Frühe Schriften: Mehr heiß, als fad
Foto: Peter Weidemann
Podcast vom 23. Oktober 2023 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Dieses Mal gibt es vier Interviewpartnerinnen und ein großes Thema, nämlich Geschlechtlichkeit und Sexualität in den frühen Schriften des Judentums, Christentums und Islams.
Bevor wir in dieses Thema eintauchen, stelle ich noch meine heutigen Interviewpartnerinnen vor, die heute alle gemeinsam in Graz sitzen: Katharina Pyschny, Professorin am Institut für alttestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Graz; Charlotte Fonrobert, Department of Religious Studies an der Universität Stanford; Annette Weissenrieder vom Institut für Bibelwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg und Professorin Mira Sievers vom Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt Universität Berlin.
Sie haben seit Mai diesen Jahres ein gemeinsames Projekt laufen, dass sich mit den Themenbereichen Geschlechtlichkeit und Sexualität in alten Schriften beschäftigt (gefördert vom Elisabeth-List-Fellowship-Programm). Prof.in Pyschny, was ist "das Neue" an Ihrem Forschungsprojekt? Es gibt ja bereits Studien zur Geschlechtlichkeit und Sexualität, wie etwa die "Bibel in gerechter Sprache".
Pyschny: Wir versuchen unterschiedliche Expertisen und auch gemeinsam in dem sehr großen Thema Sexualität und Geschlechtlichkeit zusammenzudenken. Dafür haben wir uns sehr bewusst in einer Multidimensionalität und religiösen Pluralität zusammengefunden und repräsentieren unterschiedliche Fächer, aber auch unterschiedliche Religionen. Es ist eine alttestamentliche Expertise vorhanden, eine neutestamentliche Expertise, eine Expertin zum rabbinischen Schrifttum, sowie eine Expertin für islamische Überlieferungen. Dieses Miteinander ist etwas, was es aus unserer Sicht in der gegenwärtigen Forschung noch nicht gibt. Das zweite, vielleicht etwas neuere Moment ist, dass wir von den Texten ausgehen. Der Forschungs-Output unseres Projekts soll ein Studien-Buch sein, wo wir Kerntexte zu den Themen präsentieren. Und dann kommentieren wir diese Texte auch inhaltlich im Hinblick auf die Frage, was sie uns über Vorstellungen und Einstellungen zum Körper, zur Geschlechtlichkeit und zu Gender-Rollen in diesen frühen Schriften von Judentum, Christentum und Islam sagen können.
Katharina Pyschny
Ich muss hier provokativ nachfragen: Gott, hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen. Was gibt es jetzt Neues zu erforschen? Das mit der Geschlechtlichkeit, der Sexualität und Gender scheint auf der Hand zu liegen. Es gibt auch im Islam eine Tradition der Zweigeschlechtlichkeit. Man könnte jetzt eigentlich sagen, es gibt Mann, es gibt Frau, es liegt alles auf der Hand.
Fonrobert: Von meinem Standpunkt - also dem rabbinischen Judentum - hat sich in den letzten Jahren besonders in der amerikanischen Forschung viel getan, insbesondere zur Frage des dritten Geschlechts und Mehrgeschlechtlichkeit. Dies ist inspiriert durch die feministische Forschung, dass es nämlich viel mehr Vorstellungen zu zwischen-geschlechtliche Personen gibt. Und diese antiken Texte, die sich aus dem zweiten bis siebten Jahrhundert zusammenstellen, werden aktuell anders rezipiert. Auch in der Literatur und der Öffentlichkeit wird das rezipiert, etwa in Kalifornien, wo es mittlerweile mehr Gender-Freiheiten gibt. Und daraus werden dann Verbindungen für gegenwärtige Trans-Politik innerhalb der jüdischen Gemeinde hergestellt und auch das Jüdische wird damit in Verbindung gebracht. Also in meiner eigenen jüdischen Gemeinde, hat sich das sehr, sehr geöffnet, auch in der jüngeren Generation. Das hat wirklich ganz stark mit der neueren Rezeption dieser älteren Texte zu tun.
