Ergreifend: Dem Heiligen auf der Spur
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Podcast vom 28. November 2022 | Gestaltung: Henning Klingen*
Den einen ist die Familie heilig. Andere erklären gar einen Krieg zum heiligen Krieg. Wieder andere schwören "bei allem, was mir heilig ist" oder bezeichnen andere gar als "scheinheilig". – Kurz: Der Begriff der Heiligkeit scheint aus dem ureigensten Bereich der Religion ausgewandert zu sein, diffundiert zu sein in den säkularen Raum – und dort sehr willkommen geheißen zu werden.
Winter: "Der Begriff des Heiligen ist im ersten Moment so ein typisch religiöser Begriff, ein Begriff, den man eigentlich als veraltet wahrnehmen könnte. Dem steht aber gegenüber, dass unter Berufung auf Heiliges sehr viel geschieht auf dieser Welt, weil halt viele Menschen in unterschiedlicher Art und Weise und in unterschiedlichen Kontexten Dinge, die sie tun, als 'besonders' deklarieren - und zwar in Bezug auf Religion, auf ihre religiöse Befindlichkeit."
Sagt Franz Winter, Religionswissenschaftler an der Uni Graz. Und damit – Hals über Kopf – hinein in eine neue Folge von Diesseits von Eden, zu der Sie Henning Klingen herzlich begrüßt. Es soll diesmal um das Heilige gehen, das offenbar wie ein Gespenst umgeht – durch alle Religionen, durch alle Kulturen und Gesellschaften. Und was eben nicht nur ein 'liebes Gespenst' darstellt, sondern durchaus eines mit dunklen Seiten. Noch einmal Franz Winter:
Winter: "Da ergibt sich eine ungeheure Bandbreite dessen, was heilig sein kann und was aber bei der modernen Auseinandersetzung nicht ausgeklammert werden kann: dass man das Heilige nicht einfach nur mit dem Guten, Wahren, Schönen verbinden kann, heilig kann auch sehr Problematisches sein, wenn Menschen Handlungen setzen, die für sie heilig sind, die aber nach menschlichem Ermessen hochproblematisch oder eben auch menschenverachtend sind. Also das Bezugnehmen auf Religion und die Bedeutung von religiösen Argumentationsfiguren, die man eben auch im weitesten Sinne des Wortes als heilig für diesen einzelnen Menschen bezeichnen könnte - das ist in der Tat ungeheuer präsent."
Prof. Franz Winter
Mit Rudolf Otto über Rudolf Otto hinaus...
Wenn man – was man als TheologIn ja immer machen sollte – mit einer großen Frage konfrontiert ist, sollte der erste Weg der zum Bücherregal sein. Und da könnte man beim Stichwort "Das Heilige" tatsächlich fündig werden. Denn vor rund 100 Jahren ist dazu ein Klassiker erschienen – Rudolf Ottos Werk "Das Heilige". Mitten im Ersten Weltkrieg. Es setzte damals Maßstäbe, die bis heute gelten, so Franz Winter. Denn es wagte sich systematisierend und mit soziologischem Blick an das nebulöse Phänomen des Heiligen heran. Aber Hand aufs Herz: Warum sollte man ein 100 Jahre altes Fachbuch heute noch lesen…?
Winter: "Es ist auf jeden Fall einmal ein Klassiker. Und Klassiker soll man lesen. Das wäre die erste Antwort. Aber es ist in der Tat ein Buch, das glaube ich auch mit einzelnen Punkten sehr viel sagt für die Gegenwart. Man kann vielleicht auch hier den Zeithorizont zitieren, in dem das Buch entstanden ist. Das ist ja veröffentlicht worden im Jahre 1917. Das ist de facto mitten im Ersten Weltkrieg erschienen bzw. in dem Jahr, wo der Erste Weltkrieg den Höhepunkt erlangt hat mit dem Eintritt der USA. Und da ergibt sich automatisch auch etwas, was im Zeithorizont dann natürlich mitschwingt. Und das ist etwas, was man durchaus in meiner Wahrnehmung zumindest mit diesem Begriff der Ambivalenz umschreiben kann: das Heilige ist ja nicht nur positiv besetzt, sondern hat viele Momente, die durchaus auch etwas des Menschen erschreckendes haben können. Und ich glaube, das sind so Themen eben, die dieser ambivalente Zugang, den man dann in weiterer Folge auch als sehr fruchtbar für die Gegenwart bezeichnen könnte, weil wir heute auch wenn es um Religionen geht immer den ambivalenten Charakter des Religiösen an sich oder religiöse Handlungen im Blickpunkt haben müssen. Bei Otto überwiegt immer der positive Bezug. Also es ist so, dass selbst dieses Erschreckt-Sein von der Begegnung mit dem Göttlichen immer etwas Tröstendes hat, also etwas, was den Menschen dann wieder aufhebt. Aber ich glaube, es ist trotzdem ein Aspekt, den man weiterdenken könnte, um eben den Status als Klassiker, der sich musealisiert, aufzuheben. Und dahingehend, glaube ich, hat das Buch ein ganz großes Potenzial."
