Raus aus der Krise: Theologische Perspektiven nach einem Jahr voller Unsicherheiten
Podcast vom 30. Dezember 2023 | Gestaltung: Franziska Libisch-Lehner
Nach Corona kamen Inflation, Unsicherheiten und das Gefühl der ständigen multiplen Krise; dann der Ukraine-Krieg und am 7. Oktober der Terrorangriff der Hamas auf Israel. 2022 und 2023 scheinen von Krisen geprägt. Und trotzdem fragen wir heute bei dieser Folge "Diesseits von Eden" nach der Hoffnung. Heute zu Gast ist Professor Salvatore Loiero, der seit dem Wintersemester 2023 Pastoraltheologie an der katholisch theologischen Fakultät der Universität Salzburg lehrt. Unser großes Thema heißt "Raus aus der Krise. Theologische Perspektiven nach einem Jahr Krieg, Hamas, Terror und Inflation". Auch wenn wir hier jetzt keine "Gänseblümchenbotschaft" verbreiten wollen, aber welchen Hoffnungsschimmer sehen Sie für 2024? Was kann Theologie in einer Stimmung von Dystopie und Hoffnungslosigkeit an Positivität bringen?
Loiero: "Ich habe mir die gleichen Fragen gestellt, gerade in der Corona-Zeit, gerade an Weihnachten. Was wünscht man denn den Menschen angesichts einer solchen Situation, die auch noch nie in diesem Maße da war? Und ich bin auf einen Text gestoßen, den Hannah Arendt in ihrer "Vita activa" hatte, wo es um die Frage des Geboren-Seins, der Natalität geht. Sie schreibt darin, dass man in dieser Welt Vertrauen haben darf; dass man an dieser Welt nicht verzweifeln soll, sondern auf sie hoffen darf. Das ist wohl nicht knapper und schöner zusammengefasst in der Weihnachtsbotschaft: "Uns ist ein Kind geboren". Das ist wirklich ein hochaktueller theologischer Ansatz: Solange immer wieder ein Mensch auf die Welt kommt, solange besteht immer wieder neu die Möglichkeit, dass ein Neuanfang geschehen kann. So lange können und müssen wir auch hoffen dürfen, denn sonst geben wir als Christinnen und Christen das stärkste Fundament auf, das wir haben, nämlich die Hoffnung."
"So lange können und müssen wir auch hoffen dürfen, denn sonst geben wir als Christinnen und Christen das stärkste Fundament auf, das wir haben, nämlich die Hoffnung."
Um die Hoffnung geht es auch heute. Sie haben eben die Krisen angesprochen und die Option auf Neuanfang. Kurz vor dem Jahr 2024 oder wenn diese Folge gesendet wird, dann ist wahrscheinlich schon 2024, geht es ja immer so um Vorsätze: Da heißt es "Heuer wird das ganz anders"; "Heuer mache ich mehr Sport" oder "Heuer höre ich zum Rauchen auf". Es kann aber auch die Option für Neuanfang in eine politische Richtung sein. Auf Wikipedia habe ich gelesen, dass eine ihrer Forschungsschwerpunkte die politische Theologie ist: Wie kann eine politische Theologie der Hoffnung für 2024 aussehen?
Loiero: "In diesem Fall lügt Wikipedia mal nicht. Ich hatte das Glück Exegese bei Paul Hofmann zu hören, ein Neutestamentler, der uns sehr stark und sehr früh in den Kopf gelegt hat, Referenzpunkte für die Bibel zu finden, und zwar in der Frankfurter Schule. Speziell den Römerbrief hat er uns mit Rückgriff auf die Frankfurter Schule noch mal erschlossen. ich bin also von der Sichtweise geprägt, dass Theologie politisch sein kann. Nämlich in dem Sinne, dass sie nicht in die Gewalt- oder Machtfalle oder einen Messianismus vertritt, sondern es geht um ein politisches Christ-Sein und Christ-Werden, Christin-Sein, Christin-Werden, wo wir diejenigen sind, die die Schründe aufweisen und versuchen, in diesen negativen Kontrasterfahrungen Protest einzubringen. Damit bringen wir eine Offenheit hinein, weil wir es uns anders vorstellen können: Wir wissen, glauben und hoffen, dass es anders sein kann. Hier beginnt für mich das "politisch sein", in diesem Einspruch der Hoffnung gegenüber das, was man heute Hoffnungslosigkeit oder "hoffnungsfrei" nennt, weil Hoffnung vielleicht ein abgestützter Begriff ist, der für manche gar nicht mehr existiert."
