Fünf Jahre Erklärung von Abu Dhabi: Wo steht der christlich-islamische Dialog?
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Podcast vom 9. Dezember 2024 | Gestaltung: Henning Klingen*
Vor knapp 60 Jahren hat die katholische Kirche eine der steilsten Kehrtwenden ihrer Geschichte vollzogen, zumindest mal im Blick auf ihre Lehre. Da hat sie nämlich im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils die Erklärung Nostra aetate über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen veröffentlicht. Über diese nichtchristlichen Religionen, also etwa Judentum und den Islam, heißt es darin: "Die katholische Kirche lehnt nichts von all dem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist."
Das eröffnete den interreligiösen Dialog, könnte man sagen, der natürlich vorher auch schon quasi unter dem Radar geführt wurde. In Österreich forcierte etwa Kardinal König mit der Stiftung Pro Oriente den Dialog mit den Ostkirchen. Es entstanden offizielle Dialogkommissionen, gemeinsame Dokumente, die Übereinstimmung in vielen Bereichen, etwa der Moral, des Menschenbildes, aber auch des Gottesbildes festhielten.
Vor fünf Jahren nun hat Papst Franziskus gemeinsam mit Scheich Ahmad al-Tayyeb, dem Großimam der Kairoer Al Azhar Universität, in Abu Dhabi, einen weiteren Meilenstein gesetzt. So ist zumindest die weitverbreitete Lesart. Dort nämlich haben die beiden ein Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt, so der offizielle Titel, veröffentlicht.
Was genau dieses Dokument besagt und bedeutet für den christlich islamischen Dialog, darüber wollen wir heute hier bei Diesseits von Eden sprechen. Und dazu begrüße ich online zusammengeschaltet: Michaela Quast-Neulinger - sie ist Professorin für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Uni Innsbruck. Und sie ist selbst im interreligiösen Dialog aktiv. Und zudem begrüße ich Franz Winter - er ist Professor für Religionswissenschaft und Leiter des Instituts für Religionswissenschaft an der Uni Graz.
Frau Quast-Neulinger, vielleicht können wir mit Ihnen gleich mal beginnen, denn Sie waren ja vor einigen Tagen erst in Abu Dhabi, wie ich gelesen habe. Gemeinsam mit einer Delegation und Militärbischof Werner Freistetter haben Sie dort an einem interkulturellen interreligiösen Dialogforum teilgenommen. Was hat es mit diesem Dialogforum und dem Dokument auf sich? Hat das miteinander zu tun? Und worum ging es bei Ihrem Besuch dort?
Quast-Neulinger: "Zwischen Österreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es seit längerer Zeit intensive Beziehungen und diese wurden in den letzten zwei, drei Jahren auf eine neue Ebene gehoben. Man hat im Mai 2024 ein Memorandum of Understanding unterzeichnet. Es gab einen Besuch von emiratischer Seite in Österreich und nun war das quasi der Gegenbesuch einer österreichischen Delegation in Abu Dhabi. Und das Ganze hat im Abrahamic Family Haus stattgefunden, was sehr außergewöhnlich war. Dieses Gebäude ist eine direkte Frucht des Dokuments über die Brüderlichkeit. Die Bauarbeiten begannen bereits kurz nach der Unterzeichnung des Dokuments. Und dieser Komplex wurde dann voriges Jahr eröffnet und unser Treffen dort war tatsächlich die erste Veranstaltung dieser Art direkt dort vor Ort. Meine Deutung ist tatsächlich, dass dieser Komplex eine architektonische Umsetzung im Grunde des Dokuments ist. Man sieht dort eine Kirche, eine Synagoge, eine Moschee. Alle drei stehen in einem Dreieck zueinander. Sie haben alle drei die gleiche Dimension, sind alle weiß und haben aber ihre architektonischen Eigenheiten und sind jeweils tief verwurzelt in der eigenen Tradition und zugleich aufeinander verwiesen. Das ist eine wunderbare architektonische Ausweitung der Verschränktheit der drei Religionen in Wahrung ihrer jeweiligen Eigenheiten."
Prof. Michaela Quast-Neulinger
Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, Frauenrechte
Bevor wir uns mit den speziellen Perspektiven des Dokuments befassen, noch mal nachgefragt: Was steht denn eigentlich drin in dem Dokument?
