Ewige Baustellen? Martin Lintner über Sexualmoral, theologische Freiheit & synodale Lerneffekte
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Podcast vom 16. November 2023 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner und Henning Klingen
Klingen: Willkommen bei "Diesseits von Eden", dem Podcast der Theologischen Fakultäten in Österreich und Südtirol. Das sage ich jetzt ganz bewusst. Also das Wort Südtirol. Denn heute ist mal alles ein bisschen anders bei "Diesseits von Eden". Anders, weil wir nur einen Gast haben aus Südtirol - und anders, weil wir diesmal und erstmals als Moderatorenteam auftreten. Mein Name ist Henning Klingen und ich darf gemeinsam mit meiner Kollegin Franziska Libisch-Lehner durch diese Folge führen. Um gleich rein zu springen in die Folge: Wer ist denn heute unser Gast?
Libisch-Lehner: Also uns gegenüber sitzt der Südtiroler Moraltheologe Martin Lintner. Sie haben seit 2011 den Lehrstuhl für Moraltheologie und Spirituelle Theologie in Brixen inne und gehören dem Orden des Serviten an. Viele Theologinnen und Theologen kennen Sie wahrscheinlich als Autor etwa von Ihrem Buch "Den Eros entgiften" oder den eben erschienenen Band zur christlichen Sexualmoral und Ethik.
Klingen: Ist das schon der Grund, warum wir Martin Lintner zu Gast haben, oder?
Libisch-Lehner: Nein, es ist nicht nur das Buch, das 680 Seiten stark ist über eines der heißen Eisen, über das Sie ja gern schreiben. Sie sind noch aktuell in Wien, um das Buch zu bewerben. Und wir haben Sie zu Gast, weil Sie heuer schon hohe Wellen geschlagen haben. Also nicht mit Ihrem Buch, sondern mit dem verweigerten Nihil obstat. Zur Erklärung für alle Zuhörenden: Martin Lintner ist NICHT Dekan der philosophisch theologischen Hochschule Brixen, obwohl vom Hochschulrat ins Amt gewählt. Ihnen ist das sogenannte Nihil obstat verweigert worden. Ihre Professur ist aber davon nicht betroffen. Und ein drittes Thema: Wir wollen Sie natürlich auch zu Ihrem Blick auf die eben zu Ende gegangene Welt Bischofssynode befragen. Die Ergebnisse, was jetzt noch weitergeführt wird und was zu kirchlich theologisch aktuell laut Ihrer Meinung noch ansteht.
"Caus Lintner": Nihil obstat-Verfahren werden überarbeitet
Klingen: Also ein strammes Programm für diese Folge, Herr Professor Lintner: Wir haben schon gehört, als 'Herr Dekan' dürfen Sie hier nicht begrüßen. Was ist denn Stand der Dinge bei diesem Verfahren und worum geht es da im Kern eigentlich?
Lintner: Zunächst danke für die Einladung zu diesem Gespräch. Ja, das hat Aufsehen erregt. Es hat große Wellen geschlagen. Ich würde mir wünschen, auf diese Form von Aufmerksamkeit verzichten zu können. Der Stand der Dinge ist der, dass bereits im Juli das Bildungsdikasterium die Entscheidung ausgesetzt und den Bischof gebeten hat, den amtierenden Dekan für ein Jahr zu verlängern. Das dezidierte Ziel dieses Jahres ist es, Zeit zu gewinnen, um Fragen zu klären. So hat es in der offiziellen vatikanischen Mitteilung geheißen. Nach meinem Wissensstand hat das Bildungsdikasterium bereits seit Ende 2022 begonnen, die Regeln für die Nihil obstat-Verfahren zu überarbeiten. Und ich gehe davon aus, dass man abwarten wird, bis diese Überarbeitung zu Ende gekommen ist, und dass man dann eine neue rechtliche Grundlage hat, um eben das zu machen, was man angekündigt hat, nämlich neu zu prüfen.
Klingen: Aber was wurde Ihnen denn konkret für eine Verfehlung vorgeworfen?
