Wenn ich "Ich" sage: Auf den Spuren des Subjekts in Krisenzeiten
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Podcast vom 19. August 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Die Sommermonate sind traditionell im akademischen Bereich jene Monate, in denen der Lehrbetrieb zwar ruht, die Zeit jedoch genutzt wird, um neue Projekte vorzubereiten, vieles zu lesen, was übers Jahr liegen geblieben ist, und schlicht nachzudenken. Aktiver Müßiggang sozusagen, wie ihn schon die antike Philosophie geschätzt hat. Gewiss, die Zeiten lassen kaum Atem schöpfen, Krisen – ob weltpolitischer oder pandemischer Art – machen keine Ferien. Aber dennoch wollen auch wir hier in diesem kleinen, feinen Podcast uns diesmal aus den Mühen des Alltagsgeschäfts ein wenig erheben. Damit also herzliche Willkommen zu einer neuen Folge "Diesseits von Eden" sagt Henning Klingen.
Worum geht’s? Es geht um Philosophie – und um nichts Geringeres als um die Frage, was denn der Mensch sei; und wie er wurde, was er in der Gegenwart ist. Corona hat ja auch "etwas" mit dem menschlichen Selbstverständnis gemacht. "Vulnerabilität" – Verletzlichkeit – ist in aller Munde. Das seit dem Idealismus so stark gedachte Subjekt – es erscheint plötzlich brüchig, abhängig, schwach. Anlass genug also, sich diesen großen Fragen zu widmen.
Keine Sorge, ich werde nicht über diese großen Fragen räsonieren. Das überlasse ich zwei Kollegen, die darüber ein Gespräch geführt haben: Der Südtiroler Altphilologe und Philosoph Andres Pizzinini von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen – und der Innsbrucker christliche Philosoph Daniel Wehinger. Die beiden haben ein gelehrtes Gespräch über diese Fragen geführt, durch das ich Sie in den nächsten Minuten führen möchte.
Den Aufschlag macht dabei Andres Pizzinini mit einem Rekurs auf das Verständnis des mittelalterlichen Menschen. Denn hier fängt alles an. Wer die grundstürzenden philosophischen Erkenntnisse der frühen Neuzeit und schließlich der Moderne verstehen möchte, muss weit, weit zurückgehen.
"Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mensch im Mittelalter für sich selbst keine letzte Realität darstellte. Natürlich hatte der Mensch im Mittelalter ein Bild von sich selbst und er konfrontierte sich mit der Frage 'Wer bin ich eigentlich?' Doch glaubte man nicht allein innerliches, authentisches Selbst im Sinne Rousseaus, also jenseits vom Lebensweg, der einem zugeteilt wurde, und hinter der Rolle, die man in der Gesellschaft spielte. Blickte der Mensch in den Brunnen der eigenen Seele, so spiegelte sich ihm aus der Tiefe nicht sein wahres Selbstbild zurück, sondern das Antlitz Gottes, seines Schöpfers. Zu diesem Entschluss gelangte auch der Kirchenvater Augustinus, dessen eigene psychologische Introspektion zur Überzeugung des eigenen Geschaffenseins führte. Das Maß, nachdem der Mensch sich selbst erfasste und auf dessen Grundlage er sich moralisch beurteilte, war jenes Urbild, nach dem Gott uns geschaffen hat."
