600 Jahre Wiener Gesera: Universität und Katholisch-Theologische Fakultät räumen Mitverantwortung ein
Foto: Ouriel Morgensztern
Podcast vom 12. März 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Mit diesem jüdischen Totengebet – gesungen vom Wiener Oberkantor Shmuel Barzilai – endete am Freitag, 12. März, ein historischer Gedenkakt: An den Grundmauern der zerstörten Synagoge von Wien gedachten Vertreter der Universität Wien, der Katholisch-Theologischen Fakultät und der Israelitischen Kultusgemeinde des 600. Jahrestages der "Wiener Gesera". Darunter wird die Verfolgung und Vernichtung der Juden im damaligen Herzogtum Österreich unter Herzog Albrecht V. verstanden. Ein Ereignis, das am 12. März des Jahres 1421 seinen traurigen Höhepunkt fand: Vor den Toren Wiens wurden damals mehr als 200 Jüdinnen und Juden auf Anweisung des Herzogs verbrannt. Eine Mitschuld und Mitverantwortung an diesem dunklen Kapitel räumte nun im Zuge des heutigen Gedenkens die Wiener Katholisch-Theologische Fakultät ein. Dazu Dekan Prof. Johann Pock:
"Die Theologische Fakultät in Wien hatte damals eine doppelte Verantwortung oder Mitverantwortung. Zum einen hat sie den Herzog Albrecht V. versorgt mit Begründungen und Argumenten für die Judenverfolgung. Sie haben praktisch ideologisch zugearbeitet, indem sie die jüdischen Schriften schlecht gemacht haben, ihnen Hostienfrevel und andere unbewiesene Dinge vorgeworfen haben. Aber sie haben das praktisch auch gelehrt, d. h. sie haben auch Prediger ausgebildet, die genau das auch verkündigt haben. Und die zweite Mitverantwortung war einfach, dass sie auch geschwiegen haben dazu, was da geschehen ist, d. h. wie dann die Vertreibung und die Ermordung der Juden geschehen ist, sind keine Theologen aufgestanden und hätten dagegen geredet oder irgendetwas gesagt."
Treitler: Fakultät hat sich "in Gleichgültigkeit ergangen"
In einem überlieferten Fakultätsprotokoll aus dem Jahr 1419 ist etwa von den dem "genusssüchtigen" Lebenswandel der Juden die Rede. Zudem sei "einiges in ihren Büchern, das fluchwürdig ist, wie die Beleidigung des Schöpfers, die Gotteslästerung Christi sowie aller Heiligen und die äußerste Herabsetzung aller Christen." Doch ist es gerecht und richtig, heutige Maßstäbe auf die Geschichte, auf das Mittelalter anzuwenden? Ja, sagt Prof. Wolfgang Treitler, der maßgeblich an der Erklärung der Fakultät mitgewirkt hat. Denn wenn heute der Ereignisse gedacht und ein Schuldeinbekenntnis gesprochen wird, so bedeutet dies auch und zuallererst, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen:
"Die theologische Ausrichtung der Fakultät damals war im antijüdischen Mainstream durchaus drinnen. Da gab es wirklich keine unterscheidenden Merkmale. Das Ganze ist ja über jahrhundertelange Traditionen des Christentums gelaufen und hat dann auch in dieser wirklich politisch katastrophalen Situation dazu geführt, dass die Fakultät überhaupt keinen Widerstand gezeigt hat. Man hat sich, wie man es mit Elie Wiesel heute sagen könnte, in Gleichgültigkeit ergangen. Und das war für mich schon auch irgendwie durchaus erschütternd. Das Entscheidende für uns heute besteht nicht darin, dass ich Vergangenes als Schuld aufrechne, sondern dass ich für mich heute gegenwärtig in einer langen theologischen Tradition erkenne, was nicht mehr sein darf. Also ich bin nicht verantwortlich für das, was die Leute 1419/20/21 gedacht und geschrieben haben, sondern ich bin verantwortlich für die Rezeption dieser Dinge von damals heute in einem hoffentlich doch ganz anderen theologischen Setting."
Pock: Geschichte ist Auftrag und Verpflichtung
Man wollte also nicht bei einem bloßen Schulbekenntnis stehen bleiben. Und so spricht die Erklärung, die im Rahmen des Gedenkaktes an IKG-Präsident Oskar Deutsch überreicht wurde, auch eine vierfache Selbstverpflichtung der Fakultät aus. Noch einmal Dekan Pock:
"Für die katholisch-theologische Fakultät ist diese Geschichte Auftrag und Verpflichtung, ganz klar auch mit der jüdischen Gemeinde und mit der jüdischen Theologie zusammenzuarbeiten. Also ganz konkret die wissenschaftliche Forschung voranzutreiben gegen jegliche Art von Antisemitismus und Rassismus. Und da verpflichten wir uns, dass das weiterhin einen Schwerpunkt sowohl in unserer Lehre darstellen wird, die im Studienplan ist verankert, als auch in unserer Forschung. Und wir bekennen uns auch dazu, dass keine theologische Lehrmeinung mehr wert sein darf als irgendein Menschenleben."