Das heißt jetzt für Laien übersetzt: Diese alten Texte sind nicht so altmodisch, wie man sich das vielleicht vorstellen könnte. Weil wenn ich jetzt als Theologin, als Christin beispielsweise an das Alte Testament herangehe, lese ich von männlichen Hierarchien, Gewalt oder der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau. Die von Ihnen dargelegte Perspektive, könnte eine sein, die vielleicht viele Christinnen und Christen, Jüdinnen, Juden, Musliminnen, Muslime gar nicht am Radar haben.
Pyschny: Vor allem ist es uns ein Anliegen, deutlich zu machen, dass die Texte nicht so eindeutig sind, wie sie manchmal erscheinen. Und wenn ich jetzt mal ihr Beispiel herausnehme aus dem Alten Testament "der Mensch ist als Mann und Frau geschaffen": Das ist in der älteren Forschung sehr konsensuell als eine Geschlechterbinarität interpretiert worden. Nun gibt es zunehmend Forschungsstimmen, die diese Menschen-Schöpfung von Genesis 1 und im Kontext von Polen interpretieren, die dort in der Erzählung dargestellt werden; wie "Licht und Finsternis", "Tag und Nacht", "Land und Wasser". Wenn man im Kontext der Gesamtstruktur von Genesis 1 liest, dann ergäbe sich auch eine Interpretation von "Männlich und Weiblich" nicht als fest gefügte Geschlechterbinarität, sondern als die Angabe von zwei Polen, wo alles dazwischen - also auch queer - mitgedacht ist und Schöpfungstheologisch verankert ist. Es geht darum, von den Texten auszugehen und die Mehrstimmigkeit und Vieldeutigkeit dieser Texte im Kontext von Geschlechtlichkeit und Sexualität neu zu denken. Und Sie haben vollkommen recht: Die Texte des Alten Testaments stammen aus einer Zeit, in der die Gesellschaft sehr patriarchal strukturiert war. Diese Texte sind überwiegend von männlichen Eliten geschrieben und tradiert worden und haben auch diese patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in diese Texte eingetragen. Genau deswegen ist ein historisch kritischer Blick auf diese Texte, der gerade auch diese Bias aufdeckt und problematisiert, umso wichtiger. Und auf der anderen Seite ist es spannend zu sehen, wenn Texte, die in einem patriarchalen Kontext entstanden sind, fest gefügte Geschlechterrollen und Geschlechterstereotype aufbrechen. Dann wird es umso spannender.
Ich möchte die Perspektive weiten und Mira Sievers, Expertin für islamische Theologie, vor das Mikrofon bitten: Ich habe oft das Gefühl, dass es gegenüber dem Islam und dem Koran noch mehr Vorurteile und Unwissen gibt, was Geschlechterrollen anbelangt. Jetzt habe ich mich gefragt: Wie sehen Sie jetzt Ihre Rolle hier in dieser Konstellation mit Christentum, Judentum und Islam?