Quast-Neulinger: "Ich würde mal sagen, es gibt drei herausragende Punkte: Erstens das Thema Religionsfreiheit. Es ist das erste gemeinsame Dokument der höchsten Lehrautoritäten der jeweiligen Religionen - Papst Franziskus und Großimam Al-Tayyeb - das dieses Thema behandelt. Natürlich müssen wir über die Verbindlichkeit gerade auf islamischer Seite sprechen, aber es ist schon etwas Besonderes, dass dieses Dokument gemeinsam verabschiedet wurde. Der zweite Punkt: gleichberechtigte Staatsbürgerschaft unabhängig von Geschlecht, Religion, Rasse. Das ist wirklich ein ganz revolutionäres Moment, vor allem aus einer muslimischen Perspektive heraus. Da wird mir besonders von Leuten aus dem Nahen und Mittleren Osten gesagt, dass das für sie wirklich ein Befreiungsschlag darstellt. Es geht um die Überwindung dieser Vorstellung, dass es ein spezielles Minderheitenrecht braucht - sondern es braucht gleichberechtigte Staatsbürgerschaft für alle. Und der dritte Punkt: Frauenrechte bzw. die Anerkennung von Frauen als gleichberechtigte Wesen innerhalb der Gemeinschaft. Diese drei Punkte sind tatsächlich aus meiner Perspektive revolutionär."
Franz Winter, vielleicht können Sie das noch etwas weiter ausführen und uns eine Einordnung in der islamischen Welt bieten. Was muss man wissen vom Islam und der Region, in der dieses Dokument verabschiedet wurde, um die Reichweite und Relevanz zu verstehen?
Winter: "Auch ich möchte zunächst den wirklich epochalen Charakter dieses Textes unterstreichen. Dass wir hier zwei zentrale höchstrangige Vertreter aus den beiden Religionstraditionen haben, die sich auf einer Ebene begegnen und ein gemeinsames Dokument veröffentlichen ist wirklich etwas, was im Hinblick auf die Geschichte der Begegnung von Religionen und auch spezifisch der Verständigungsgeschichte jetzt zum Beispiel der katholischen Kirche zu anderen Religionen eine Dimension hat, die man nicht hoch genug einschätzen kann. Und das soll herausgestrichen werden. Wobei natürlich, wie schon angesprochen, die Frage ist, wer wen repräsentiert. Tatsächlich hat das Dokument ja eine gewisse Unwucht, weil da mit dem Papst und der Al Azhar zwei Ebenen miteinander verbunden sind, die jetzt nur bedingt vergleichbar sind. Wir haben auf der einen Seite eine sehr klare hierarchische, zentralistische Struktur, die natürlich auch immer wieder zu kritisieren ist, aber die in dem Fall eine klare Regelung vorsieht, wer an der Spitze ist: der Papst. Und auf der anderen Seite haben wir eine Lehrautorität, die verbunden ist mit einer bedeutenden Einrichtung, der Al Azhar Universität, die natürlich im Kontext der islamischen Welt, insbesondere für die sunnitische Hälfte, eine ganz zentrale Bedeutung hat. Allerdings muss man deutlich sagen, dass El-Tayyeb keine Jurisdiktion beansprucht, nichts, was in irgendeiner Weise vergleichbar ist mit dem, was sich auf der anderen Seite ergibt. Der Islam ist ja als Weltreligion dezentral organisiert, das muss man im Kopf haben bei der Einordnung des Dokuments. Aber natürlich hat es große Signalwirkung und wirkt weit hinein auch in die sunnitische Welt. Aber: Es gibt einen weiten, sehr bedeutenden Anteil im Kontext der islamischen Welt, die schiitische Tradition, die hier weitgehend unberührt ist, wobei aber die Signalwirkung vermutlich auch in die Richtung geht."
"Wunschpunkte in beide Richtungen"
Frau Quast-Neulinger hat gerade schon darauf hingewiesen, auf diese drei zentralen Punkte - Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung aller und das Thema Frauenrechte - Punkte sind, die wohl nicht überall in der islamischen Welt auf offene Ohren treffen dürften, oder täuscht das?