Konkret für das Jahr 2024: Wo und wie kann hier ein christlicher Protest eingelegt werden? Wie kann ich mir das als Hörerinnen und Hörer vorstellen? Wie kann man das ganz praktisch machen? Sie sind ja auch praktischer Theologe: Wo kann ich ganz praktisch als Christin, als Christ sagen "Das passt mir nicht", "Das möchte ich nicht", "Ich will mich nicht mit diesen Krisen abfinden und nicht in eine Frustration fallen".
Loiero: "Das will uns jetzt dieser synodale Prozess ins Bewusstsein bringen, dass es Ermöglichungsräume geben muss, und zwar bis hinein in die Pfarre oder noch kleiner in Gemeinschaften, wo die Menschen sich zusammentun und wirklich gemeinsam diesen Protest in Sprache bringen und in die Tat umsetzen.
"Ich glaube, wir brauchen den neuen Mut, dass Menschen sagen "Wir wollen und wir können etwas verändern". Das fängt im Kleinen an."
Zum Beispiel, nächstes Jahr sind Wahlen in Österreich, und da ist eine Frage, wie man sich als Christinnen und Christen verhält, wenn Populismus überhandnimmt, wenn man meint, durch Abgrenzung andere Menschen, die anders leben, anders denken als andere Kulturraum haben, die in anderen Status haben als man selbst, wie man die funktionalisiert. Hier glaube ich, dass wirklich die Kirche nicht nur im karitativen diakonalen Bereich tätig sein darf, sondern auch denen eine Stimme geben soll, die sonst keine Stimme bekommen. Ich würde das auch an Kreisen festmachen, wo Menschen sagen, das ist der Ort, hier können wir wirklich etwas verändern. Also zum Beispiel mit meiner Stimmabgabe oder wie man sich in der Kirche für Veränderungen einsetzt oder dass man zum Beispiel gegen Diskriminierungen von Menschen vorgeht, die anders leben und auch anders Paar-Gemeinschaften leben. Und so weiter. Dann gibt es noch die große Frauenfrage, Gleichberechtigung. Das sind konkrete Punkte, die 2024 von einem Geist getragen werden können, der wirklich gewollt ist für die Kirche - nicht als Exotik, sondern als synodalen Geist. Ich glaube, wir brauchen den neuen Mut, dass Menschen sagen "Wir wollen und wir können etwas verändern". Das fängt im Kleinen an: Wie gestalte ich mein Umgehen miteinander? Welches Interesse habe ich an den Menschen, die in meiner Pfarre leben? Also ist nur das Interesse da, wenn sie zu den Gottesdiensten kommen, oder versuche ich eine Willkommenskultur für junge Leute zu etablieren? Oder habe ich Interesse, ihnen zu zeigen, dass man froh ist, dass es sie gibt?"
Ist das nicht das Kontrastprogramm von einer Kirche als Privatsache? Das politische Christentum, das sie beschrieben haben, ist öffentlich und laut; es ist damit nicht nur "ein frommes Beten" für die Hoffnung oder ein Beten gegen den Krieg, sondern es ist eigentlich ein Aufstehen. Auf der anderen Seite gibt es auf Universitäten aber auch gesellschaftlich Tendenzen, dass Kirche und Glaube Privatsache sein soll. Also wie kann man diese zwei Tendenzen als Christin, als Christ zusammen bekommen?
"Also es gibt diese Blase, die Probleme spiritualisiert, anstatt etwas zu tun."