Sievers: Also ich würde jetzt nicht sagen, dass der Islam in irgendeiner Form eine Sonderrolle hat. Das Schöne ist ja, weil wir ein Forschungsprojekt gemeinsam verfolgen, geht es nicht primär um die Frage der Kommunikation. Das heißt, wir gehen jetzt nicht von Vorurteilen aus, die in der Gesellschaft bestehen, sondern versuchen die Texte sehr genau zu lesen, und zu fragen, mit welchem Vorverständnis wir an diese Texte herangehen. Denn während es natürlich für den Entstehungskontext des Korans und die Überlieferung des Propheten, natürlich stimmt, was Katharina für das Alte Testament gesagt hat, dass wir es mit einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu tun haben sowie, dass Texte stark von Männern geschrieben und interpretiert worden sind. Trotzdem ist es nicht so, dass alle Vorstellungen von Geschlechter-Konzeptionen, die wir heute haben, zwangsläufig aus den Texten kommen. Das heißt, wir müssen sowohl schauen, welche unterschiedlichen Vorstellungen wir haben, aber uns auch selbstkritisch hinterfragen. Denn inwiefern treten wir vielleicht mit einem festgefügten Bild von Geschlechterbinarität an die Texte heran und finden etwas, das dort vielleicht gar nicht so zu finden ist? Um ein Beispiel aus der islamischen Tradition zu bringen: Hier ist es so, dass die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten nicht nach Geschlechter-Konzeptionen jenseits von Mann und Frau gesucht hat; in den vergangenen Jahren hat sie es aber immer mehr getan. Und so sehen wir etwa, dass bereits in Koran-Kommentaren, aber auch in frühen Rechtstexten, die Rede ist von Personen, die – wenn wir die Texte richtig verstehen – beide biologischen Geschlechtsmerkmale aufweisen und nicht klar Männern oder Frauen zuzuordnen sind. Das heißt, wir haben es hier mit einer Beschreibung von Personen zu tun, die wir wahrscheinlich heute als intergeschlechtlich bezeichnen würden. Gleichzeitig ist dieses Konzept nicht deckungsgleich mit dem modernen Konzept von Geschlechtlichkeit, zum Beispiel deswegen, weil das moderne Konzept Erkenntnisse über Chromosomen voraussetzt, die in diesen Texten nicht vorhanden sind. Das heißt aber, dass trotzdem dort Konzepte vorhanden sind, die wir vielleicht nicht ohne Weiteres erwartet hätten, wenn wir nicht danach gesucht hätten. Und trotzdem ist es so, dass für viele vormoderne muslimische Gelehrte das sicherlich eher eine Selbstverständlichkeit war und wir auch stark geprägt sind von den Veränderungen innerhalb der letzten 200 Jahre, die wir heute über Geschlecht denken.
Was sind die Parallelen in der gemeinsamen Forschung zwischen Christentum, Judentum und Islam in den alten Texten zum Thema Geschlechtlichkeit und Sexualität? Hat es etwas gegeben, bei dem sie sich nicht gedacht hätten, dass dies "gleich" ist?
Weissenrieder: Gerade in Bezug auf die Schleier Frage, woran wir gerade arbeiten, haben wir eine interessante Entdeckung gemacht: Bislang habe ich als Neutestamentlerin die Frage nach dem Schleier nicht in Bezug auf die Alltagswelt in der Antike bezogen. Nun haben wir aber Texte aus dem zweiten Jahrhundert gelesen, von Tertullian und anderen Kirchenschriftstellern, und dort sehen können, dass die Frage von Verhüllung und Verschleierung, besonders von jungen Mädchen, ins Zentrum gerückt wird. Von einer Frage, die sich im Neuen Testament eigentlich noch um die Verschleierung von Ehefrauen während des Gottesdienstes bezieht, wird nun auf eine Verschleierung von jungen Mädchen in Alltagssituationen bezogen, um sie dem begehrlichen Blick von Männern zu entziehen. Und dabei gibt es einige Gemeinsamkeiten, von denen wir selbst überrascht waren.
Sievers: Also was ich spannend fand, war, dass Annette mir sagte, dass es frühe Texte gibt, in denen über arabische Frauen gesprochen wird als Vorbild von verschleierten Frauen. Und das ist in einer Zeit, in der der Islam noch gar nicht entstanden war. Das bringt zwei Dinge hervor, die doch interessant sind: Zum einen, dass Verhüllungs-Praktiken auf der arabischen Halbinsel älter sind als der Islam selbst. Das heißt, dass sich frühe islamische Texte mit dem Vorgefundenen auseinandersetzen, das übernehmen und teilweise modifizieren oder kritisieren. Das heißt, dass die Texte meiner Kollegin mir auch helfen, die islamischen Texte besser einzuordnen und in ihrem Kontext zu verstehen. Das andere ist, dass diese Vorstellung, dass Verschleierung nichts Bedrohliches ist, was die muslimischen Frauen nach Europa bringen, sondern, dass das vielleicht etwas sein könnte, sogar vorislamisch, was aus Sicht von christlichen Autoren sogar nachahmenswert ist. Das finde ich extrem erstaunlich.