Lintner: Im Detail würde ich das selber auch gerne wissen. Also offensichtlich haben doch einige meiner Publikationen ausgehend von 'Den Eros entgiften', was Sie ja schon erwähnt haben, Irritationen hervorgerufen und bereits 2012 zu einem internen Gutachten geführt, das eben zum Schluss gekommen ist, dass ich zwar die Lehre der Kirche nicht in Frage stelle, aber dass es notwendig sei, dass ich in fünf Punkten meine Position so kläre, dass sie eben ganz deutlich wird, dass ich hier auch ganz deutlich hinter der Kirche stehe. Damals habe ich eine Stellungnahme geschrieben für meinen Bischof, der dann das auch nach Rom berichtet hat und der auch dachte, dass die Sache damit geklärt ist. Aber offensichtlich war sie es doch nicht, auch wenn seit elf Jahren diesbezüglich nichts mehr aus Rom gekommen ist. Aber wie gesagt, ich möchte es im Detail selber gerne wissen, weil eine genaue Mitteilung nicht erfolgt ist, was jetzt tatsächlich die Punkte sind.
Klingen: Haben Sie denn eine Vermutung, woran sich Rom gestoßen haben könnte?
Lintner: Also damals waren es fünf Punkte. Das waren die ganz klassischen heißen Eisen der katholischen Sexualmoral: der Umgang mit Homosexualität, mit vorehelichen Beziehungen, mit der Empfängnisregelung, mit geschiedenen Wiederverheirateten. Und insgesamt hat man angemerkt, würde ich ein subjektivistisches Verständnis vertreten. Ich befürchte, dass mittlerweile, nachdem ich ja zu diesen Fragen auch weiterhin publiziert habe, auch weitere Publikationen womöglich Aufmerksamkeit erregt haben. Etwa eine, nehme ich mal an, zum Thema der Genderfrage, wo ich den Umgang des römischen Lehramtes mit der Genderfrage kritisch hinterfragt habe, weil er meines Erachtens unterkomplex ist. Ich kann mir vorstellen, dass auch dieser Artikel auf dem Schreibtisch dort gelandet ist, aber ich weiß es nicht. Das ist wirklich eine Spekulation.
Libisch-Lehner: Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2023. Papst Franziskus hat ja doch sehr viel in Gang gebracht, auch in puncto Beziehungsebene, Geschlechtervielfalt und so weiter. Haben Sie sich eigentlich gedacht: Das wird schon kein Problem sein...?
Lintner: Nein, das habe ich mir nicht gedacht, sondern das, was ich eher versuche, ist, einen konstruktiven Beitrag zu leisten, einen dialogisch reflektierten in einer Frage, von der noch nicht absehbar ist, wie sich die kirchliche Lehre tatsächlich weiterentwickelt. Es ist schon richtig, dass Papst Franziskus einiges bewegt hat. Aber ich teile auch die Auffassung jener, die sagen, dass das, was er macht, bis zu einem gewissen Punkt relativ ambivalent bleibt, weil er doch sehr stark und auch wiederholt betont, dass sich auf der Lehre, auf der Ebene der Lehre auch dessen, was im Katechismus beispielsweise formuliert ist, nichts ändert. Was sich aber geändert hat, ist ein anderer pastoraler Umgang mit betroffenen Menschen. Und da stelle ich mir die Frage, ob das langfristig so gut gehen kann. Ich denke etwa, dass man daran festhält, dass jegliche Form von homosexueller Beziehung sündhaft ist, aber zugleich in der Pastoral dann darauf Aufmerksamkeit zu legen, dass man Menschen begleitet und auch das Gute in diesen Beziehungen sehen soll. Und zugleich etwa die Frage, ob sie gesegnet werden dürfen, verneint, weil es eine sündhafte Beziehung ist. Das, glaube ich, lässt sich weder pastoral noch theologisch langfristig durchhalten. Ich hoffe daher, dass sich da tatsächlich auch etwas bewegt auf der Lehrebene. Derzeit sehe ich da noch nicht unbedingt die großen Anzeichen.
Klingen: Ich möchte noch einmal ganz kurz zurück zur "Causa Lintner" bzw. zum Nihil obstat-Verfahren. Würden Sie sagen, ist diese ganze Causa ein "Bärendienst", den Rom der wissenschaftlichen Theologie gegenüber und den theologischen Fakultäten gegenüber erwiesen hat, weil man auf einmal vielleicht auf die Theologie blickt und sagt "Aha, so frei, wie sie gerne sein wollten und wie sie tun, sind die Theologen offenbar doch nicht"...?