Sprach der Religionswissenschaftler. Im Übrigen wurden die Gespräche – auch die folgenden – geführt im Rahmen einer Tagung an der Uni Graz zu Semesterbeginn; und zwar genau über das Thema "Das Heilige". Im Rahmen dieser Tagung – veranstaltet gemeinsam von katholisch-theologischer Fakultät und dem Franziskanerkloster Graz - kamen natürlich auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort. So etwa die Ordensfrau und Exegetin Sr. Gertraud Harb. Sie beleuchtete – naheliegend für eine theologische Annäherung – das Phänomen der Heiligkeit aus biblischer Sicht:
Harb: "Die Heiligkeit im Alten Testament ist in den ersten fünf Büchern Mose eigentlich hauptsächlich kultisch, also eine Heiligkeit des Tempels: Gott ist heilig und alles, was mit Gott und diesem Kult zu tun hat, wird dann heilig gedacht und heilig genannt. Also die Priester sind heilig, die Gewänder sind heil, die Opfer sind heilig. Und in den späteren Büchern geht es um eine gewisse Erweiterung oder auch Brechung dieses Begriffs hin zu einer Heiligkeit Gottes, die auch bei den Armen und Bedrückten oder besonders sogar bei den Armen und Bedrückten wohnt und mehr um eine Ausweitung hin. Und die Heiligkeit, die in diesen prophetischen Büchern besteht, ist eine Heiligkeit, die Gott tatsächlich in diesem unbeugsamen Rettungswillen für die Menschen lebt. Und dass das eigentlich dann eine Dimension von der Heiligkeit Gottes ist, die dann an Wert gewinnt im Alten Testament."
Sr. Gertraud Harb
Heiligkeit: "Für Jesus ziemlich unbedeutend"
Und wie sieht es im Neuen Testament aus? Noch einmal Sr. Gertraud Harb:
Harb: "Für Jesus ist Heiligkeit ziemlich unbedeutend. Er verwendet das Wort hagios recht wenig, eigentlich außer im Vaterunser oder in einzelnen Wörtern nicht so häufig. Aber er scheint diese prophetische Dimension - zu den Armen, zu den Unterdrückten, auch zu den Sündern und Außenseitern - dann aufzunehmen und zu leben. In den neutestamentlichen Briefen ist es dann so, dass dieser Gedanke der Heiligkeit Gottes sich verändert - von diesem Bild, dass etwas oder Gott heilig ist, tatsächlich durch diesen Kreuzestod Christi und durch diese Dimension der Zuwendung Gottes in Jesus eine neue Lebensdimension entsteht, so dass die Christen und Christinnen in den frühen Gemeinden tatsächlich als Heilige angesprochen worden sind, wenn sie gläubig und bekehrt waren, also sie selbst tatsächlich schon als Heilige bezeichnet wurden, wenn man sich zu Christus bekennt."
Theologie wäre nicht Theologie, wenn sie Dinge, die – wie im Fall des biblischen Befundes – recht klar wirken, in den größeren Kontext stellen würde, sprich: Sie begnügt sich nicht mit der Feststellung eines literarischen oder theologie-historischen Befundes, sondern sie übt sich in systematisch-theologischer Herleitung. In Argumentationsfiguren. Diesen Part übernahm der Salzburger Ordensmann, Theologe und Philosoph Dominikus Kraschl:
Kraschl: "Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Gott aussagen, er sei heilig? Das ist uns ja vertraut aus der Liturgie, aus der Heiligen Schrift und darüber hinaus. Und dann hat sich gezeigt bei näherem Hinschauen, dass es da gar nicht so viel einschlägige Literatur gibt, die dem nachgeht. Dann habe ich da einen Bogen zu spannen versucht, indem ich die Eigenschaft der Heiligkeit Gottes in Zusammenhang gebracht habe mit seiner unüberbietbaren Unvollkommenheit und dann die Heiligkeit gewissermaßen als einen erfahr- oder fassbaren Aspekt dessen versucht habe herauszuarbeiten in Zusammenhang mit dem, was Rudolf Otto beigetragen hat, nämlich dass die Erfahrung des Heiligen diese Doppelgestalt hat: faszinierend anziehend und gleichzeitig erschaudern. Und das ist, glaube ich, sozusagen das, was die Heiligkeit Gottes als Eigenschaft über seine Vollkommenheit hinaus noch einmal auszeichnet."
