Ärgernis oder Heilszeichen? Das Kreuz mit dem Kreuz
Foto: Johanna Tück
Podcast vom 2. April 2023 | Gestaltung: Henning Klingen*
Es ist ein Kreuz! – Wie oft schon haben Sie diesen Ausspruch getätigt, um – mit leidendem Gesichtsausdruck – zu erkennen zu geben, dass Sie einer Sache überdrüssig sind, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass Sie sich plagen mussten oder müssen…? Tatsächlich ist es ein Kreuz mit dem Kreuz, könnte man sagen. Denn nach dem Ende des viel besungenen christlichen Abendlandes oder – weniger pathetisch – eines sich seiner christlichen Wurzeln wohlwollend bewussten Europa haben immer mehr Menschen ein Problem mit ihm, dem Kreuz.
In der Schule? Da forderten zuletzt gar Schülervertreter in Tirol – wieder mal – weg damit! – Auch sonst hat es das Kreuz im öffentlichen Raum schwer. In der Kunst wird es übermalt, verfremdet, ist es Objekt von Umcodierungen. Im gelebten Glauben ist es gegenwärtig im Gebet (beim Bekreuzigen), in jeder Kirche stößt man natürlich darauf. Und immer wieder fragt man sich als halbwegs wacher Christ: Warum? Warum steht die Verehrung des Kreuzes so zentral da in unserer Religion und Tradition? Ein Zeichen der Marter, der Folter, des Todes? –
Und schon sind wir mitten drin – nicht nur im "Drama" der Osterzeit, in die wir nun hineingehen – sondern im Drama auch der eminent theologischen Frage, wie wir heute zeitgemäß das Kreuz denken, mit ihm glauben können. Ein Podcast, gewissermaßen, der die Strecke von Karfreitag bis Ostersonntag vermessen möchte. Und dazu begrüße ich heute die folgenden Gäste:
Zum einen Michaela Quast-Neulinger – sie ist Assistenz-Professorin am Institut für Systematische Theologie der Universität Innsbruck. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Fragen des Religiösen in säkularer Welt, interreligiöse und interkulturelle Begegnung und Fragen des Managements von religiöser Pluralität (im Sinne eines guten Zusammenlebens). U.a. hat sie auch zu Fragen der Vulnerabilität – der Verletzlichkeit – publiziert. Darin befasst sie sich – natürlich – auch mit Fragen des Kreuzes.
Dann ein herzliches Willkommen an Christoph Heil. Er ist Professor für Neues Testament an der Kath.Theol. Fakultät der Uni Graz. Er forscht nicht speziell zu Fragen des Kreuzes bzw. des Kreuzesverständnisses in der Bibel – ABER: als Neutestamentler dreht sich natürlich alles irgendwie auch immer um diese zentrale Frage: Wie ist das Kreuz biblisch verantwortbar zu deuten? Ist es Sieges- oder Todeszeichen, Schandmal oder Heilszeichen?
Und schließlich begrüße ich den Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück. Er forscht und publiziert immer wieder nicht nur zu dogmatischen Themen, sondern zu kulturellen, literarischen, zeitdiagnostischen Themen und Fragen. Zuletzt – und passend zu unserem heutigen Thema – ist von ihm das Buch "Crux - Über die Anstößigkeit des Kreuzes" erschienen. Darin geht er in 24 Essays oder Miniaturen dem Kreuz in seinen Bedeutungsebenen in Mythologie, Kultur- und Religionsgeschichte, in der Theologie und in der Öffentlichkeit nach.
Zunächst zum Einstieg vielleicht die Frage an Sie drei: Welche Rolle spielt das Kreuz in Ihrem Leben – sei es akademisch, sei es das Glaubensleben? Ist es Eckstein, Anstoß, Ärgernis …?
