Flucht & Migration: Orte der Theologie heute?
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Podcast vom 8. Oktober 2024 | Gestaltung: Henning Klingen*
Die Begegnung mit Migrantinnen und Migranten ist – wie die Begegnung "mit jedem Bruder und jeder Schwester in Not … Begegnung mit Christus". Das hat Papst Franziskus in seiner Botschaft zum 110. "Welttag des Migranten und Flüchtlings" am 29. September geschrieben. Immer wieder – von Beginn seines Pontifikats an – hat sich der Papst dem Thema Migration, Flüchtende, gewidmet und auf die oftmals desolaten Lebensumstände hingewiesen und die Politik zugleich in die Pflicht genommen. Kurz: Der Kirche sind Migrantinnen und Migranten wichtig, so wichtig, wie einem Brüder und Schwestern sein sollten.
Auf der anderen Seite erzielen Rechtspopulisten allüberall in Europa derzeit Wahlerfolge. Zuletzt hierzulande die FPÖ. Sie verbindet, dass sie das Thema Migration zum Wahlkampfthema Nr. 1 stilisieren. Die Angst vor einer angeblich durch Migranten destabilisierten Gesellschaft ist ein Quoten- und Wählerstimmen-Bringer. Hierzulande, aber auch in Deutschland, in Italien, in Frankreich, in den Niederlanden.
In dieser Situation fragen wir uns bei "Diesseits von Eden" natürlich: Ist Migration denn auch ein Thema für die Theologie? Oder genauer: Was hat Theologie evt. dazuzulegen bei dem Thema? Geht es nur um Appelle zu einem humanen Umgang, zu einer gesellschaftlichen Offenheit? Oder kann man gar etwas "lernen" von Migranten? Diese Fragen wollen wir heute ein wenig genauer ins Auge fassen. Und dazu begrüße ich aus Wien Prof. Regina Polak und aus Salzburg hinzugeschaltet Prof. Salvatore Loiero.
Regina Polak ist Pastoraltheologin uns stv. Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und sie forscht u.a. zum Thema Migration (und berät in dieser Frage auch die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, COMECE).
Salvatore Loiero ist Professor für Pastoraltheologie an der Uni Salzburg. Zuvor lehrte er u.a. in Fribourg in der Schweiz. Auch Salvatore Loiero forscht und publiziert zum Thema Migration – und das wohl auch aus "persönlichem" Hintergrund, denn – der Name zeigt es schon an – er hat italienische Wurzeln, geboren wurde er allerdings in Aschaffenburg. Willkommen also nochmal – vielleicht steigen wir gleich mit der letzten Frage ein: Was macht Migranten zu einem "locus theologicus"?
Polak: "Sie haben es schon angesprochen: Das Thema ist natürlich zuerst eine Frage von gelebter Nächstenliebe und auch der Würde jedes einzelnen Menschen. Aber das Thema Migration hat für die Theologie und eigentlich für jeden gläubigen Christen und insbesondere auch Katholiken eine besondere Bedeutung. Wir verdanken unseren Glauben im Wesentlichen Migranten und Migrantinnen. Wenn man sich die Texte ansieht, insbesondere des Alten Testaments und teilweise auch des Neuen Testaments, sind das fast alles Texte, die von Menschen geschrieben und verfasst worden sind, die sich in Situationen der Diaspora, des Exils befunden haben, die vertrieben worden sind, die geflüchtet sind, die auf Wanderschaft waren. Und diese Gemeinden, diese Personen, diese Verfasser haben versucht, die leidvollen Erfahrungen der Migration im Horizont des Glaubens zu reflektieren. Biblischer Glaube hat insofern immer schon eine Migrationsmatrix. Man findet das auch in unserer liturgischen Sprache immer noch, wenn wir davon reden, dass wir Pilger sind. Das ist natürlich jetzt für uns westeuropäische Katholiken eine metaphorische Redeweise, aber darin verbirgt sich eigentlich das Bewusstsein, dass zum christlichen Glauben immer auch der Aufbruch gehört. Von daher verpflichtet das Thema Migration Theologen und alle Christen und Christinnen zur Auseinandersetzung."
