das war's auch schon wieder mit dieser neuen Folge von Diesseits von Eden. Vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.