Quast-Neulinger: "Für mich war der Herrgottswinkel stets das, was Glaube in der Familie ausmacht. Ganz selbstverständlich gab und gibt es den einfach immer noch in vielen Häusern. Aber man muss doch ehrlicherweise sagen immer weniger. Also wenn man Wohnungen, Häuser jüngerer Generationen betritt, dann ist es eben nicht mehr selbstverständlich, dass das Kreuz einfach immer da ist, präsent ist am Esstisch, am Familientisch. Und dann möchte ich noch zwei sehr widersprüchliche Erfahrungen anführen, die vielleicht auch darauf aufmerksam machen, wie provozierend, aber auch ermächtigend das Kreuz sein kann: Voriges Jahr habe ich in der Karwoche mit meiner Tochter die Kirche besucht. Sie blickte auf das Kreuz und sagte 'Mama, der hat Aua!' Kinder haben schon ein Gespür dafür, was das Kreuz aussagt. Und dann hatten wir eine Tagung mit Leuten aus fünf Kontinenten. Nach drei Tagen ist es uns einfach nur mehr dreckig gegangen. Und wir haben uns gefragt: Was ist los mit uns? Wir arbeiten gut, es ist super in unserer Gruppe. Was ist los? Und dann haben wir festgestellt: In unserem Arbeitsraum hingen überall nur Kreuzesdarstellungen. Dunkel, Schwarz, Blut, Folter und Leid. Und wir haben das wirklich körperlich gefühlt."
Heil: "Vielleicht zwei Punkte nur von mir. Ganz persönlich ist das Kreuzzeichen für mich ein ganz wichtiges Ritual. Ein kleines Zeichen beim Gebet oder auch bei bestimmten Momenten. Das, glaube ich, ist ein wesentlicher Ausdruck für mich. Jedenfalls vom Glauben, vom Beten, von der Zugehörigkeit auch zur Kirche. Neben den öffentlich sichtbaren Kreuzen auch im privaten oder universitären oder öffentlichen Raum. Und dann natürlich, was am Anfang schon gesagt wurde, dass der gekreuzigte Christus am Kreuz natürlich in der Bibel ganz zentral ist. Also man braucht gar nicht sich als Bibelwissenschaftler speziell mit dem Kreuz beschäftigen. Wenn man sich mit dem Neuen Testament an sich beschäftigt, dann tritt einem das Thema des Gekreuzigten auf vielen Seiten entgegen. Bei Paulus, bei den Evangelien, auch bei den anderen Texten. Also um diese Glaubenswahrheit, um das Bekenntnis zum Gekreuzigten kommt man im Neuen Testament gar nicht herum."
Tück: "Für mich ist das Kreuzzeichen auch von Kindheit an sehr wichtig. Zunächst eine Ausrichtung nach oben in die Vertikale, dann aber genauso wichtig die Ausrichtung in die Horizontale, also eine Verdichtung von Gottes und Nächstenliebe und vielleicht auch eine biografische Erfahrung, die mir jetzt bei der Beschäftigung mit dem Thema neu aufgegangen ist: Als ich fünf Jahre alt war, noch im Kindergartenalter, habe ich mit meinem Vater mal eine Fahrt gemacht und wir sind zufällig an einem Friedhof vorbeigekommen, wo ein Kleinlaster gerade dabei war, alte gusseiserne, kunstvoll gestaltete Kreuze aufzuladen. Die brachen entzwei und wurden dann quasi verschrottet. Und mein Vater hielt an und sprach dann mit den Arbeitern, ob das wirklich der angemessene Umgang sei? Und er hat dann ein besonders schönes, aber gerade demoliertes Kreuz in den Wagen genommen und bei einem befreundeten Handwerker dann wieder zusammenschweißen lassen. Das hängt bis heute bei uns an der Haustür. Also da steckt die Anstößigkeit des Kreuzes gleich in mehreren Ebenen drin. Stichwort Vulnerabilität, aber eben auch die Heilung, die damit quasi erhofft wird."
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück
Waren es auch solche persönlichen Anstöße, die Sie dazu gebracht haben, dieses Buch zu schreiben?