Lintner: Ich glaube, das war in vielfacher Hinsicht wirklich sehr unglücklich, was da gelaufen ist. Ich denke, man hätte möglicherweise einiges verhindern können, wenn man ganz einfach den Dialog gesucht hätte. Zunächst mit meinem Bischof, dann mit meiner Hochschule, auch mit mir selber. Insgesamt ist das Bild, das rüberkommt, wohl schädlich für viele Ebenen. Also abgesehen davon, dass es auch mir persönlich natürlich nicht unbedingt geholfen oder genützt hat. Aber das Bild, das für die Theologie nach außen hin entsteht, ist tatsächlich jenes, dass die Theologie als Wissenschaft nicht frei ist, was zum Beispiel sich dann ja auch darin niederschlägt in Debatten, welchen Stellenwert die Theologie tatsächlich auch im Kontext von staatlichen Universitäten noch haben kann. Und das, was ich auch wahrgenommen habe, was mir persönlich auch sehr leidtut, das ist eine ganz große Verunsicherung unter Kolleginnen und Kollegen, die sich jetzt möglicherweise auch auf eine akademische Laufbahn in der Theologie vorbereiten und die natürlich gehofft haben, dass gewisse Disziplinierungsmaßnahmen überwunden sind oder nicht mehr in dieser Form gehandhabt werden und die jetzt sehr verunsichert sind. Sie trauen sich jetzt teilweise nicht mehr, zu gewissen Themen zu publizieren, so lange sie das Nihil obstat nicht haben. Ich persönlich muss auch sagen, dass ich gehofft hätte, dass diese Zeit vorbei ist. Vor allem auch deshalb, weil ich mich in der Zeit, als ich Vorsitzender von der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie war, in den offiziellen Gesprächen, die wir als Präsidium, als Vorstand mit Vertretern der Bildungs- und Glaubenskongregationen hatten, genau auch diese Probleme angesprochen haben und ich doch sehr gehofft habe, dass einige unserer Bedenken, die wir mitgeteilt haben, und auch die Vorschläge, die wir mitgeteilt haben, diese Verfahren auch anders zu gestalten, doch auch aufgenommen worden wären, sodass ich auch aus dem Grund jetzt persönlich etwas überrascht war, dass man an mir ein Exempel statuiert, dass dem nicht so ist.
Als Kirche auch von säkularen Menschen lernen
Libisch-Lehner: Um noch mal die heißen Eisen anzusprechen: wir leben im Jahr 2023 - und mir scheint es so, als seien die Themen Sexualität, Homosexualität, Beziehungen eigentlich nur noch ein Thema der römisch-katholischen Kirche. Außerhalb interessiert das so niemand mehr. Ist das nicht ein Zeichen, dass wir uns nur noch mit uns selber beschäftigen und schauen, dass die Lehre gut katholisch bleibt?
Lintner: Ich würde das in einen größeren Kontext stellen. Das ist ja auch eine Tradition, die ich in meinem Buch vertreten habe. Natürlich stehen wir jetzt zunächst einmal unter einem gewissen Druck, weil der Missbrauchsskandal innerhalb der Kirche auch Anfragen an die Sexualmoral der Kirche stellt. Selbst wenn es keine unmittelbaren ursächlichen Zusammenhänge gibt. Das belegen ja auch Studien außerhalb von der Kirche. Aber dennoch, da sind wir unter Zugzwang gekommen. Der Grund, warum sich die Kirche so schwer tut, sich zu bewegen, hat sicherlich auch damit zu tun, dass es, dass wir Pontifikate nach dem Konzil hatten, die genau diese Fragen an oberste Stelle gestellt haben. Und das wurde in Folge auch zu einer Art letztem Kriterium für die Rechtgläubigkeit auch von Professoren oder Professorinnen. Und die These, die ich vertrete, ist eben die, dass das im Kontext des Paradigmenwechsels des Zweiten Vatikanischen Konzils zu sehen ist. Und ich denke, das wir jetzt zum ersten Mal tatsächlich so etwas wie eine volle Rezeption sehen, so dass jetzt etwas zum Durchbruch kommt, wo sich dann viele fragen, was das nun im Kontrast zu Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. etc. bedeutet. Und, ja, wir müssen sehen, dass sehr viele Menschen gerade in Europa, aber auch darüber hinaus sich mit diesen Fragen zwar schon auseinandersetzen, weil ja Sexualität und Beziehung etwas ist, was alle Menschen betrifft, aber nicht mehr unbedingt die kirchliche Lehre für sich selber in Anspruch nehmen. Die Frage ist nun: haben wir etwas anzubieten für diese Menschen, was ihnen tatsächlich auch eine Hilfe sein kann. Und auf der anderen Seite können wir auch von solchen säkularen Prozessen eben lernen, dass nicht alles, was sich entwickelt, falsch ist oder dekadent; vielleicht können wir sogar etwas darauf lernen, weil uns das hilft, blinde Flecken zu entdecken in unserer eigenen Tradition.