Weissenrieder: Und dabei haben wir noch dazu festgestellt, dass diese Frage von Verschleierung auch deshalb so interessant ist, weil die Form des Schleiers genau bedacht wird. Und da gibt es doch relativ zahlreiche Parallelen. Also im neutestamentlichen Text steht etwas von "Macht haben über" und man hat es häufig damit erklärt, dass man sagte, dass die Männer dadurch Macht über die Frau haben und das mit Genesis 3,16 erklärt. Das Interessante ist, dass der Macht-Begriff ein Abstraktum ist; das heißt, diejenige, die den Schleier trägt, hat auch die Macht über sich selbst. Also nicht jemand anders kann die Macht haben, sondern nur die Frau hat die Macht über den Schleier und deshalb kann sie ihn auch tragen oder eben nicht tragen. Was auf den ersten Blick frauenfeindlich klingen mag, ist vom griechischen Text so angelegt, dass es möglicherweise mindestens eine andere ambivalente Deutung gibt.
Fonrobert: Aus der Perspektive des rabbinischen Schrifttums ist es ähnlich gelagert. In den frühesten Texten der Mischna wird auch über arabisch jüdische Frauen gesprochen, die als verschleiert dargestellt werden. Hier ist aber – wie bei der neutestamentlichen Kollegin – nicht ganz klar, was eigentlich Verschleierung bedeutet. Man kann diese Texte also nicht im ethnografischen Sinne benutzen, als ob die Rabbiner wüssten, was dort passiert oder ob sie das nur projizieren. In unserer Zusammenarbeit geht es daher nicht nur um die Klischees, die man gegenseitig hat, sondern auch solche innerhalb der eigenen Tradition. Da gibt es ja ebenso viele Spannungen auch innerhalb des rabbinischen Judentums. Und die Frage nach der Bedeckung des männlichen Kopfes kommt eigentlich kaum oder weniger vor.
Pyschny: Um etwas aus der alttestamentlichen Perspektive hier zu ergänzen. Ich glaube, das, was in der Zusammenarbeit deutlich geworden, gerade bei dem Thema Verhüllung oder Verschleierung, ist, dass Verhüllung in all unseren Texten als eine sehr wichtige und facettenreiche Körper-Praktik in den Blick kommt, die vor allem etwas mit Sozialstatus zu tun hat und je nach Kontext unterschiedlich gefärbt ist. Das merkt bereits bei den Begrifflichkeiten, wenn man nämlich nach hebräischen Begriffen für Schleier oder Kopfbedeckung sucht, erkennt man, dass es nicht nur den einen Begriff für Schleier, Verhüllung, Verhüllung oder Kopfbedeckung gibt, sondern viele unterschiedliche. Zum Beispiel im Alten Testament ist ein sehr geprägter Begriff "Schleier" und der kommt eigentlich nur in zwei Erzählungen im Buch Genesis vor und wird dort sehr unterschiedlich verstanden. Einmal als eine Art Erkennungsmerkmal einer verheirateten Frau; andererseits steht der Begriff im Kontext mit Bekleidungsvorschriften von Prostituierten. Also hier merken wir, dass die Begrifflichkeiten nicht eindeutig sind. Bei diesem Phänomen, merken wir, dass wir uns gegenseitig helfen können, damit wir näher an den möglichen Sinn, Optionen und Bedeutungen unserer Begrifflichkeiten herankommen können.
Wie sind Sie zusammengekommen? Wie haben Sie dieses Forschungsprojekt gegründet? Was war so die Initialzündung?