René Descartes: Wende zum Subjekt
Eine sehr christliche Vorlage – die von der Philosophie immer wieder zerlegt, dekonstruiert, auch verächtlich gemacht wurde. Wohl auch aus gutem Grund, wie der christliche Philosoph Wehinger darlegt. Denn irgendwann hielt Kants bestirnter Himmel nicht mehr, was er versprach – irgendwann war das "Subjekt" reif, sich loszusagen von den göttlichen Ketten; auch wenn diese Reise bis heute eine Reise ins Ungewisse, Ungefähre geblieben ist. Aber hören wir dazu Daniel Wehinger, der den Ursprung dieses Denkens, dieses Erwachens, sehr genau fixiert – und zwar bei René Descartes im 17. Jahrhundert:
"Ich denke, da müssten wir zurückgehen zu Descartes und zur großen Wende zum Subjekt, die sich in der cartesianischen Philosophie vollzogen hat. Zu Descartes Entdeckung des Ich. Denn diese Entdeckung hat ja die Moderne eingeläutet, so kann man sagen. Was war jetzt Descartes' Motivation? Er war in seiner Philosophie auf der Suche nach einem so genannten 'fundamentum inconcussum', also nach einem unbezweifelbaren Fundament, auf das man alles andere stellen kann. Und er hat dieses Fundament in sich selbst gefunden. Im Ego, im Ich. Das eigene Subjekt wurde ihm zu Boden, auf dem man alles andere aufbauen kann, zum Fundament, auf dem alles andere steht. Und ich glaube, dass diese Suche nach einem absolut verlässlichen Boden durchaus ein Grundzug der Moderne ist. Und diese Suche hat zwei Momente, vereint zwei Bewegungen in sich: Zum einen spricht aus der Suche ein großer Optimismus, eben insofern Descartes davon ausgeht, dass es dieses unbezweifelbare Fundament gibt, dass wir einen Boden finden können, der jedem Zweifel enthoben ist. Also einen Grund, auf dem alles steht. Andererseits zeigt diese cartesianischen Suche auch, dass die alten Fundamente zu schwanken scheinen, dass sie nicht mehr so verlässlich sind, wie man einst glaubte. Die Fundamente, von denen man im Mittelalter noch ausging, haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Und unter diese Rücksicht ist die Suche nach einem Fundament, an dem der Zweifel abprallt, auch Ausdruck einer grundsätzlichen Verunsicherung. Ich glaube man könnte sagen, dass das Mittelalter in gewisser Weise eine gelassenere Erkenntnistheorie hatte."
Eine "gelassene Erkenntnistheorie", ein sich-Einkuscheln in eine vielleicht mehr gefühlte denn gewusste Geborgenheit in die Idee des Schöpfergottes – all das kann man sich seit Descartes somit nicht mehr leisten. Man muss schon mehr in die Waagschale werfen, wenn man das Subjekt und Gott zusammendenken möchte. Doch da hat auch das Mittelalter und die Antike noch etwas zu bieten, wie Andres Pizzinini berichtet. Und zwar den Körper, das Materielle. Denn so vergeistigt, so spirituell seien die christlichen Denker nun auch wieder nicht gewesen. Der Faden zu den frühen, auch christlichen Denkern des Ich – er ist vielleicht doch noch nicht ganz gerissen…:
Körper und Seele im Mittelalter
"Der menschliche Körper galt als jener Teil der materiellen Wirklichkeit, der uns denkenden und empfindenden Wesen am nächsten ist und das, glaube ich, hat sich bis auf den heutigen Tag nicht verändert. Auch wenn die mittelalterlichen Theologen und Philosophen häufig Vorbehalte gegen die materielle Wirklichkeit hatten, waren sie gleichzeitig bemüht, auch diese Wirklichkeit in den Heilsplan Gottes aufzunehmen. Konkret bedeutet dies, dass der Körper zum Träger einer Botschaft werden konnte, der auf dessen Schöpfer zurückverwies. Als Beispiel sei hier auf den irischen Theologen aus dem neunten Jahrhundert, Johannes Scottus Eriugena, genannt. Er hat in diesem Sinne die gesamte materielle Wirklichkeit zu einem einzigen Symbol für eine transzendente Welt erhoben. Die Materie löst sich in diesem Sinn bei ihm in eine intelligible, also geistige Wirklichkeit auf. Auch im Hochmittelalter wurde der Körper und mit ihm die ganze materielle Wirklichkeit nicht außerhalb von Gottes Wirklichkeit konzipiert. Das zeigt sich z.B. in der Auffassung des Körpers bei Thomas von Aquin. Dem Körper kommt hier eine gewisse eigene Wirklichkeit zu. In der künstlerischen Darstellung der Zeit macht sich entsprechend ein Verhalten Realismus bemerkbar. Diese körperliche Wirklichkeit ist allerdings eine, die nicht ohne die Seele des Menschen im vollen Sinne des Begriffes existiert. Die Seele verleiht gemäß der aristotelischen Lehre dem Körper erst seine volle Realität. Also wir sehen: die Vorstellung einer reinen materiellen Wirklichkeit an sich war dem mittelalterlichen Denken fremd."