Winter: "Natürlich spricht der Text viele Punkte an, die man als Wunschpunkte bezeichnen kann - und zwar in beide Richtungen: im Blick auf die islamische Welt, aber auch im Blick auf die katholische Tradition. Wenn man etwa auf die Frauenrechte blickt: Da wurde ein Programm entworfen, das jetzt mit Leben zu füllen ist. Aber allein die Tatsache, dass das von diesen beiden zentralen Autoritäten in den Raum gestellt wird, ist schon ein Signal in die Richtung."
Galt denn ihr jüngster Besuch in Abu Dhabi diesem Weiterarbeiten an den nächsten Schritten, Frau Quast-Neulinger?
Quast-Neulinger: "Ja, definitiv. Also es ist uns wirklich ein gemeinsames Anliegen, auf diesem Weg weiterzugehen. Ich stimme Herrn Winter ganz zu: Man muss den Text wohl als prophetischen Text lesen. Als etwas, das in die Zeit hineingesprochen wurde und das nun auf Umsetzung hofft. Ein Text, der den Auftrag erteilt, weiterzuarbeiten und eine Perspektive für alle Menschen zu schaffen. Gerade in dieser gravierenden Krisenzeit, in der wir drinnen stecken. Da empfand ich solche Gesten wie die von christlichen, jüdischen und muslimischen Kindern, die in Abu Dhabi miteinander basteln, als ein starkes Zeichen. Wobei es immer wieder auch Rückschritte gibt, schließlich wird diese Öffnung nicht von allen gleichermaßen gutgeheißen, sondern eben auch teilweise mit Gewalt bekämpft."
Prof. Franz Winter
Winter: "Ich stelle fest, dass das Dokument gerade hierzulande eine eher verhaltene Wahrnehmung fand. Vielleicht ist das auch nicht weiter verwunderlich bei dieser Art "Appell-Texte" mit ihrer etwas gestelzten Sprache. Was wahrgenommen wurde in der Öffentlichkeit, war die Absage an Gewalt und die Kritik an religiösem Terrorismus. Spätestens seit 9/11 ist dieses Thema bei uns ja ganz stark. Leider aber sind deshalb auch manch andere Details des Textes nicht wahrgenommen worden."
Interreligiöser Dialog oder symoblische Geste?
Nur sind wir in einem Theologie-Podcast. Bisher haben wir über Dinge gesprochen, die den Aspekt der interreligiösen Verständigung betreffen. Aber das meint ja noch keine theologischen Streitfragen eines interreligiösen Dialogs. Geht es bei der Weiterarbeit an den Themen des Dokuments auch um theologische Fachfragen - oder geht es vor allem um Zeichen gelebter Brüderlichkeit?
Quast-Neulinger: "Wir unterscheiden ja immer zwischen verschiedenen Arten des Dialogs: dem Dialog des Lebens, des Handelns, des Theologisierens oder auch der religiösen Erfahrung auf spiritueller Ebene. Und dann auch den diplomatischen Austausch. Wir beginnen bei unseren Treffen jetzt mal auf diplomatischer Ebene. Es geht um ein erstes Kennenlernen, um die Frage: Was ist möglich? Der theologische Austausch wird auch seinen Raum finden - aber in diesem Kontext und im Kontext des Family Houses geht es vor allem um einen Dialog des Handelns und des Lebens, orientiert am Gemeinwohl und an ethischen Fragestellungen. Aber wofür ich ganz stark plädiere, ist, diese verschiedenen Dialoge nicht voneinander zu trennen: die gehören zusammen. Wenn ich über ethische Differenzen spreche, müssen wir im letzten natürlich auch über theologische Parallelen, Verschränkungen, Differenzen sprechen. Aber alles hat seinen Ort, alles hat seine Zeit. Und man muss Vertrauen stiften, sich auf menschlicher Ebene begegnen können, um dann überhaupt schwierige Gespräche führen zu können."
Es gab ja auch Kritik aus katholisch theologischen Kreisen an dem Dokument - bis hin zu Häresie-Vorwürfen an den Papst. Athanasius Schneider zum Beispiel meinte, das Christentums würde damit die Heilsuniversalität Christi aufgeben. Ist dieser Diskurs in der islamischen Welt überhaupt wahrgenommen worden? Oder sind das innerkatholische Blasen-Phänomene?