Loiero: "Ich würde noch einen Aspekt mit hineinnehmen, vielleicht auch, weil ich als Migrant empfindlich bin, wenn man zu viel Symbolhaftigkeit an unsere Existenz bindet: Vielleicht ist die Sehnsucht der Beheimatung auch eine ganz große Triebkraft dessen, was wir mit Migration verbinden. Menschen suchen Beheimatung. Ich spreche bewusst nicht von Heimat, sondern Beheimatung. Orte, wo man sein kann, und die sind biblisch ganz stark immer dort zu finden, wo Gott mit im Spiel ist. Also die letzte Beheimatung bei uns Menschen gibt's nicht. Wir sind immer wieder irgendwelchen Veränderungsprozessen unterlegen, weil wir eben - und das gehört zu Migration dazu - die Mobilität als Grundmoment von uns Menschen haben. Wir Menschen sind mobil, wir arbeiten dort und leben wo ganz anders usw. Aber ich meine, dass Beheimatung ein bisserl mehr ist, als einfach nur irgendwo zu leben, sondern sie wird bestimmt von den Relationen, die mein Leben bestimmen. Und man sollte im Blick auf Heimat wohl auch zwischen Migration und Flucht und Vertreibung unterscheiden. Also ich bin nach Österreich gekommen als Migrant, nicht weil ich wo vertrieben wurde, sondern weil ich hier den Ruf an eine Universität bekommen habe. Andere Menschen kommen nach Österreich oder suchen Beheimatung in Österreich, weil sie eben durch Push-Faktoren, also religiöse Diskriminierung, wirtschaftliche Klima-Katastrophen usw. hierher gekommen sind. Diese Differenz ist ganz wichtig, weil immer wieder man dann über Menschen spricht, die andere Biografien haben und die man auch anders angehen muss. Flüchtlinge und Vertriebene haben eine ganz andere Fürsorge notwendig als vielleicht Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation, die auch für ihr Leben einfach einstehen können und auch in anderen wissenschaftlichen Kontexten groß geworden sind."
Prof. Regina Polak
Jetzt haben wir schon sehr schnell die Kurve genommen in den Bereich der Sozialwissenschaften. Das heißt, wir haben jetzt nicht theologisch gesprochen. Ich wollte noch mal zurück zu der Frage: Was haben wir denn als Theologinnen und Theologen bei dem Thema dazuzulegen? Was macht das Thema Migration tatsächlich zu einem "locus theologicus"?
Polak: "Der Punkt ist, dass Gott, so wie er sich im Alten Testament das erste Mal Moses offenbart und seinen Namen nennt, selbst ein 'Migrant' ist und sich im Exil offenbart. Also Moses ist ja damals selbst auf der Flucht, verfolgt von den Ägyptern. Und dort offenbart sich Gott das allererste Mal und zeigt, wie er heißt. Und der Name, den dieser Gott hat, ist ein Zeitwort, kein Hauptwort, und bringt zum Ausdruck: Ich bin der, der mit euch ist; der, der unterwegs ist. Also es sind Migranten, die entdeckt haben, dass es keinen Stammesgott gibt, sondern dass Gott eine Wirklichkeit ist, die mit den Menschen in all ihren Lebensleitsituationen unterwegs ist und an ihrer Seite steht. Das ist für mich der allerwichtigste Punkt, was wir von Migranten und Migrantinnen lernen können. Und ganz praktisch kenne ich es auch aus meinen Interviews mit Gläubigen, auch christlichen Migranten und Migrantinnen, die erzählen, wie sich gerade auch im Zuge ihrer Fluchterfahrungen der Glaube an Gott als eine ganz zentrale Ressource herausgestellt hat. Das ist für mich der springende Punkt. Christologisch würde ich sagen: Im Migranten begegnen wir dem Antlitz Christi."
Loiero: "Ich würde genau da anschließen: Wir können schon beim Jesuanischen anfangen: wenn man etwa die Seligpreisungen nimmt, die ganze Praxis Jesu, die ganze Reich-Gottes-Botschaft Jesu ist genau die Konkretisierung dessen, was es ausmacht, überhaupt unseren Gott mit dem Menschen zu denken. Also das tiefste christologische Geheimnis ist jenes, dass unser Gott nicht ohne den Menschen gedacht werden will. Und dafür steht Jesus Christus – und zwar bis in die tiefste Unmenschlichkeit, die Kreuzeserfahrung, hinein. Und deswegen wird dieses An-den-Rand-Drängen, diese Sensibilisierung, in der Menschlichkeit ja nur noch zu einem Schrei werden kann, genau zu jenem Ort, wo sich für uns als Christinnen und Christen dieser Gott bewahrheiten muss. Und das ist der Anspruch gerade bei Menschen, die auf Flucht sind, wo die Existenz nur noch eine Form von existierender Menschlichkeit reduziert ist, denn sie haben ja nichts anderes als das, was sie mitbringen in sich selber. Das kennzeichnet also einen Ort, wo wir Christen und die Kirche niemals sagen dürfen: Ihr geht uns nichts an. Nein, genau da entscheidet sich, ob wir verstanden haben, was dieser Jesus und sein Gott für uns wollte oder nicht."