Libisch-Lehner: Was ist es zum Beispiel, was die Kirche von säkularen Strömungen lernen kann?
Lintner: Beispielsweise, dass die Ehe mit Liebe zu tun hat. Das ist für uns heute so etwas Selbstverständliches. Aber wenn wir bedenken, dass noch in den Vorbereitungsdokumenten für das Zweite Vatikanische Konzil stand, dass es ein Irrtum ist zu glauben, er hätte mit Liebe zu tun, und wenn wir dann sehen, dass dieses Ideal von Liebe und der Liebesheirat erst im 19. Jahrhundert auch in der säkularen bürgerlichen Welt aufgekommen ist, dann haben wir da etwas gelernt, weil das Zweite Vatikanische Konzil sagte Ja, ganz genau. Es ist tatsächlich so, dass die Ehe ein Bund der Liebe, der Treue ist. Und es wurde der Wert der Liebe entdeckt, auch der affektiven, emotionalen Liebe, auch der geschlechtlich zum Ausdruck gebrachten Liebe und eben nicht nur negativ, dass sexuelle Lust als ein Übel zugelassen wird, weil es notwendig ist für die Fortpflanzung; sondern das ist tatsächlich Ausdruck dessen, was zwei Menschen füreinander empfinden. Und das haben wir eben nicht gelernt, weil wir die Bibel neu gelesen haben, sondern weil sich in der Gesellschaft etwas entwickelt hat, was die Kirche rezipiert hat.
Klingen: Das würde wohl an sich noch keinen Protest des Lehramtes hervorrufen. Das Problem beginnt ja erst dann, wenn wir von Liebe außerhalb ehelicher Strukturen sprechen ...
Lintner: Ja, und da ist dann der nächste Punkt, dass wir von einer Tradition herkommen, in der eben der strukturelle Rahmen und die rechtliche Regelung gleichsam die Legitimation ist für das, was in der Ehe geschieht. Und es gibt Dokumente aus dem 18. Jahrhundert, die sogar sagen: Selbst wenn es zu Gewalt in der Ehe kommt oder eben auch zur Nötigung in der Ehe kommt, selbst dann wäre das zu dulden, denn schließlich würde das dann ja auch verhindern, dass der Mann dann sexuelle Befriedigung außerhalb sucht. Und heute sind wir da sehr sensibel geworden, dass eben gerade auch die eheliche Liebe oder dass eben die Qualität der Beziehung nicht einfach davon abhängt, was der strukturelle Rahmen ist, sondern eben von dem, was die Beziehungsqualität ausmacht. Und dass wir dann eben nicht mehr sagen können, die Struktur legitimiert das, was in der Ehe geschieht, sondern wenn schon, ist es umgekehrt. Und dass wir dann nicht mehr sagen können, dass dort, wo eben die Struktur, das heißt die offizielle Eheschließung fehlt, alles nur mehr negativ ist, wenn eben das, was in einer Beziehung geschieht, ja genau die Werte schützt, die die Kirche ja auch schützen möchte, nämlich die Verantwortung füreinander. Und da wären wir jetzt dann schon an einem Punkt, wo man dann Widerspruch ernten kann.
Unterwegs zu einer reifen Beziehungsethik
Klingen: Was müsste denn im Idealfall lehramtlich passieren? - Braucht es eine Art "Amoris laetitia 2.0", wo Öffnungen sakramentale Art nicht nur in Fußnoten geschehen, sondern ganz offiziell...?