Weissenrieder: Ich bin die Initiatorin dieses Projektes. Ich habe einen an einem Quellenbuch zu Körper und Verkörperung in den antiken Texten des Neuen Testaments, des griechischen Alten Testaments, aber vor allen in der antiken Philosophie und Medizin gearbeitet. Dabei habe ich gemerkt, dass ich sehr stark in meiner eigenen Tradition verbleibe. Fragen, die sich zum Beispiel in Bezug auf Jungfrauenschaft, gleichgeschlechtliche Sexualität oder Körper, ergeben, kann ich nur aus meiner eigenen Tradition wirklich sorgfältig erarbeiten. Dadurch habe ich zuerst Katharina Pyschny gefragt, weil ich von ihr gehört hatte, dass sie schon mit Mira Sievers arbeitet und dann noch Charlottes von Robert, sodass wir eine Bandbreite von verschiedenen Zugängen und verschiedenen Text Möglichkeiten haben.
Sie haben ein sehr breites Spektrum an Themen, von Verhüllung, Körper, Blutfluss, Jungfrauenschaft, Enthaltsamkeit, Ehe, Prostitution, gleichgeschlechtliche Sexualität, Einstellungen zu Körper, Gender Rollen usw. Das ist ein irrsinnig breites Themenspektrum. Wie haben Sie sich auf dieses Themenspektrum geeinigt? Man kann sich vielleicht "von außen" nicht immer vorstellen, wie Forscherinnen und Forscher auf ihre Themen kommen.
Sievers: Ich möchte erst mal darauf hinweisen, dass das dieses Projekt in gewisser Weise noch viel wahnsinniger ist. Der Zeithorizont ist gigantisch. Also die ältesten Texte der hebräischen Bibel stammen aus dem 7. Jahrhundert v.Chr, bis zu den mittelalterlichen Kommentaren der rabbinischen Schriften und islamischen Texten aus dem 9./10. Jahrhundert n.Chr. Wir haben da mehr als 1.500 Jahre abgedeckt. Wenn man eine solche Bandbreite hat, also drei Religionen, diverse Schriften, dann ist natürlich klar, dass alles, was wir machen, einen exemplarischen Charakter hat. Das muss man, glaube ich, festhalten. Wir haben die erste Themenauswahl anhand einer Winter School gemacht, wo wir gemeinsam mit Studierenden überlegt haben, welche Texte uns besonders wichtig sind. Und da ist die Auswahl aus zwei Richtungen gekommen: Das eine ist die Gegenwartsperspektive, bei der gleichgeschlechtliche Beziehungen, also moderner Homosexualität, sehr stark nachgefragt werden, sowie die Frage nach Queer- und Inter-Geschlechtlichkeit. Auf der anderen Seite gibt es Anfragen, die bei bestimmten Religionen landen und dort besondere Assoziationen auslösen, wie das Thema der Verhüllung oder das Thema der Jungfrauen. Die Herausforderung ist dann, dass jeweils die anderen Personen, bei manchen Fragen wirklich die eigenen Schriften besonders genau anschauen müssen, weil eine vielleicht mehr weiß. Wir können keinen Anspruch erheben, wirklich alles abzudecken. Das ist unmöglich.
Eine Frage zur Herangehensweise: Als Forscherinnen gehen sie ja mit einer gegenwärtigen Position an Texte heran, werden dann Texte nicht automatisch auch in einer bestimmten Weise gelesen? Wie funktioniert hier die Hermeneutik und wie kritisch sind dabei mit sich selbst?
Pyschny: Ich denke, dass es methodisch immer mit zu reflektieren ist, dass wir als Exegeten von antiken Texten nicht komplett losgelöst sind von unseren Kontexten. Das bedeutet aber für mich im positiven Sinne, dass wir über unsere Methodik und Hermeneutik reflektieren und diese auch kritisch hinterfragen müssen. Für mich als Alttestamentlichen ist es erstmal wichtig, die Texte historisch-kritisch in den Blick zu nehmen. Und das bedeutet die Texte in ihrer Struktur, Sprache, Semantik, Spektren usw. vor dem Hintergrund des historischen Kontextes so weit zu erheben, wie ich das eben kann. Und da geht es mir erstmal nicht um eine Vereindeutigung des Textes, sondern ehrlich gesagt genau um das Gegenteil, um die Erfassung von allen möglichen Bedeutungen, die dieser Text hat bzw. gehabt haben könnte. Erst in einem zweiten Schritt wäre dann für mich eine Ausweitung der Methodik möglich und sinnvoll, seien es Methodiken oder Hermeneutiken aus der Soziologie, Kulturwissenschaft, den Geschlechter-Studien und so weiter anzuwenden. Das ist für mich ein zweiter Schritt, nachdem ich wirklich die Texte historisch-kritisch mit den bewährten Instrumenten alttestamentlicher Exegese analysiert habe.