Also wenn ich es richtig verstehe, so kann man tatsächlich theologisch von der Identität des Migranten lernen: etwa das Unterwegs-Sein. Aber ich habe genauso herausgehört, dass das nicht alles sein kann, dass Migration ja ein Ziel hat, dass da ein Wunsch nach neuer Beheimatung ist – und dass das ein blinder Fleck in der theologischen Befassung ist ...
Loiero: "Das würde auch der Sache nicht gerecht werden. Für mich definiert Heimat die Relationen der Menschen, die für mich wichtig sind, ein Lebensumfeld, bei dem ich mich nicht immer beweisen muss. Also das, was man als familiäre Kontexte, familiäre Beziehungen betrachtet. Das ist nicht mehr einfach verwandtschaftlich gegeben, sondern das kann durchaus auch sozial entstehen. Und ich habe in meinem Migranten-Sein genau das erfahren: dass die Relationen für mich wichtig sind und Heimat eben ein Begriff ist, den ich nicht mehr benutzen würde, sondern ich würde von Beheimatung sprechen. Das sind die Menschen, die für mein Leben wichtig sind, für die ich sagen würde: Dafür lohnt es zu leben. Und ich glaube, diese Sehnsucht, einen Ort zu finden, wo man einfach mal sein kann und nicht Angst haben muss, der verbindet alle Migranten. Und umso mehr ärgere ich mich auch persönlich, wenn man allen Menschen erst mal unterstellt, die auf der Flucht und Vertreibung sind, sie würden ja nur aus irgendwelchen ökonomischen Gründen kommen, nur aus irgendwelchen politischen Gründen. Das geht viel tiefer und hat eine existenzielle Dimension und ist allen zu eigen - also egal ob Migrant, Migrantin, ob jemand auf der Flucht, Asylsuchende oder jemand, der diese Sehnsucht nach Beheimatung spürt."
Polak: "... und das Wort Heimat heißt im Hebräischen genau das, was du beschrieben hast, Salvatore. Heimat ist keine Ortskategorie im Hebräischen, sondern eine Beziehungskategorie und beschreibt die Menschen, die Gemeinde, bei denen ich mich zu Hause fühle. Dabei geht es immer auch um das Thema Integration, das da irgendwie mitschwingt, wenn es um Heimat geht. Ich definiere das mal als die Ermöglichung von Teilhabe. Wenn man sich die letzten Botschaften zum kirchlichen Welttag des Migranten anschaut oder auch die unterschiedlichsten Praxisdokumente aus dem Vatikan, dann wird dort immer wieder betont: Die Integration ist eine ganz zentrale Aufgabe. Und es sind in jüngerer Zeit auch Reports entstanden, die solche Integrationsprojekte sehr anschaulich beschreiben, wie sie insbesondere auch im Globalen Süden stattfinden, wo katholische Christinnen und Christen Migranten dort, wo sie angekommen sind, eine neue Heimat ermöglichen. Da gibt es Integrationsprojekte mit Kunst, Projekte zur Nachbarschaft, wo sich beispielsweise in Deutschland Familien bereit erklären, eine ganze Familie über einen Zeitraum von zwei Jahren zu begleiten und ihnen ermöglichen, dass sie Arbeit finden, dass sie die Sprache lernen, dass sie einen Platz in der Gemeinde finden. Die katholische Kirche weiß um diese Heimatsgeschichte. Man müsste nur das entsprechende Material rezipieren. Das wäre schön."
Gerade eben ist schon das Stichwort "Erga Migrantes Caritas Christi" gefallen - das Dokument, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum feiert. Ein sehr umfangreiches Dokument des Päpstlichen Rates der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs. Also kein päpstliches Dokument, aber ein zentrales Vatikandokument. Inwiefern ist denn ein 20 Jahre altes Dokument noch geeignet, um heutige Fragen der Migration zu beantworten?