Für die im Gleichschritt mit den Naturwissenschaften marschierende Philosophie des 17. Jahrhunderts war das wohl nur noch Wortgeklingel. Körper und Seele als Einheit denken? Und das auch noch vor einem Schöpfergott? Nein, das ging nicht mehr. Körper, das wurde schließlich immer mehr zum mechanischen Räderwerk reduziert. Der hehre Geist, das reine Ich, der Sitz des Subjekts hingegen überwölbte diese Körperlichkeit. Noch einmal Daniel Wehinger:
"Also da müssen wir wieder zurück zu Descartes kommen und uns sein Körperverständnis anschauen; und dieses Körperverständnis kann man einfach auf die Formel bringen: Der Körper ist eine Maschine. Für Descartes wird der Körper zur Maschine, die als Maschine rein mechanistisch beschreibbar ist und eine mechanistische Beschreibung ist für ihn eine Beschreibung anhand von Druck und Stoß, die kleinsten Bestandteile aufeinander ausüben. Man denke an das Bild vom Billardkugeln-Universum: Für Descartes war der menschliche Organismus wie jeder andere Organismus auch durch und durch Teil des Billardkugel-Universums. Alle Bewegungen des Körpers und alle Bewegungen im Körper wurden vollständig zurückgeführt durch Descartes auf die mechanistischen Einwirkungen von kleinsten Bestandteilen des Körpers aufeinander. Wie kommt Descartes auf diese Idee? Diese mechanistische Deutung des Körpers war ganz klar eine Gegenbewegung zum Aristotelismus denn im Aristotelismus wird eine grundsätzliche Eigendynamik der Lebewesen angenommen. Es wird angenommen, dass Organismen sich dadurch auszeichnen, dass sie Selbstbeweger sind, sich von sich aus auf Dinge in der Welt zubewegen. Und wenn wir jetzt noch weitergehen, dann sieht man, dass Aristoteles die ganze Natur als dynamisch angesehen hat. Er hat Ziele in der Natur gesehen. Es gab für ihn ein Streben in der Natur. Es gab für ihn eine Richtung natürliche Prozesse. Also hier an ein klares Nein zu mechanistischen Deutungen der Welt, die es ja auch schon in der Antike gegeben hat. Wiederum die Frage: Was ist nach Descartes passiert? Bei Descartes ist zwar der Körper durch und durch eine Maschine, aber für ihn ist der Mensch als ganzer nicht rein mechanistisch zu fassen. Denn der Mensch ist für ihn eben Subjekt, ist 'Ich', ist Ego - und das Ich ist für ihn durch und durch immateriell. Bald nach Descartes hat sich aber ein mechanistischer Materialismus entwickelt. In dieser Tradition wurde eben das cartesianische Bild des Körpers übernommen und es wurde gewissermaßen verabsolutiert. Also es wurde gesagt: Nicht nur der Körper ist eine Maschine, sondern der ganze Mensch. Der ganze Mensch ist durch und durch mechanistisch fassbar. Auch das, was wir Geist nennen, ist nichts andres, eine komplett als eine komplexe Maschine. Denken Sie da an den bekannten französischen Materialisten Julien Offray de La Mettrie, der sein Hauptwerk ganz provokant genannt hat 'Die Mensch-Maschine'. Während der Materialismus nach Descartes zunächst noch eine Minderheitenposition war, ist er in weiterer Folge immer stärker geworden und wurde dann spätestens im 20. Jahrhundert zur bestimmenden Position in der Anthropologie, also zur bestimmenden Deutung des Menschen. Ich glaube, man sollte aber auch erwähnen, dass es dann im 20. Jahrhundert auch Gegenbewegungen gegeben hat gegen dieses rein mechanistische Verständnis des Körpers. Ich möchte da eine Gegenbewegung herausgreifen, das ist die Leib-Phänomenologie. Darin wurde betont, dass der Körper eben nicht nur eine Maschine ist, sondern dass der Körper das ist, womit wir die Welt wahrnehmen. Der Körper hat also eine Erfahrungs-Dimension und er hat eine gewissermaßen geistige Dimension."
Der Mensch und sein leibliches Ausgeliefert-Sein
Was wir also sehen: die Philosophie- und Geistesgeschichte ist ein ständiges Vor und Zurück. Ein sich immer wieder Abarbeiten an frühen, früheren Paradigmen, Ideen. Ein Ineinander von Gegenbewegungen. Corona nun – so suggerierte es die Einleitung in diesen Podcast – hat den vermeintlichen Gewissheiten im Blick auf das Subjekt wieder einen Tritt versetzt. Plötzlich wurde das, was bis dato als früher oder später beherrschbar, als dank moderner Medizin einhegbar erschien, zum fast bestimmenden Faktor des Menschen: seine leibliche Verletzlichkeit, sein Ausgeliefert-Sein. Für die Philosophie und das Denken vom und über den Menschen nichts Neues, erinnert Pizzinini:
"Die Krankheit als Wirklichkeit und der Tod als ständige Möglichkeit begleiteten den Alltag des mittelalterlichen Menschens wie ein Schatten. Das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit - die Philosophen verwendeten dafür den Begriff der Kontingenz. Also das gehörte zur Überzeugung, dass der Mensch eine geschaffene Kreatur sei. Später, im auslaufenden Mittelalter, beispielsweise in der Theologie Wilhelm von Ockhams steigerte sich dieses Bewusstsein der Kontingenz zu einer Theorie der radikalen Abhängigkeit des Menschen und damit von der gesamten Welt von Gott. Jeden Moment konnte die Welt aufhören zu existieren und damit verschwinden, so die Überzeugung. Und damit ging eine gewisse weltanschauliche Unsicherheit einher, die sich dann auch in der Kunst niedergeschlagen hat, man denke hier an gewisse instabile, nahezu zittrig ausgeführte menschliche Figuren in der gotischen Malerei."