Fonrobert: Von der Perspektive der jüdischen Studien möchte ich noch hinzuzufügen, dass sich die Fragestellung natürlich immer –ergibt muss man als Wissenschaftlerin mitdenken – aus dem Gegenwärtigen. Man kann nicht den Anspruch des Historistischen, dass die Texte einfach so selbst für sich sprechen, stellen. Aber man kann dann sagen, die Texte oder die Tradition selbst haben schon immer Fragen zum Thema Geschlechtlichkeit gestellt. Also in der Thora ist die Grundfrage des Menschseins einfach die Frage der Geschlechtlichkeit. Wie das dann gelesen wird, ist eine Frage der Hermeneutik und da kann man sich 100 Jahre lang darüber streiten. Aber dass die Fragestellung selbst in der Thora, im Alten Testament und bei Paulus im Neuen Testament und in rabbinischen Schriften gestellt wird, das ist einfach die grundlegend. Also aus der amerikanischen Perspektive würde ich sagen sind wir in den Geisteswissenschaften mittlerweile durch die Schule von Michel Foucault gegangen, dass Homosexualität und eigentlich Sexualität als ein grundsätzlicher Aspekt menschlicher Identität nicht ein übergeschichtliches Thema ist, sondern nach Foucault eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist. Deshalb muss man vorsichtig sein, wie wir unsere Begrifflichkeiten auf die antiken Texte anwenden, weil die ja nicht dieselbe Begrifflichkeit und dieselbe Wissenschaftswelt haben, wie wir es haben. Daher ist es für unser Projekt wichtig, dass wir uns erst mal auf die Begrifflichkeiten der antiken Texte einlassen und sehen, wie die verschiedenen Themen konzipieren und damit dann die Gegenwart ins Gespräch bringen mit den antiken Texten. Damit man nicht unsere "Zwangsjacke" auferlegt, sondern dass man von denen auch lernt, wie wir vielleicht ein bisschen anders denken können.
Welchen Einfluss können diese Texte und damit auch dieses Forschungsprojekt auf aktuelle Debatten rund um Geschlechtlichkeit und Sexualität haben? In Österreich hatten wir in diesem Jahr bereits viele Diskussionen rund um Binnen-I, die Transsexualität im Zuge von Dragqueen-Lesungen für Kinder, es gab unzählige Debatten rund um "toxische Männlichkeit" zum Rammstein Konzert und den Vorwürfen. Wie können alte Texte bei diesen Themen einen Input liefern? Oder ist das zu großer Anspruch?