Niederknien vor dem Vollkommenen
Heiligkeit und Vollkommenheit – wer eine Gotteserfahrung in dieser Dimension macht, wer den Rocksaum Gottes zu fassen bekommt, der kann nach Dominikus Kraschl nicht anders, als sein Haupt senken und die Knie beugen:
Kraschl: "Man ist überwältigt und angezogen - und zugleich erlebt man sich als Geschöpf, das nicht über den Dingen steht, sondern eher geneigt ist, sich hinzuknien und zu staunen und überwältigt zu sein. Und ich glaube, da hat Rudolf Otto schon was gesehen, dass das Heilige ein 'Mysterium tremendum et fascinans et augustum' ist. Und insofern hat das Heilige schon auch diese Wertdimension."
Wie passt nun das Heilige, dieser etwas wolkige, wenig greifbare Begriff, zusammen mit einem soziologischen oder gar philosophischen Begriff von Religion? Rudolf Otto ging es in seinem Klassiker vor 100 Jahren gerade nicht darum, alles rational zu durchleuchten, das Heilige zu filetieren und zu zerlegen, sondern ihm als Black box, als eine nicht fassbare Dimension, für die religiöse Menschen ein Sensorium haben, einen Platz einzuräumen. Darauf hat der christliche Philosoph Reinhold Esterbauer hingewiesen. Otto wollte laut Esterbauer die Grenzen der Rationalität überhaupt ausloten – und stieß dabei auf einen Bereich, der sich dieser Rationalität sperrt; und der doch wichtig und prägend für das Leben ist. Das Heilige.
Esterbauer: "Auch dann, wenn ich beklage, dass es so etwas wie eine säkulare Gesellschaft gibt, eine plurale Gesellschaft gibt, eine Gesellschaft, in der jeder seine, seine Orientierung, wie er das Leben meistern will, natürlich selber trifft, dann ist irgendwo wiederum die Frage da für diese Kontingenzen, die der Mensch aber auch erlebt. Weil dort kommt man in der Lebensführung meistens wirklich an Grenzen, wo es dann ausweglos wird, wo es paradox wird, wo ich vielleicht für mich selber nicht mehr sagen kann, da habe ich jetzt ein Gegenüber, mit dem ich hadern kann, aber auch dem ich danken kann für etwas Positives oder hadern, wenn es mir schlecht geht. Also ich verliere sozusagen die Zuschreibgröße für das Negative, aber auch für das Positive. Und diese Belastungen, die der Mensch dadurch erfährt, das ist schon eine Belastung, mit der man nicht ganz so leicht umgehen kann. Da wären wir fast bei Nietzsche. Und da muss man schon sehr, sehr starker Mensch sein, um das überhaupt auszuhalten."
Prof. Reinhold Esterbauer
Zwischen Transzendenzerfahrung und Politik
Wem das zu theoretisch klingt, zu philosophisch, dem sei nun zum Abschluss und zum Ende dieses Podcasts noch einmal die Zusammenschau des Grazer Liturgiewissenschaftlers und Vizedekans Peter Ebenbauer empfohlen. Er bindet die Fragen, die sich mit dem Heiligen stellen, noch einmal zusammen und zeigt auf, worin die Kraft, aber auch worin die Gefährlichkeit dieses Begriffs und des mit ihm Gemeinten liegt.
Ebenbauer: "Aus meiner Sicht ist das Thema 'das Heilige' aus vielen Gründen heute besprechenswert - und es gibt viele Facetten von Heiligkeit, Erfahrung oder auch von Heiligkeitskonzepten, die durchaus auch außerhalb der Kirchen und der Religionen heute relevant sind. Zunächst sehe ich da mal die Frage, wie Menschen, die vielleicht nicht religiös sozialisiert sind, so etwas wie Erfahrung von Heiligkeit machen oder machen können, ohne dass sie es so benennen; also Momente des Lebens, die für sie eine ganz, ganz tiefe existenzielle Bedeutung haben. Oder auch die Suche nach einer Spiritualität, vielleicht nicht mehr in den Traditionen der Kirchen oder einer bestimmten Religion, wo da immer auch natürlich mit einer Transzendenzerfahrung die Frage des Heiligen mit verbunden ist. Also solche Aspekte sehe ich auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch gesellschaftliche und sogar politische Fragen, weil das Konzept von Heiligkeit doch immer auch mit gewissen Machtkonstellationen verbunden ist. Wenn zum Beispiel Putin und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche gemeinsam der Überzeugung sind, dass der Krieg gegen die Ukraine auch gerechtfertigt sei im Kontext von kirchlichen Traditionen, oder dass es vielleicht sogar so etwas wie einen heiligen Krieg noch geben könne heute, was ja auch im muslimischen Kontext ein virulenten Thema ist, dann sehen wir hier natürlich sehr stark, dass dieser Begriff auch in das Politische ganz stark hineinspielt."
Prof. Peter Ebenbauer
Das war's schon wieder mit dieser Folge "Diesseits von Eden". Vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.