Aber sollte diese Offenheit für das Judentum, das Bedenken möglicher christlich motivierter Antijudaismen nicht eine Selbstverständlichkeit sein im Jahr 2021? Ja, sagt Dekan Pock, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe sich diesbezüglich viel getan – aber: Man dürfe sich nicht ausruhen, nicht nachlassen in dem Bemühen, den Studierenden immer wieder neu zu erklären, wie wichtig der Dialog mit dem Judentum ist. Darin seien sich im Übrigen alle theologischen Fakultäten in Österreich weitgehend einig:
"Der Dialog mit dem Judentum, das ist etwas, was für alle Fakultäten inzwischen Standard ist. Natürlich ist es in Wien noch einmal einfacher, weil wir die jüdische Gemeinde vor Ort haben, das Jüdische Museum. Aber grundsätzlich ist das auch an den anderen Fakultäten in Österreich Standard. In den biblischen Fächern geht's gar nicht anders als im Dialog mit dem Judentum. Viele Lehrende haben auch in irgendeiner Form entweder in Jerusalem studiert oder haben wirklich sehr enge Verbindungen zum Judentum und zur jüdischen Gemeinde."
Jäggle: Auf Zukunft hin handeln
Dankbar zeigte sich für die Erklärung auch der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle. In seiner aktiven Zeit als Dekan der Fakultät hatte er bereits vor zehn Jahren das Thema vorangetrieben und bis heute darauf gedrängt, dass die Fakultät und die Universität Wien sich öffentlich zur Gesera äußern und ihre Verantwortung einräumen.
"Dass es 600 Jahre dauert, dass Mord ein Gedenken findet und eine Anerkennung als Mord, ist ja schon unglaublich. Und dass die Plünderung der Juden damals und ihre Ermordung nur mit religiöser Legitimierung überhaupt einem Herzog möglich war, dass das jetzt anerkannt ist und die Institution Verantwortung übernimmt und nicht nur der Opfer gedenkt, sondern auf Zukunft hin anders handeln wird - also das ist eine Freude. Das war in diesem Maße gar nicht absehbar."
Auch IKG-Präsident Oskar Deutsch zeigte sich dankbar für die Initiative. So werde etwa deutlich, wie weit die Geschichte des Judentums in Österreich zurückreiche. Und die Gesera zeige die verheerende Wirkung des Antisemitismus auf, der schon lange vor der Schoah seine hässliche Fratze zeigte:
"Leider ist es so, dass Antisemitismus schon immer verankert war. Es gab Ups und Downs, ja, aber und das Ganze beginnt hier nicht mit dem Mord an 200 Leuten, sondern beginnt mit Worten, beginnt mit Hassparolen. Aber um aus der Sache auch etwas Positives zu lernen: Wir lernen, dass Juden, dass das Judentum schon über 600 Jahre lang Teil der österreichischen Gesellschaft war. Und das ist wichtig, dass das alle wissen."
Zurück zu Kantor Shmuel Barzilai und dem gesungenen Totengebet an den Grundmauern der zerstörten Synagoge – die im Übrigen im Rahmen einer sehenswerten Ausstellung im Wiener Jüdischen Museum am Judenplatz besichtigt werden können. Diese Grundmauern sind nicht nur stumme Zeugen einer dunklen Geschichte, sondern es gibt auch eine direkte Verbindung zur Geschichte der Universität Wien: Denn Steine der damals abgerissenen Synagoge wurden in der Folge für den Ausbau von Universitätsgebäuden verwendet und konfiszierte hebräische Bibelhandschriften fanden ihren Weg in die Bibliothek der theologischen Fakultät. Die Geschichte der Stadt Wien und ihrer Universität – sie bleibt aufs engste Verwoben mit der Geschichte des Judentums in Österreich. Daran erinnerte auch Rektor Heinz Engl bei der Gedenkveranstaltung. Und er betonte gemeinsam mit Dekan Pock, dass das traurige Kapitel der Wiener Gesera zugleich ein Auftrag für heute bedeute, jeder Form des Antijudaismus auch in Lehre und Forschung eine Absage zu erteilen.