Lintner: Also das, was ich versuche in meinem Buch zu entfalten, ist, dass wir wegkommen von einer klassischen Sexualmoral hin zu einer Beziehungsethik, und zwar in dem Sinne, dass Sexualität nicht einfach als abstrakte Einheit gesehen wird, dass Menschen einen sexuellen Akt nur für sich allein betrachten können, sondern dass wir eben davon ausgehen, dass Sexualität Teil der menschlichen Person ist und dass die Entfaltung der sexuellen Identität etwas sehr Komplexes ist. Das Zweite: wir sollten nicht nur Verbote und Gebote aufstellen nach dem Motto: Wer darf wann mit wem was? Es geht vielmehr darum, Sexualität als eine Form von Beziehungsmöglichkeit zu begreifen und Menschen zu befähigen, einen verantwortungsvollen Umgang einzuüben, der eben den anderen Menschen in seiner Würde, in seiner Freiheit, in seiner Identität achtet. Etwas, gegen das zum Beispiel in krasser Weise beim Thema Missbrauch verstoßen wird.
Klingen: Konservativere Geister könnten dazu sagen 'Das ist das der Kniefall vor dem hedonistischen Zeitgeist'. Wo sind denn die Stoppschilder für Sie?
Lintner: Nein, das ist kein Kniefall vor dem hedonistischen Zeitgeist. Das würde ja bedeuten, dass ich die Sexualität wieder reduziere auf das, was halt das Lustvolle an der Sexualität ist, aber nicht so, dass ich das Lustvolle integriere in einen größeren Zusammenhang. Ich würde sagen, die Stoppschilder, die nicht gehen, die habe ich auch versucht aufzuzeigen: Das ist alles, was mit Gewalt zu tun hat, was mit Missbrauch zu tun hat, wo es eben nicht darum geht, dass die Würde des anderen Menschen respektiert wird. Es gibt auch ein Kapitel, wo ich versuche herauszuarbeiten, dass Konsens allein noch nicht hinreichend ist, dass Einvernehmen mehr ist als Konsens. Es gibt zum Beispiel auch Gewalt-Beziehungen, die vielleicht konsensual sein können, aber meines Erachtens eben auch die Würde eines Menschen verletzen.
Libisch-Lehner: Wir haben uns jetzt gefragt, was die Kirche lernen muss. Jetzt frage ich umgekehrt. Wir haben hier vielleicht Hörerinnen und Hörer, die wenig mit Kirche und Theologie zu tun haben. Was könnte eine christliche Beziehungsethik nicht auch für Beziehungen, die außerhalb von Kirche und Theologie sich ereignen, bringen?
Lintner: Ich glaube eben, dass wir von unserem christlichen Menschenbild her einiges mitbringen können, was eben die Integration von Sexualität und Beziehungsfähigkeit in die menschliche Person ausmacht. Ich denke jetzt zum Beispiel an das, was im sozialen Bereich stattfindet oder im gesellschaftlichen Bereich: der Umgang mit Pornografie, der Umgang mit Prostitution. Das sind ja alles Fragen, die auch die säkulare Welt betreffen. Und dann wäre eben zu fragen, was wir genau in diesen Kontexten dann sagen können, wenn es um die Würde des Menschen, um den Schutz des Menschen geht? Ein zweites Beispiel wäre die ganze Auseinandersetzung mit der Genderfrage. In einem Gespräch berichtete mir ein Psychiater aus Deutschland, dass es unter Jugendlichen eine ganz große Verunsicherung gibt bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität - und dass eben sehr viel mehr als statistisch erfasst sich als Transpersonen schon im Jugendalter empfinden. Auch da kann man dann vielleicht fragen von einer christlichen Anthropologie und von einem christlichen Menschenbild her, wie man diese Menschen so begleiten kann, dass sie zu einer reifen Selbstwahrnehmung kommen, dass sie in Prozesse kommen, sich selber anzunehmen und der Schritt zu einer körperlichen Veränderung so möglicherweise nicht der erste ist, sondern dann nach einem längeren Klärungsprozess erst folgt.