Tück: "Ja, es ist eigentlich die doppelte Verstörung, dass im Jahr 2018 das Rektorat unserer Universität per Erlass verfügt hat, dass eine Hörsaal-Verlegung stattfindet und in dem Zusammenhang quasi im Kleingedruckten mit gesagt wurde, dass die religiösen Symbole ab jetzt dann verschwinden würden. Das war die erste - eine historische Zäsur, wenn man so will. Wenn man davon ausgeht, dass in den Hörsälen der Theologie jahrhundertelang religiöse Markierungen da waren. Und die zweite war dann, dass unsere Fakultät eigentlich nicht bereit war, das universitär zum Thema zu machen, um noch mal über die Vielschichtigkeit des Symbols nachzudenken, auch religionsrechtliche Alternativen zu erwägen, weil die Politik der weißen Wand ja letztlich dann doch zu einer Privilegierung der Religionslosen führt. Das steht quasi als Störung im Hintergrund. Ich wollte das dann aber nicht kulturpessimistisch beklagen, sondern den Phantomschmerz produktiv wenden und hab dann versucht, ein ganzes Panorama aufzureißen, um deutlich zu machen: Das Kreuz spielt nicht nur innerhalb der Theologie, sondern auch in Philosophie, Mythologie, Literatur und so weiter eine Rolle. Und es lässt sich auch nicht ohne Weiteres systematisieren. Und insofern ist aus dem Phantomschmerz dann gewissermaßen etwas Produktives geworden."
Bevor wir es etwas systematisieren und vielleicht auch biblisch betrachten: Frau Quast-Neulinger, das berührt ja auch eigentlich auch Ihr Arbeits- und Forschungsgebiet. Was sind da Ihre Erfahrungen oder wie arbeiten Sie sich daran theologisch ab?
Quast-Neulinger: "Ich erinnere mich sehr gut an die Causa im Jahr 2018. Das hat mich ehrlich betroffen gemacht, dass in den Wiener Hörsälen die Kreuze abgenommen werden. Und wir haben hier schon intensiv darüber diskutiert. Und auch jetzt das Votum der Tiroler Schülerinnen und Schüler, die Kreuze in den Klassenzimmern abzunehmen, das ist schon ein Zeichen der Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses. Und worüber ich hier sehr stark nachdenke, welche Form von Religion und religiöse Präsenz in unserer Gesellschaft möglich und erwünscht ist? Welche Deutungen werden mächtig, auch öffentlichkeitswirksam, wenn die Theologie keine Sprache mehr findet für die Deutung des Kreuzes? Aus meiner Perspektive gibt es hier immer wieder zwei große Versuchungen: Das eine ist eben, das Kreuz zu sehen als militärisches Siegeszeichen, als Sieg über den anderen, wie wir es auch gegenwärtig wieder erleben. Dorothee Sölle spricht davon, dass das Blut des Lammes und das Blut des Drachen miteinander vermischt werden. Und ich würde sagen, das ist eine Perversion des Kreuzes. Und das andere Problem: Wenn das Kreuz nicht nur ein Ärgernis ist, dann kann, soll es auch provozieren, also auch etwas hervorrufen und uns anregen, ein Stachel sein. Aber wenn es nur mehr als Ärgernis verstanden wird, dann haben wir auch ein massives Problem."
Ass.-Prof. Dr. Michaela Quast-Neulinger
Wäre nicht auch ein dritter Grund denkbar - nämlich der, dass das Kreuz belanglos geworden ist, dass man es nicht mal mehr anstößig findet?
Tück: "Das ist natürlich ein ganzes Feld, was wir jetzt hier eröffnen. Also es gibt natürlich die Banalisierung des Kreuzes in Mode und Dekor. Und so weiter. Und es gibt auch eine kulturhistorische Banalisierung des Kreuzes. Wenn Politiker hingehen und sagen, das ist Ausdruck unserer Kultur, mehr nicht. Dann wird quasi die theologische Anstößigkeit weggeschnitten. Aber ich würde schon sagen, dass das Kreuz nach wie vor auch provoziert und auch Dinge hervorruft. Und ich würde vielleicht den Fächer der Bedeutungen noch etwas anreichern wollen: Ich glaube schon, dass das Kreuz sensibilisieren kann für das Leid der anderen, das gerne in der Grauzone gelassen wird; dass es zweitens auch zu einer Kultur der Wahrhaftigkeit anleiten kann, weil es als Spiegel der Schuld Anfälligkeit betrachtet wird. Also wir sind nicht so perfekt, wie wir gerne vor uns selbst und vor allem vor anderen sein wollen, sondern wir sind fehlbar. Und das einzugestehen und dazu auch zu stehen, ist eine Ermutigung, die vom Kreuz durchaus gehen kann. Und ein dritter Aspekt, der schon in die Inhalte reingeht: Am Kreuz macht Jesus das, was er in der Bergpredigt angekündigt hat - Gewaltverzicht, Feindesliebe - sichtbar. Das ist generell die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, Mechanismen heilsam zu unterbrechen und Räume zu öffnen, um auch den einen Anfang, einen Neuanfang zu ermöglichen. Wie wir spontan eher wegdrängen wollen. Also das scheint mir ein wichtiger Anstoß zu sein zu einer Kultur der Vergebung, der Nachsicht, die unsere von Polarisierungen und Fragmentierung zerfressene Gesellschaft dringend auch als Pazifizierung braucht."