Sievers: Also, ich glaube, dass der Anspruch sehr groß ist, da nicht jedes Forschungsprojekt immer zu jeder Debatte etwas sagen kann. Nur weil wir über Geschlechtlichkeit und Sexualitäten reden, können wir jetzt nicht jedes Rammstein-Konzert kommentieren. Auf der anderen Seite ist es natürlich spannend, dass bestimmte Debatten sich auch in frühen Texten der drei Religionen wiederfinden können. Zum Binnen-I: Also ich komme ja aus Deutschland, da ist es der Doppelpunkt im Moment. Aber das zeigt ja schon, es gibt diverse Arten, um zu gendern und eine riesige Debatte darüber, was die beste Art ist zu gendern. Dahinter steht häufig das Anliegen zu sagen "Ich möchte mit diesen Texten alle Menschen ansprechen.", "Ich möchte, dass sich alle Menschen angesprochen fühlen, an die diese Texte adressiert sind". Weil sich vom generischen Maskulinum im Zweifel nicht alle Frauen angesprochen fühlen. Oder Personen, die sich jenseits von männlich oder weiblich identifizieren, fühlen sich davon nicht angesprochen. Hier könnte man einen interessanten Verweis auf die islamische Tradition machen, auf einen Koran Vers in der 33. Sure Vers 35. Der wirkt so bisschen überraschend, weil er adressiert Männer und Frauen fast schon übermäßig; es ist die Rede von fastenden Männern und Frauen, gläubigen Männern und Frauen, frommen Männern und Frauen, geduldigen Männern und Frauen. Man fragt sich dabei, warum die immer doppelt vorkommen. Und wenn man dann in die frühen exegetischen Überlieferungen blickt, sieht man, dass sich laut einer Überlieferung eine Frau des Propheten beim Propheten beklagt und gefragt hat, wo denn mal was Gutes über Frauen vorkommt in diesem Koran – "Die Offenbarung, die du Prophet, uns bringst, die richtet sich ja immer an Männer". Und was sie meint ist, dass der Koran natürlich ein Maskulinum verwendet, was von Gelehrten üblicherweise als ein generisches Maskulinum interpretiert wird. Also wenn dort steht "O ihr Gläubigen" meint das auch die gläubigen Frauen. Aber diese Frau hat sich beim Propheten beschwert und gesagt, dass sie sich nicht adressiert fühlt. Daraufhin soll dieser Vers offenbart worden sein, der ganz explizit Männer und Frauen adressiert und dadurch, wenn man so will, auf "koranische" Weise gendert. Also das Anliegen, dass man sich angesprochen fühlen möchte und was wir heute diskutieren, war damals auch schon vorhanden. Was jetzt dieser Koran Vers und diese Erzählung für heute bedeutet, ist natürlich hoch interpretationsbedürftig. Also man könnte das natürlich in jeder Art und Weise interpretieren. Ich würde natürlich sagen, das Spannende ist, dass der Prophet und Gott letztlich aus islamischer Sicht dieses Anliegen ernst genommen hat.
Pyschny: Ich denke, dass ein großes Anliegen unseres Projektes schon ist, mit Missverständnissen in der Interpretation und Rezeption unserer Texte ein bisschen aufzuräumen. Denn obwohl wir in einer zunehmend säkularisierten und pluralisierten Gesellschaft leben, finde ich es faszinierend, dass, wenn es dann um Themen von Sexualität und Geschlechtlichkeit geht, doch sehr gerne religiöse Motive oder religiös vermeintlich begründete Geschlechterstereotype dann argumentativ in die Debatte eingebracht werden. Und diese werden nicht selten mit den unterschiedlichen Schriften der religiösen Tradition verbunden. Und zumindest im Falle des Alten Testaments sehe ich sehr, sehr viel Aufklärungsbedarf im Hinblick darauf, was jetzt wirklich im hebräischen Alten Testament steht. Denken Sie nur an die höchst sexualisierte Darstellung der Garten-Eden-Erzählung oder die Vorstellung, dass die Frau die Sünde in die Welt gebracht hat. Das sind schon Vorstellungen, die – sei es bewusst oder unbewusst – in unterschiedlichen Medien unserer Zeit fortgeschrieben werden. Sie haben zwar vielleicht in der späteren Rezeption durchaus ihren Anhaltspunkt und Berechtigung, aber in der hebräischen Variante alttestamentlicher Texte und der Schöpfungs-Erzählung ist das nicht drin, wie das manchmal medial vermittelt wird. Und da würde ich schon sagen, dass wir noch einiges an Aufklärungsarbeit zu tun haben.
Die letzte Frage geht an Annette Weissenrieder, als Initiatorin des Forschungsprojekts. Was glauben Sie, ist das Resultat des Forschungsprojekts, das im Oktober 2024 herauskommt?
Weissenrieder: Was übrigbleibt, ist, dass wir uns über Sexualitäten und Geschlechterfragen verständigen, über eine Religion hinausgehend. Und das, finde ich, ist tatsächlich das, was wir gesellschaftlich momentan auch benötigen, weil wir mit so vielen unterschiedlichen Vorstellungen an die jeweils andere Religion herangehen und auch Vorurteilen herangehen.