Transgender: Nicht alles immer als einen Angriff auf die Lehre verstehen
Libisch-Lehner: Zum Thema Transgender: Ich habe manchmal das Gefühl, dass kirchliche Vertreterinnen und Vertreter fast "Schnappatmung" bekommen bei dem Thema. Alles, was mit fluider Geschlechtlichkeit, Polyamorie, Transgender etc. zu tun hat, hat extrem viel Sprengkraft in der Kirche. Wie könnte man da vielleicht etwas mehr "christliche Gelassenheit" hineinbringen? Wo kann christliche Ethik helfen und weniger verurteilen?
Lintner: Ich denke, es wäre wichtig, diese Entwicklungen nicht in erster Linie als Angriff gegen die eigene Lehre zu sehen. Auch wenn man schon sagen kann, dass diese neuen Erkenntnisse in Bezug auf das Menschenbild einer kopernikanischen Wende entsprechen. Denn wir sind gehalten, von den betroffenen Menschen auszugehen und nicht zu sagen so, da haben wir jetzt einen Mensch und den müssen wir in die Schublade pressen, männlich oder weiblich und heterosexuell, und sonst gibt es nichts. Und wenn dann Abweichungen da sind, dann müssen wir die so behandeln wie Behinderungen, körperliche Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Nein, wir müssen diese Menschen einfach so wahrnehmen, wie sie sind. Und da wissen wir heute eben, dass es sehr viele Möglichkeiten auch von Geschlechterdifferenz und Geschlechtsidentitäten gibt, schon rein körperlich, biologisch, chromosomal, hormonell, bis hin zum psychischen Empfinden bis hin zu der Orientierung, geschlechtlichen Orientierung. Davon ausgehend müssen wir uns fragen: Wie können wir diesen Menschen bestmöglich helfen? Eben auch aus dem Glauben heraus, dass genau diese Menschen, so wie sie sind, ja auch Kinder Gottes sind, ohne dass wir sie eben unter diesen Aspekt des Defizitären stellen. Auch diese Menschen sehnen sich nach Beziehungen, sehnen sich nach Annahme, sehnen sich nach einer Partnerschaft. Und wie können wir sie darin unterstützen? Und nicht zu sagen: Aber die entsprechen nicht dem, was unsere Lehre ist.
Klingen: Worin sehen Sie denn diesen defizitären Blick begründet? In einem subkutan immer wieder hervorschimmernden Naturrecht?
Lintner: Ich würde zwei Punkte nennen: Einmal tatsächlich der biblische Umgang mit Gen 1 und jener Bibelstelle, in der es heißt: 'Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.' Dass das ja auch über Jahrhunderte so ausgelegt worden ist, dass da essentialistisch Mann und Frau getrennt und später dann komplementär interpretiert aufeinander bezogen sind. Auch da haben wir ja einen langen Weg hinter uns. Bis in die Neuzeit hat man ja noch die Frau in Bezug auf den Mann als defizitär betrachtet. Thomas von Aquin zitiert noch Aristoteles, der eben gemeint hatte, dass die normale Embryonalentwicklung in Richtung Mann führe - und wenn diese Entwicklung gestört sei, dann entwickelt sich der Embryo zur Frau. Da sind wir ja Gott sei Dank drüber hinweg ... Und das Zweite ist tatsächlich eben vom stoischen Denken her dieses Naturrechtsdenken, dass die Natur der Sexualität ausgerichtet ist auf die Fortpflanzung und dass deshalb jegliche Form von sexueller Aktivität, die eben nicht auf Fortpflanzung hin orientiert ist, gegen die Natur der Sexualität verstößt und damit moralisch verurteilt wird.
Libisch-Lehner: Ich habe den Eindruck, dass in der katholischen Kirche sehr viel über Sex, Geschlechtlichkeit, Mann und Frau gesprochen wird. Aber es gibt ja auch viele andere, drängende Entwicklungen - Stichwort Künstliche Intelligenz, humanoide Roboter etc. Sollte man nicht eigentlich diese ganze Energie, die jetzt in diese ganzen geschlechtlichen Fragen hineingeht, stärker in die Richtung Technologie lenken, um nicht hier auch wieder den Anschluss zu verpassen?
Klingen: Anders gefragt: Kommt nächstes Jahr ein weiteres 680-Seiten-Buch von Martin Lintner zum Thema KI...?