Gehen wir zunächst nochmal zurück auf das biblische Fundament. Was muss man biblisch Wissen, um das Kreuz - heute - zu verstehen?
Heil: "Von der Bibel her ist das Kreuz ein ganz deutliches Symbol für gewaltsamen Tod, für öffentliche Demütigung, für Brutalität, das schon seit der altorientalischen Zeit im achten Jahrhundert angewendet wurde, über die Jahrhunderte hinweg dann von den Römern ganz besonders angewendet wurde, bei nicht römischen Einwohnern, dem römischen Reich auch Sklaven usw. um öffentlich zu zeigen, was passiert, wenn man sich gegen die römische Ordnung verhält. Und in dem Kontext ist Jesus dann auch hingerichtet worden als nicht römischer Einwohner. Und er ist Opfer dieser gewaltsamen Hinrichtung geworden - geschichtlich ganz eindeutig belegt auch von nicht christlichen Quellen. Also wir haben einen historischen Befund, dass Jesus diesen Hinrichtungstod erlitten hat, der in der ganzen antiken Welt oder in der spätantiken Welt auch bekannt war für sein skandalöses öffentliches, brutales Geschehen. Und als das Christentum dann das Kreuz nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Kunst, in der Darstellung als Symbol verwendet hat, hat man an diesen leidvollen Tod erinnert - und auch an die segensreiche, mitleidige und solidarische Handlungsweise Gottes in der Auferweckung. Dieser 'Skandal', was Paulus im ersten Korintherbrief im ersten Kapitel auch beschreibt für die, die den Glauben an Christus nicht teilen, der ist bis heute spürbar, auch wenn das manchmal verniedlicht wird und vieles ästhetisiert wird in der Mode."
Neutestamentliche Erzählungen verweisen ja häufig auf alttestamentliche Vorlagen oder modellieren sie. Wie ist das mit dem Kreuz? Gab es auch da Vorlagen?
Heil: "Nein, der Kreuzestod war einfach ein historisches Faktum, das vor allem in der Zeit des Neuen Testaments die Römer angewendet haben. Aber es gibt auch Belege für Kreuzigungen durch jüdische Herrscher im Jahr 100 vor Christus. Also das ist ein historisches Faktum. Man hat erst nachträglich dann, als die Auferstehungserfahrungen passierten, als die Visionen von dem Auferstandenen erfahren wurden, sich gefragt: Wie kann ich diesen skandalösen, leidvollen Tod deuten? Und dann wurden alttestamentliche Bilder auch verwendet. Man hat etwa gesagt, der Kreuzestod Jesu ist wie das Opfer am Versöhnungstag in Levitikus 16. Die Evangelisten haben gerne den Gottesknecht aus Jesaja 42 oder Jesaja 52 und 53 herangezogen. Dieses Leiden für die Menschen, die Sühne für alle im Leiden. Paulus kann auch sagen: Es ist Versöhnung geschehen wie nach einem Krieg. Und letztlich kann man auch vor allem in der heutigen Zeit darauf hinweisen, dass Paulus im Kreuzestod und in der Auferstehung dann einen Friedensschluss oder eine Befreiung gesehen hat. Also Freiheit geschieht im annehmenden Glauben, dass der Sohn Gottes gelitten hat und von Gott auferweckt wurde. Diese Deutungen kommen dann nachher mit den Ostererfahrungen."
Prof. Dr. Christoph Heil
Quast-Neulinger: "Was mir sehr wichtig ist im Kreuz - und das hat mir bislang noch ein wenig gefehlt im Gespräch: Was deckt das Kreuz eigentlich auf? Das Kreuz deckt ein Spiel der Mächte auf zwischen einem imperialen Machtanspruch, wie er in Pilatus im Verhör ganz besonders deutlich wird. Das ist eine absolutistische Macht, losgelöst von jeglicher Beziehung, von jeglicher Form von Solidarität und Pluralität, die jetzt auf ein anderes Machtverständnis stößt: Ein Vollmacht-Verständnis, das zur Beziehung einlädt und den anderen ermächtigt und nicht erniedrigt. Das deckt das Kreuz auf."