So dramatisch wieder stelle sich die Situation heute nicht dar, wirft dagegen Wehinger ein. Die Destabilisierung mag individuell folgenschwer sein, es mag auch neue Sensibilitäten für die feinen Zwischentöne der Existenz geben, aber dass Corona eine geistesgeschichtliche, ja philosophische Kehrtwende bringt – davon sind wir weit entfernt:
"Ich glaube, das ist ganz einfach schwer zu sagen, weil wir nicht die entsprechenden Daten haben. Mein subjektiver Eindruck ist aber, dass wir natürlich sehr viel besser abgesichert sind als die Menschen im Mittelalter; dass diese große Sicherheit aber schon auch dazu geführt hat, dass wir mit Kontrollverlust weniger gut umgehen können, dass es weniger braucht, dass wir etwas als Kontrollverlust erleben. Denken Sie da einfach an so alltägliche Probleme wie das WLAN im Zug funktioniert nicht - und wir werden schon grantig. Oder der Paketdienst bringt das Paket nicht genau zu der Zeit und an dem Tag, wie es im Mail steht. Oder das Handy funktioniert nach dem neuen Update nicht genauso wie davor, und wir werden nervös. Und ich glaube, das muss doch alles für einen Menschen im Mittelalter, wo aufgrund der hohen Kindersterblichkeit, wo fast jede Familie den Tod eines Kindes erlebt hat, doch etwas befremdlich erscheinen."
Bevor ich "Ich" sagen kann, schleppe ich damit also schon einen ganzen Rucksack an Reflexionen, an Einsprüchen, an Denkmodellen mit mir mit. Dazu gehört auch, dass die Welt, in der ich mich befinde, einer Logik folgt, dass es eine Ordnung der Dinge gibt, auf die ich mich verlassen kann. Ein Gedanke, der wieder im mittelalterlichen Denken seine theologische Aufladung erfuhr, so Pizzinini – bevor er dann von der Moderne zu Grabe getragen wurde, wie Wehinger im Anschluss daran darlegt:
Die Sehnsucht nach Ordnung
"Das gesamte mittelalterliche Denken und Empfinden orientierte sich an Gedanken einer vorgegebenen Ordnung. Dies gilt nicht nur für die Philosophie und die Theologie, sondern auch für die gesamte ständisch organisierte politische Theorie bis hin zur Literatur, Kunst und Kleiderordnung. Den Sinn des Lebens suchte man darin, den eigenen Platz in einem von Gott geordneten Kosmos zu finden. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat diesbezüglich die Summa der Theologie des Thomas von Aquin mit der Ikonografie einer gotischen Kathedrale verglichen: Eine viel verzweigte Ordnung, in der jedem irdischen und überirdischen Lebewesen, jeder Pflanze und jedem Stein, ja sogar dem Bösen und der Sünde ein vorgesehener Platz zugeteilt wird. Der mittelalterliche Mensch suchte seinen Platz in diesem Ordnungsgefüge. Darin bestand der Sinn des Lebens."
"Also diese Idee, dass es eine von Gott vorgegebene, im Transzendenten begründete Ordnung der Welt gibt, ist heute sicher nicht mehr bestimmend. Aber ich würde nicht sagen, dass Ordnung fehlt in unseren modernen Gesellschaften. Mein Eindruck ist eher, dass unsere Gesellschaften heute unter vielerlei Rücksicht sehr viel geordneter sind als die mittelalterliche Gesellschaft. Denken Sie einfach an die vielen Möglichkeiten der Selbstkontrolle, die Teil unseres Alltags diktieren: Puls-Uhren, die uns sagen, ob wir uns wieder bewegen sollen oder an Selbstkontrolle durch soziale Medien; denken Sie auch daran, dass sich der Bewegungsradius von Kindern der letzten Generationen zunehmend eingeschränkt hat. Also ich würde nicht sagen, dass wir mehr Ordnung brauchen; ich würde dagegen sagen, wir brauchen eher noch mehr Freiräume, ein bisschen mehr Freiheit und Lebendigkeit."