Lintner: Ich würde sagen: Das eine tun, das andere nicht lassen. Wobei ich jetzt einmal froh bin, das eine getan zu haben. Also Sie sprechen natürlich Themen an, die äußerst wichtig sind und wo wir eben auch als Kirche gefordert sind. Ich denke zum Beispiel an Künstliche Intelligenz. Da gibt es auch bereits einige Publikationen, selbst wenn die jetzt in der Öffentlichkeit noch nicht so intensiv diskutiert werden. Auf der anderen Seite können wir zu diesem Thema der Beziehungsethik nicht einfach nichts mehr sagen, weil wir dann ja auch einen Anschluss verpassen würden. Und eben weil ich tatsächlich glaube, dass selbst wenn uns jetzt nicht die Menschen die Tür eintreten, so bleibt das doch ein wichtiges und heikles Feld, wird doch die Würde von Menschen weltweit derzeit einfach Millionenfach. Und wo wir eben auch sehen müssen, dass wir mit der herkömmlichen Lehre, die wir vertreten haben, hier zu wenig Hilfe anbieten können, dass das nicht geschieht und dann auch neue Denkwege anbieten müssen. Das halte ich schon auch für eine Aufgabe und eine Verantwortung der Theologie.
Synode: "Ich habe eine gewisse Grundskepsis diesem Prozess gegenüber"
Klingen: Fragen einer zeitgemäßen Beziehungsethik stehen zwar nicht unmittelbar auf dem Spielplan der Synode, aber sie blitzen immer wieder durch - etwa beim deutschen Synodalen Weg. Wie haben Sie denn als Theologe, als Priester, als Südtiroler die ganze Synode verfolgt? Als einen Aufbruch zu etwas Großem oder - mit Helmut Krätzl gesagt - als einen im Sprung gehemmten Reformversuch?
Lintner: Als ich sage es ganz offen, dass ich eine gewisse Grundskepsis habe gegenüber diesem Prozess. Ich habe die Befürchtung, dass es am Ende zu großen Frustrationen kommen wird, dass das Ergebnis nicht das sein wird, was sich viele erhoffen, dass das auch nicht möglich sein wird, weil ja auch die Erwartungen zum Teil so diskrepant sind, dass nicht alle Erwartungen erfüllt werden können. Wo ich Positives sehe, ist eher die "prozedurale Ebene", also dass sich die Art und Weise geändert hat, wie die Beratungen stattfinden. Man muss ja unterscheiden zwischen Synodalität, wie es jetzt Papst Franziskus uns als Kirche neu ins Stammbuch geschrieben hat, als Charakteristikum der Kirche, dass wir also gemeinsam als Gläubige unterwegs sind, also dieser synodale Charakter, und dann eben diese Momente von Synode, wie sie jetzt in Rom stattgefunden haben, wie sie im kommenden Herbst wieder stattfinden werden, also diese spezifischen Ereignisse von Synodalität. Aber was meines Erachtens wichtig ist, ist, dass wir uns dadurch als kirchliche Gemeinschaft bewusst werden, dass wir unterwegs sind, nicht um eine bestimmte Agenda umzusetzen, sondern letztlich diesen Auftrag haben, dem Willen Gottes zu entsprechen. Was möchte Gott von dieser Kirche, dass sie in der Welt von heute wirkt? Und wie kann sie das wirken? Und wo stehen wir uns da selber im Wege und müssen dann ganz einfach sagen: So geht es nicht weiter ...
Klingen: Mich interessiert Ihr spezieller südtiroler Blick auf die Sache - denn hier hat man manchmal den Eindruck, dass die "deutschsprachige Bubble" die Synode zu einer Art Showdown zwischen konservativen und fortschrittlicheren Kräften erklärt.