Tück: "Daran anknüpfend möchte ich ergänzend sagen, dass schon im vorchristlichen Raum bei Platon in der Politeia eine elektrisierende Stelle zu finden ist, wo er nämlich der Frage nachgeht, wie es einem wahrhaft Gerechten in einer ungerechten Welt geht? Und er sagt, er wird an den Rand gedrängt, er wird verleumdet, er wird am Ende gegeißelt und gekreuzigt. Was will Platon damit sagen? Er will sagen, dass der, der das Ideal der Gerechtigkeit nicht nur auf den Lippen führt und nicht nur simulieren will, als sei er so, sondern der es wahrhaft ist, aufdeckt durch die Präsenz und durch den Vollzug dieser Gerechtigkeit, wie schattenhaft die Macht der Ungerechtigkeit das Zusammenleben durchdringt. Und deswegen ist das Kreuz eben auch Detektor, zeigt auf, was wir alle nicht sehen wollen. Und Girard hat natürlich da auch ein wunderbares Instrument an die Hand gegeben, diese Mechanismen aufzudecken. Er sagt: Das Evangelium ist singulär deshalb, weil es den Unschuldigen als Unschuldigen ins Zentrum rückt und die, die ihn beschuldigen, auch als Schuldige kennzeichnet. Während die Mythen alle dazu neigen, gewissermaßen dem Opfer, obwohl es unschuldig ist, dann doch eine Kollektivschuld gewissermaßen anzulasten."
Quast-Neulinger: "Ich glaube, das Kreuz ist im letzten ein Symbol der Überwindung, der überwindenden Kraft Gottes. Und was wichtig ist: in der Auferstehung werden die Wunden nicht ausgelöscht. Das ist auch der große Unterschied zu anderen, verschiedensten Konzeptionen, wie mit Leid umgegangen wird, auch wie heute mit Leiden umgegangen wird. Die Wunden werden geheilt. Sie werden transformiert. Aber gerade an den Wunden wird der Auferstandene auch erkannt von denen, die ihm gefolgt sind. Und da würde ich Ihnen fest zustimmen, Herr Tück, gerade das ist das Provozierende am Kreuz und auch am Auferstandenen: dass die Gewalt, diese Macht sichtbar gemacht wird und dass es vor allem mit unserer menschlichen Gewalt und unseren Verstrickungen konfrontiert."
Daraus höre ich den Seufzer nach einer Erneuerung von so etwas wie Kreuzestheologie. Aber vielleicht umgekehrt gefragt: Das beinhaltet die These, dass etwas fehlt, wenn das Kreuz nicht mehr da ist. Was sagt man Menschen, die dieses Fehlen nicht so empfinden; anderen Kulturen, denen das Kreuz fremd ist? Gibt es andere Inkulturation dieser Erfahrung, die wir im Kreuz aussagen?
Heil: "Vom gesamten Theologischen her ist das Kreuz natürlich ein Aufmerksamkeits-Signal für Leiden, vor allem für unschuldiges Leiden. Was wir in unserer Gegenwart ja in allen Breitengraden auf der ganzen Welt erleben, auch in großer Intensität. Dafür Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zu erregen und zu sagen, dass der christliche Gott sich diesem unschuldigen Leidenden zuwendet, dass er ihn aufrichtet, dass hier eine Solidarität besteht: das ist die eine Botschaft; und die darf durch diesen Triumphalismus, der häufig von der Kirche, aber auch politisch natürlich mit dem Kreuz verbunden wird, unterschieden werden. Seit Konstantin Anfang des vierten Jahrhunderts, aber auch schon in der Offenbarung des Johannes wird das Kreuz als triumphales Siegeszeichen verstanden. Und dagegen muss sich die Theologie unbedingt wehren. Und vielleicht ein letzter Gedanke noch: Um das auch in unserer Gesellschaft klarer zu machen, müsste sich die katholische Theologie, auch die katholische Kirche, noch stärker dafür einsetzen, dass der Karfreitag wieder Feiertag wird. Also das wäre eine Möglichkeit, mit diesem Feiertag auch diese Elemente der Kreuzestheologie in die Gesellschaft zu bringen, die jetzt so ein bisschen am Rand stehen. Das wird immer nur als evangelischer Feiertag 'abgewertet'. Das wäre auch eine Möglichkeit, diese Inhalte stärker zu transportieren und auf eine gute Weise klar zu machen, wofür christliche Theologie steht."