Doch damit lässt sich Pizzinini, der Mittelalter-Fan, nicht ganz abspeisen. Wenn man die Idee einer den Mensch einhegenden, umgebenden Ordnung leicht modelliert und stattdessen von Natur spricht, könnte das mittelalterliche Denken auch modernen Zeitgenossen noch etwas sagen. Schwenken wir mit diesem Gedanken also nun langsam in die Zielgerade unseres kleinen philosophiegeschichtlichen Exkurses ein:
"Der Gedanke der Nachhaltigkeit hält uns dazu an, die Existenz des Menschen und den Kosmos - heute sagen wir dazu lieber Natur - zusammenzudenken. In diesem Punkt ist die mittelalterliche Denkweise durchaus aktuell. Was sich indes durchaus verändert hat, ist das Bewusstsein bezüglich der ungeahnten Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Natur - im Guten wie im Schlechten. Das Prinzip der Nachhaltigkeit setzt bei unserem Handeln an und geht von einer idealen Balance im Verhältnis Mensch und Natur aus. Dieses Gleichgewicht hat einen normativen Charakter. Es impliziert also ein Sollen vonseiten des Menschen. Dabei ist der Zustand nicht statisch, sondern dynamisch. Dennoch können wir dieses ideale Verhältnis als eine kosmische Ordnung bezeichnen, sofern wir den Begriff der Nachhaltigkeit metaphysisch fundieren wollen. In diesem Sinne ist das mittelalterliche Menschenbild also auch heute noch aktuell."
Und damit stehen wir wieder bei Descartes und seinem "cogito ergo sum" – ich denke, also bin ich. In dieser – übertrieben gesagt – Geburtsstunde des Subjekts in der Philosophie tritt zutage, was die Menschheitsgeschichte hindurch stets umkämpft und umstritten war. Die Frage, was denn der Mensch bitteschön sei. Krone der Schöpfung? Oder doch zerrissener Sklave seiner Körperlichkeit und seines verzweifelten Versuchs, mithilfe von Konstrukten wie Seele oder Gott mehr aus sich zu machen, als er ist?
Die Spannungen nicht auflösen, sondern aushalten
Wenn also heute Corona an unserem Selbstverständnis rüttelt, dann können wir uns davon beunruhigen lassen – wir können aber auch einfach einen Blick in die Zeitläufte der Philosophie werfen, in die endlosen Kämpfe und Debatten, in denen schon darüber gestritten wurde, wer eigentlich dieser komische Typ ist, der hier gerade 'Ich' sagt.
"Ich finde diese Ideen, die wir angesprochen haben, diese modernen Ideen alle nach wie vor sehr spannend. Ich glaube, dass diese Wende zum Subjekt bei Descartes wirklich eine der bedeutendsten Entwicklungen in der Philosophiegeschichte war. Ich glaube, unabhängig davon, wie man zu Descartes steht, ist es faszinierend nachzuverfolgen diesen Kampf ums Subjekt. Zwischen den Leugnern des Ich und den Verteidigern des Ich. Ich sehe aber in der modernen Philosophie gleichzeitig auch viele Einseitigkeiten. Das beginnt schon bei Descartes und seiner völligen Einschränkung des Menschen auf das Bewusstsein. Und ganz ähnlich ist es dann natürlich unter anderen Vorzeichen etwa bei Freud, wo dann das Bewusstsein völlig entmachtet wird und gesagt wird: Das Bewusstsein ist völlig fremdbestimmt durch unbewusste Vorgänge. Ich glaube, da kann uns ein Blick zurück auf das aristotelische Menschenbild, wo eben die Einheit des Menschen grundlegend ist und wo alles Handeln immer ein Ineinander von Bewusstem und Unbewusstem ist, wo der Mensch eine Verschränkung ist von Geist und Körper, helfen und wir können davon lernen. Natürlich gibt es diese große Spannung im Menschen, eine große Komplexität. Man könnte sogar von einer Einheit der Gegensätze sprechen. Aber es braucht eben auch dieses Moment der Einheit, damit die Gegensätze nicht bloß unvermittelt nebeneinander stehen und so auch die Spannung verloren geht."
Das war eine neue, diesmal etwas andere Folge von "Diesseits von Eden" – vielen Dank fürs Zuhören sagen Andres Pizzinini, Daniel Wehinger und Henning Klingen.