Winter: "Also in meiner Wahrnehmung ist die traditionalistische Kritik an der Sache aufgelegt. Das ergibt sich automatisch aus der Tatsache, dass der Papst sich auf eine Ebene begibt mit dem Würdenträger einer anderen Religion. Das haben wir ja schon öfter gehabt - etwa in der Debatte um die Friedensgebete in Assisi. Aber ich würde daher auch den Text gar nicht so sehr als theologischen Text lesen und verstehen, sondern als Text, der Pflöcke einschlägt, nicht aber in die theologische Tiefe geht."
Quast-Neulinger: "Es hängt sich ja auch manchmal dann die Kritik an der Frage auf: Ist denn das überhaupt der gleiche Gott, den wir da anbeten? Aber das ist sowas von überholt, denn das ist ganz klar in Nostra Aetate niedergeschrieben: Es ist der eine und einzige Gott, zu dem wir beten. Leider ist diese Rezeption von Nostra Aetate da auch innerkatholisch noch nicht so fortgeschritten, dass das so klar wäre."
Religion und Familie: Problem und Lösung zugleich?
Vielleicht können Sie in einer letzten Runde noch zwei, drei Aspekte benennen, wo Sie Leerstellen des Dokuments sehen.
Quast-Neulinger: "Ich nehme nur einen Punkt daraus: Das Dokument beginnt mit einer Problemanalyse, die durchaus Ihre Berechtigung hat: nämlich die Krise der Familie, die Krise bisheriger Familienvorstellungen. Und dann ist aber zugleich auch die Lösung die Familie. Das wird aber nicht näher diskutiert. Da müsste meines Erachtens eine kritische Rückfrage an die jeweiligen eigenen inhaltlichen Positionen in puncto Familie, Geschlechterordnung, Familienordnungen kommen: Wie gehen wir denn damit um, wenn Familien und Geschlechterordnungen dazu gebraucht werden, um jene Gewalt auszuüben, die wir in dem Dokument ja eigentlich verurteilen? Und das ist aus meiner Sicht eine der Leerstellen des Dokuments. Es ist gewissermaßen ein blinder Fleck und wohl auch der komplexen Sachlage, mit der wir heute konfrontiert sind in puncto Krieg und Gewalt und Suche nach einer gerechten Ordnung, die einem guten Leben aller dient."
Winter: "Ich möchte dazu zwei Dinge anmerken: Da ist zum einen sehr positiv hervorzuheben, dass man die eigene Problemgeschichte als Religion dadurch aufhebt, dass man angesichts gesellschaftlicher Probleme nun doch wieder sagt, dass Religion die Lösung dieser Probleme sei. Also einerseits ist Religion als Problem markiert. Aber zugleich lautet die Botschaft, dass die Dinge, die sich aktuell entwickeln, sehr stark was zu tun hat mit verderblichen Entwicklungen der Moderne. Und eine Antwort darauf wäre jetzt wieder mehr Religion. Das ist ein Widerspruch, der sich durch den Text zieht. Und ein zweiter Punkt: So positiv es ist, dass sich die beiden Führer großer Religionen nun gemeinsam an die Welt wenden: es sind zwei Religionen. Was ist mit den Hindu-Religionen? Was ist mit dem Buddhismus etc.?"
Im ersten Teil des Gespräches haben Sie schon durchschimmern lassen, dass das Dokument ein Meilenstein ist - aber vielleicht die Rezeption besser hätte sein können. Vielleicht dient ja dieses Gespräch dazu, dass die Hörerinnen und Hörer das Dokument zur Hand nehmen und lesen. Und vielleicht kann es sogar dazu dienen, dass man sich rückwirkend mit Nostra Aetate auseinandersetzt. Denn im nächsten Jahr steht ja auch da ein 60-Jahr-Jubiläum an. Die letzte Folge in diesem Podcast war Lumen Gentium gewidmet, das jetzt sein 60-Jahr-Jubiläum feiern konnte. Nächstes Jahr folgen u.a. mit Nostra Aetate und Gaudium et spes zwei weitere Dokumente des Konzils, derer wir gedenken werden. Bis dahin wünsche ich einen angenehmen Jahresausklang, frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2025. Vielen Dank fürs Zuhören sagt Henning Klingen.