Ich habe in der Einleitung davon gesprochen, dass wir ja den Weg vermessen von Gründonnerstag bis zum Ostersonntag. Wo stehen wir denn da? Da gibt es ja Versuche, zu sagen: Eigentlich wäre die angemessene Haltung des Christen jene, die mit dem Karsamstag, der Grabesruhe verbunden ist. Also der Herr ist gekreuzigt, ist gestorben und wir leben zwar in der Erwartung seiner Wiederkunft, aber noch ist das Ganze weit weg. Ist das eine christlich zeitgemäße Haltung, die der Karsamstags-Christologie?
Tück: "Ich glaube tatsächlich, dass der Karsamstag ein theologischer Ort ist, die Erfahrung des vermissten Gottes, Verlusterfahrungen, Obdachlosigkeit zu machen, auch die Sprachlosigkeit zur Sprache zu bringen. Balthasar hat mal gesagt: Wir haben es theologisch nie wirklich ermessen, was es bedeutet, dass das Wort Gottes, das Mensch gewordene Selbst, tödlich verstummt ist. Und die Rede vom menschgewordenen Wort Gottes muss eigentlich immer von Unter- und Obertönen dieses tödlichen Verstummtseins mit getragen sein. Das heißt, hier haben wir eigentlich einen Ort für eine Theodizee-empfindliche Christologie, die diese epochale Signatur des Wissens eigentlich aufnimmt. Dennoch dürfen wir natürlich nicht dabei stehen bleiben. Ich werbe also nochmal dafür, das Triduum als Ganzes mit in den Blick zu nehmen. Also das ist ja das Besondere, dass quasi der Gekreuzigte als der erfahren wurde und auch Biografien umgekrempelt hat, der lebt. Und ja, dieser Transit, der in Ostern einmündet, mündet vielleicht nur dann gut ein, wenn im Osterjubel der Verlassenheitsschrei und das Verstummtsein nicht vergessen werden, so dass eben auch die freudige Feier der Überwindung des Todes geprägt bleibt von der Erinnerung an das, was hier überwunden wurde. Dann wird es eben keine billige Freude, keine schlechte Harmonisierung, sondern eine durch den Abgrund des Leidens hindurchgegangene."
Quast-Neulinger: "Ich glaube, wir können unsere derzeitige Situation, unsere Lage sowohl in der Kirche als auch in der Welt durchaus bezeichnen als eine Art Karsamstags-Existenz, als eine Art liminale Phase, wo so vieles im Chaos liegt und so die Hoffnung uns hoffentlich trägt, dass aus diesem Chaos etwas entstehen wird, das ein neues Leben möglich macht. Vielleicht müssen wir das auch wirklich ekklesiologischen ernst nehmen und eine kenotische Ekklesiologie denken: Was bedeutet es, wenn Kirche wirklich allen alles sein will und soll? Als Christinnen und Christen und auch als Kirche, nicht nur als einzelne Glaubende, sondern als Kirche ist es unsere Aufgabe, einen radikalen Dienst an dieser Welt zu tun und in diesem Sinne das Kreuz radikal zu leben. Wir haben vorhin von Obdachlosigkeit gesprochen, davon, dass sich viele nicht mehr beheimatet fühlen in dieser Kirche, auch wenn sie sich vielleicht noch danach sehnen. Will mich diese Heimat überhaupt? Wie können wir wieder eine Kirche sein, die diesen hingebungsvollen Dienst ernst nimmt. Das ist für mich schon eine sehr drängende Angelegenheit in dieser Karsamstags-Existenz."
Was wären denn Anregungen speziell an nicht religiös musikalische Menschen, um sich neu auf das, was wir Ostern nennen, einzulassen? Wie kann man sich tatsächlich dem, worüber wir gesprochen haben, positiv nähern?