Polak: "Also vielleicht weniger in den Praxisanleitungen. Da verfügt die katholische Kirche mittlerweile über zeitgemäßere und innovativere Ideen. Aber die theologische Deutung finde ich so aktuell, weil Migration da eigentlich beschrieben wird als ein 'Zeichen der Zeit'. Und das meint in der Tradition der katholischen Theologie immer auch eine Praxis-Herausforderung. Wir finden im 14. Kapitel eine Beschreibung von Migration als 'Zeichen der Zeit' in dem Sinne, dass Migration dazu auffordert, das Evangelium des Friedens zu verkünden und eine erneuerte Menschheit aufzubauen. Also Migration erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass wir alle eine Menschheit sind und dass wir vor der großen Aufgabe stehen, uns nicht wieder in Nationalismen und Tribalismen und anderen Stammesidentitäten zu verlieren. Und das passiert ja momentan gerade wieder, auch in Europa. Wir werden die Probleme der Gegenwart nur als eine Menschheit gemeinsam bewältigen können. Diese Idee war ja in den 80er Jahren durchaus zumindest in Europa weitverbreitet. Momentan wird sie an allen Ecken und Enden attackiert. Aus der Sicht von "Erga Migrantes" ermöglicht Migration die Erinnerung daran. Und es gibt eine weitere Passage in dem Dokument, wo es heißt: Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften ist auch ein Zeichen, und zwar weil es dem Willen Gottes entspricht, eine gemeinsame Menschheit aufzubauen und daran zu erinnern, dass wir zwar jeder Einzelne einzigartig sind, aber dass wir dabei verschieden sind und nur als verschiedene miteinander leben können. Also ich finde, die theologischen Deutungen darin sind politisch höchst aktuell und sollten wieder in Erinnerung gerufen werden."
Prof. Salvatore Loiero
Loiero: "Ich würde dem zustimmen. Neben der Theologie finde ich dort manche Punkte, die fast mehr ins Kirchenrechtliche übergehen, etwa dass die Bischöfe, egal wo sie sind auf der Welt, Migrantinnen und Migranten Pfarrstrukturen und Seelsorge bieten müssen und dass sie nicht der Willkür eines Bischofs oder irgendwelchen pastoralen Tätigen unterliegen. Gewiss, da gebe ich Regina recht, gibt es auch Passagen, die heute nicht mehr aktuell sind. Deswegen gibt es ja auch neue Versuche: Die Deutsche Bischofskonferenz will ja auch ein neues Dokument herausgeben, wie man sich das auch ganz konkret vorstellen kann und sollte. Aber was ich ganz wichtig finde: Es ist nicht nur einfach theologisch, sondern es ist auch ekklesiologisch eine Verpflichtung, die aus dem Dokument erwächst. Und zwar ganz konkret vor Ort: Egal wo - Kirche kann nurmehr multi-plural Kirche sein - in Vielfalt, niemals in Einheit."
Polak: "Und da haben in Österreich noch viel Luft nach oben. Allein in Wien lebt ein Drittel der Katholikinnen und Katholiken in anderssprachigen Gemeinden. Und da wären Migranten eine ausgezeichnete Gelegenheit, die eigene Katholizität zu überprüfen. Sind wir wirklich eine Kirche auch hier vor Ort, in der Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte miteinander den Glauben leben können?"
Was wäre denn jetzt eine praktische Schlussfolgerung daraus? Was könnte man denn anders machen, wenn offenbar das Dokument ja seit 20 Jahren mehr an die Hand gibt als heute in einem gerade am Land noch weithin bürgerlichen pfarrlichen Setting umgesetzt wird?
Loiero: "Also zuerst einmal hat jeder – jeder Gläubige, jede Glaubende – das Recht auf Seelsorge. Das ist ein Grundprinzip, von dem die Kirche immer ausgegangen ist und hoffentlich auch noch ausgeht. Das heißt, sie kann nicht einfach anderssprachige Gläubige als nicht-real ansehen. Die sind nun mal da. Also sie sind eben nicht nur da, weil es einen Priester aus Afrika, aus Indien oder eine Ordensschwester von irgendwo anders gibt, sondern es gibt ja auch italienischsprachige Gemeinde, spanischsprechende Gemeinden. Vielleicht müssen wir auch wieder Gastfreundschaft als Prinzip lernen und anwenden. Wenn ich das ernst nehme, dann bedeutet das auch, von den Fremden lernen zu wollen. So sehr, dass irgendwann nicht mehr klar ist, wer denn eigentlich Gast und wer Gastgeber ist. Beide sind gleichermaßen Empfangende. Dann ändern sich die Vorzeichen: Plötzlich sind die anderen die Gastgeber und ich erfahre mich als Gast. Wenn man das ernst nimmt, könnte es auch sein, dass vielleicht in manchen Regionen die anderssprachigen Gemeinden längst schon in der Gastgeberrolle sind, also zu dem geworden sind, was früher andere Pfarren waren und vielleicht die deutschsprachigen oder die Heimatpfarren. Da geht es nicht um Nationalismen, sondern es geht einfach wirklich um die Frage: Wie kann man dem Glauben vor Ort noch eine Lebensperspektive geben? Dann muss man aber auch sehen: Christen aus anderen kulturellen Kontexten, z.B. die orientalischen Christen, brauchen auch eine andere Form von Seelsorge. Und: Orientalische Christinnen und Christen können hierzulande für die Integration muslimischer Menschen eine Hilfe sein, weil sie im Heimatland die gleichen Kulturen teilen. Das ist ein Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft ist."