Lintner: Ich würde nicht sagen, dass das eine Bubble ist, sondern man argumentiert oft eher als Kritik am deutschen Synodalen Weg, dass das so typisch deutsch sei und in der Weltkirche so nicht stattfinden würde. Ich denke, die Probleme, die man diskutiert, die sind wirklich weltweit vergleichbar, wenn auch unterschiedlich gelagert. Ich habe persönlich Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in den unterschiedlichsten Ländern, und die würden nie sagen: Ja, das ist typisch deutsch, sondern die sagen, bei uns ist das vielleicht anders gelagert, aber es kommt auch vor. Was in Italien sicher noch ganz anders ist, ist diese Involvierung tatsächlich von Laien, von Frauen und Männern in Konsultationsprozess. Denn dort ist tatsächlich noch sehr stark der Priester und der Bischof derjenige, der entscheidet. Das ist auch das, was ich an Rückmeldungen bekommen habe von jenen, die aus Südtirol teilgenommen haben, die sagten: Moment, wir möchten in der ersten Reihe mitdiskutieren, und wir möchten den Bischöfen ins Gesicht sagen, was wir denken. Diese Haltung ist noch weniger ausgeprägt.
Libisch-Lehner: Was könnte denn so eine Weltbischofssynode von einer christlichen Beziehungsethik für ihren synodalen Prozess lernen oder mitnehmen? Hätten Sie da ein paar Tipps für die Bischöfe?
Lintner: Im letzten Kapitel meines Buches habe ich die Frage gestellt: Was lernen wir von christlichen Ehepaaren? Wir glauben ja, dass sich in der partnerschaftlichen Liebe etwas von der göttlichen Liebe zu uns Menschen vergegenwärtigt. Ich muss dann die Ehepartner fragen: Was sind ihre Erfahrungen von Beziehung, von all dem, was Beziehung ausmacht? Schöne Momente, schwierige Momente, Konflikte, Krisen ... Und wenn wir die Ehe als Metapher für die Gottesbeziehung oder im Alten Testament für die Beziehung Jahwes zum Volk Israel verstehen, dann bedeutet das auch, dass wir von den Menschen lernen müssen, wie es ihnen damit geht in der ganzen Bandbreite und Diversität des Lebens und ihrer Identitäten, damit wir vielleicht damit auch in der Kirche dann Möglichkeiten finden, mit Diversität anders umzugehen.
Libisch-Lehner: Geht das eventuell etwas konkreter...?
Lintner: Ich würde einen Blick der Weite und der Gelassenheit empfehlen. Mit Weite meine ich, dass die derzeitigen Prozesse gesehen werden in einem historischen Kontext. Und da können wir ja von der Geschichte sehr viel lernen, dass das, woran wir glauben festhalten zu müssen, weil wir sonst unsere katholische Identität verlieren etc. sich in historischen Kontexten entwickelt hat und manches heute auch einfach seine Plausibilität verloren hat. Wir müssen also fragen: Wie können wir heute genau das, was uns so wichtig ist, bewahren, ohne einfach nur an etwas festzuhalten, weil es immer so war. Also diese Weite zu haben, zu sagen, gut, wir sind auch in Entwicklungsprozessen drinnen und dann kann sich etwas entfalten. Selbst wenn wir jetzt noch nicht unbedingt sehen, in welche Richtung sich etwas entwickelt. Und das Zweite wäre die damit verbundene Gelassenheit. Ich persönlich bin überzeugt, dass uns der Heilige Geist so beistehen wird, dass sich das, was richtig ist und was dem Evangelium entspricht, auch zeigen wird. Und wenn es wirklich irgendwo einen Irrweg gibt, dann wird der nicht Bestand haben. Es geht um das Grundvertrauen: Gott wird uns schon zeigen, in welche Richtung es geht. Das ist jetzt aber, glaube ich, immer noch nicht das, was sie hören wollten...
Libisch-Lehner: Ich bin aber schon zufrieden. Danke.
Klingen: Dann schauen wir mal, ob uns der Geist gelassen vielleicht im nächsten Jahr wieder zusammenführt und auf dem Wege sie dann auch hier als Dekan sitzen lässt. Wer weiß, wo der Geist überall weht.
Libisch-Lehner: Mit diesen hoffnungsvollen Worten sagen wir Danke, dass Sie sich unseren Fragen gestellt haben, hier in dieser Runde und auch Danke allen Zuhörerinnen und Zuhörern von diesem theologischen Podcast.
Klingen: Und bleiben Sie uns gewogen, wir hören uns wieder, ob wieder in dieser, wie ich finde, fruchtbaren Kombination als Moderatoren-Duo. Herzlichen Dank für den Besuch, Prof. Lintner!
Lintner: Danke auch Ihnen!