Heil: "Vielleicht ein Gedanke dazu, dass die Jünger ja auch nicht genau wussten, ob er von Gott aufgeweckt werden wird. Er hat zunächst mal dem Tod entgegengeblickt und hat auch mit Schmerzen und mit Schreien dann den Tod erlitten. Und da ist wichtig: die Hoffnungs-Perspektive, die ihn bestimmt hat. Also ein ganz wichtiges Wort beim letzten Abendmahl ist seine Hoffnung, dass er auf jeden Fall wieder von diesem Weinstock trinken wird im Reich Gottes. Und dass Gott doch letztlich über die Welt schaut, sich um die Welt sorgt, dass er sein Königreich aufrichtet, dass letztlich alles gut wird. Um es einfach zu sagen: Diese Hoffnung, das ist ein ganz wichtiger Teil des Glaubens. Und den sollte man zu Karfreitag, Karsamstag, aber auch Ostern spüren können oder mitbekommen können, dass man in dieser Unverfügbarkeit des Lebens, in dem vieles auch schiefläuft, in dem man auch leidet, in dem es ja und erklärbare negative Erlebnisse gibt, dass man hier doch auf den anderen, auf eine göttliche Kraft, auf Gott hoffen kann, dass es am Ende gut wird. Das, denke ich, ist so ein Grund, eine Bewegung im Wirken Jesu, die man gerade in diesen Tagen stark machen sollte."
Tück: "Ich kann daran anknüpfen. Ich finde, dass der Glaube an die Auferweckung des Gekreuzigten einen Hoffnungshorizont aufreißt, der auch den Suchenden, vielleicht sogar den nicht glauben Wollenden etwas sagen kann. Die Alternative wäre ja, dass wir alle am Ende im Ozean des Nichts untergehen und die Bedeutungslosigkeit das letzte Wort hat. Da rebelliert aber irgendetwas und das rebelliert noch stärker, wenn wir die Unrechts-Zusammenhänge in den Blick nehmen. Gibt es eine Hoffnung auf postmortale Wiederherstellung der Gerechtigkeit? Gibt es eine Perspektive für die Opfer und gibt es auch eine Perspektive der Vergebung für die Täter? Wenn wir noch einmal ernst nehmen, dass Jesus am Kreuz die Haltung der Feindesliebe bis ins Äußerste durchhält, dann können wir vielleicht diesen hoffnungsvollen Horizont, den Christoph Heil aufgerissen hat, sogar so kühn weiterspinnen, dass wir davon ausgehen: es ist nicht gleichgültig, dass und wie wir gelebt haben, sondern wir werden erwartet. Und wir werden quasi in und durch Christus in einem schmerzlichen Prozess in die Wahrheit geführt werden, der vielleicht für die totalen Dissonanzverhältnisse unseres Lebens noch eine Perspektive der Auflösung in sich enthält, ohne dass wir die Sprache haben, das vorweg schon auszustellen."
Quast-Neulinger: "Das für mich zentrale Wort ist: aufgehoben, nicht ausgelöscht, nicht niedergeworfen oder was auch immer, sondern aufgehoben. Im Kreuz darf ich mich als Mensch in all meinen Beschränkungen, Schwächen, in all meiner Passivität und Fehlerhaftigkeit mitgenommen wissen. Und vor allem muss ich mich dessen nicht schämen, sondern ich darf darauf hoffen, dass all die Wunden, die mir in diesem Leben widerfahren sind, transformiert werden. Ich darf darauf hoffen, dass meine Wunden geheilt werden, dass aber auch jene Wunden, die ich anderen zugefügt habe, dass ich mit diesen konfrontiert werden werde. Und dass diese nur heil werden können, wenn sie anerkannt und gesehen werden, auch von mir gesehen werden."
Mir hat jetzt das Bild ganz am Anfang vom Trinken vom Weinstock gut gefallen. Das sagt wahrscheinlich sehr viel Leuten was, die gerade auch die Fastenzeit unalkoholisch begehen, so wie ich... Vielen Dank Ihnen dreien für diese Runde. Und ich glaube, wir haben ein paar Punkte angesprochen, die auch in Richtung Ostern dazu beitragen können, das Kreuz mal wieder anders zu sehen oder sich mal wieder vom Kreuz produktiv irritieren zu lassen, es nicht als selbstverständliches Zeichen unserer Religion hinzunehmen. Vielen Dank - und kommen Sie gut in die nächsten Tage der Karwoche. Wir hören uns wieder!