Polak: "Ich würde gern ein paar Aspekte noch ergänzen: Ich bin gewissermaßen 'old school' - ich glaube immer noch an Bildung. Ich würde mir wünschen, dass sich die Hauptamtlichen da auch mal vertraut machen mit dem theologischen Zugang zu diesem Thema, weil ganz entscheidend der Perspektivwandel, also sprich die Wahrnehmungsfrage ist. Das ändert sehr viel. Es hat auch meinen Glauben verändert. Und: Es braucht verantwortliche Bischöfe, die ganz ausdrücklich auch Integrationskonzepte machen, die Ortskirchen und die anderssprachigen Gemeinden zusammenzubringen. Das dritte ist die strukturelle Repräsentanz auf der Ebene der vielen Gremien und Organisationen, die wir haben: Wir sind inzwischen eine migrantische Kirche – und das muss sich auch widerspiegeln in Bezug auf Verantwortungsübernahme. Schließlich: Wie kann diese Sichtweise auf Migration auch politisch fruchtbar werden? Da braucht es ganz dringend Diskussionen. Und nicht zuletzt, glaube ich, spielt da der interreligiöse Dialog eine zentrale Rolle. Also es gibt etwa in Wien katholische Gemeinden, die mit der jeweiligen muslimischen Nachbargemeinde in einem regelmäßigen Austausch stehen, Veranstaltungen anbieten, einander im Alltag helfen. Das wäre quasi die Sicht auf Migranten, die zeitgemäß wäre und unsere gesellschaftliche Realität widerspiegelt."
Bei den vier Punkten, die Sie jetzt gerade genannt haben, Frau Pollak, könnte man ja auch noch die Frage anschließen, was Migration für die eigene Diszipli, die Theologie, bedeutet. Gibt es da Leerstellen, wo man theologisch ein bisschen genauer hingucken sollte oder wo es schon gute Kooperationen gibt? Ist das Thema schon überall in der Virulenz angekommen, die jetzt angeklungen ist?
Polak: "Im deutschsprachigen Raum nicht. Also wir haben zwar im deutschsprachigen Raum einzelne Theologen und Theologinnen an den Universitäten, insbesondere im Bereich der Pastoraltheologie, auch im Bereich der Sozialethik, da finde ich wirklich interessante Konzepte. Was aber dringend ansteht, wäre eine Rezeption der Theologie des Globalen Südens oder auch innerhalb von Europa. Das müsste endlich rezipiert werden, um wahrzunehmen, dass das auch eine wissenschaftliche Herausforderung ist, weil ich immer wieder dann doch Theologen erlebe, die sich im politischen Diskurs zu Migrationsfragen äußern und wo ich aufgrund der Stellungnahmen schließe, dass sie die eigenen Texte und Theologien, die es dazu längst gibt, nicht rezipieren. Was ich mir wünschen würde, wäre ein fächerübergreifender Dialog: Kirchenrecht, Dogmatik, Bibelwissenschaften, Liturgiewissenschaften. Also es ist aus meiner Sicht eigentlich jedes Fach von diesem Thema betroffen."
Loiero: "Da gibt es nur ein Grundproblem: Wir haben Curricula, die voll sind mit allem, was man braucht oder meint, brauchen zu können, was Theologinnen und Theologen brauchen sollten. Da müssten dann wohl wirklich neue Schwerpunkte gesetzt werden. Und da finde ich noch einmal den Rückgriff auf 'Erga migrantes" wichtig, weil darin wirklich die Bischöfe und auch die Fakultäten eigentlich verpflichtet werden, dass sie dieses Thema mit hineinnehmen in ihr Denken und in ihre Strukturen. Die Frage der Migrationspastoral ist schließlich nicht nur eine Frage des Globalen Südens, sondern sie betrifft unsere Realität, die Realität vor unserer Haustür. Da müssten wir längst mit anfangen – und tatsächlich gibt es ja bereits und Gott sei Dank in der jungen Generation viele, die dieses Thema aufgreifen."