Loiero: "Das Schlimmste wäre, wenn man sich in die Privatisierung hineinbegeben würde. Also für mich ist Christsein immer der Anspruch, auch öffentlich zu zeigen, welche Position ich habe, die Kraft der Gemeinschaft dafür zu nutzen und die Gemeinschaft hinter mir zu wissen, dass ich nicht allein stehe. Ich glaube, das ist auch das, was die kritische Kraft von Kirche vor Ort ausmacht: Zwar, dass sie auch für die die Stimmen erhebt, die sonst keine Stimme hätten. Kirche hat auch einen Anspruch für Menschen, die nicht zu ihr gehören, aber analog denken, zu sprechen und sich nicht privatisieren zu lassen. Es ist auch einfach, wenn man sich privatisiert lässt. Also gerade neue Gruppierungen, die das Gebet und den Geist als ihren Mittelpunkt sehen und diesen in ihrer Gruppe zelebrieren – wenn das das alleinige Szenarium wäre, dann könnte es wirklich in die Falle geraten, dass ich mich als Christentum in einer "Bubble" wiederfinde. Also es gibt diese Blase, die Probleme spiritualisiert, anstatt etwas zu tun. Die "Vita activa", darf niemals so sein, dass man sich von Problemen wegbetet. Und das ist ein Punkt, wo ich sage, da muss man auftreten und Gegenprojekte entwickeln, damit man sich nicht in die privaten Räume hineindrängen lässt, weil es natürlich gemütlich sein kann.
Das ist entlastend, wenn ich nicht zu jedem Problem Stellung nehmen muss
Das ist entlastend, wenn ich nicht zu jedem Problem Stellung nehmen muss, wenn ich nicht jedes Problem sehe und zu vielen eine eindeutige Lösung habe, die vielleicht für den kleinen Kreis dieser Blase, belegbar ist. Aber letztlich führt es dazu, dass sich eine Gesellschaft segmentiert und das, was wir mit Menschenrechten, Menschenwürde usw. bezeichnen, dass das letztlich keine universale Bedeutung bekommt, sondern nur der Beliebigkeit anheimgegeben wird. In den Stadtkulturen nennt man das, Gentrifizierung: "Wir sind ja alle hip, wir sind alle offen, wir sind eine ganz multikulturelle Gruppierung." Aber in Wirklichkeit drängt man genau die raus, die nicht zu dieser Gruppierung passen, also die, die intellektuell nicht dazu passen, finanziell usw. Das ist eine ganz problematische Haltung, die auch subversiv Privatisierungstendenzen fördert und man merkt es erst gar nicht."
Heute spreche ich mit Professor Salvatore Loiero aus Salzburg. Sie haben gerade über die Privatisierung gesprochen und andererseits über die verschiedenen "Bubbles", die Blasen, die es gibt. Es wird ja immer wieder darüber gesprochen, dass sich die Gesellschaft zersplittert, es gibt Gruppierungen, die nicht mehr miteinander sprechen. Auch im Zuge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, haben sich zwei riesige Fronten gebildet, die kaum noch miteinander in Kontakt kommen können. Und trotzdem gibt es die Sehnsucht nach so einer guten, schönen Welt, in der wir uns alle lieb haben, in der es keinen Krieg gibt, in der es keine Armut gibt, in der Frieden herrscht - fast wie eine Sehnsucht nach dem Paradies. Ist das etwas ur-menschliches oder etwas ur-christliches?
Loiero: "Ich weiß nicht, ob ich das so generell teilen würde. Vielleicht ist das im deutschsprachigen Raum ein Erbe, dass man da noch so etwas hat, wie eine Sehnsucht nach dem Paradies. Aber ich glaube, es gibt genug Gesellschaften, etwa solche, die jahrzehntelang unter Despoten gelebt haben, also Kommunismus, Sozialismus, die mit diesem Begriff nichts anfangen können. Beide Pole gilt es zusammenzubringen: Die einen sagen, wir haben eine Sehnsucht von dem, was wir Paradies nennen – also wir können uns vorstellen, dass wirklich der Wolf beim Lamm liegt; und die anderen, die diese Erzählung nicht haben. Die Frage stellt sich nun, wie können beide ins Gespräch kommen? Für eine säkularisierte Welt, die kein Paradies kennt, sind es bestimmte Visionen, Optionen, Ziele, die als paradiesisch gelten. Wenn wir diese zwei Pole erkennen, können wir auch die Frage angehen, wie man damit umgeht, dass diese Sehnsucht da ist. Und diese Sehnsucht beginnt wahrscheinlich in dem, was man wirklich mit dem Humanum bezeichnen kann. Wir sollten vielleicht nicht so oft vom Paradies sprechen, sondern einfach vom glückendem Leben. Wie können wir das Menschen mit bestimmten Optionen eröffnen, mit ganz konkrete Hilfestellungen? Wahrscheinlich ist das nicht das, was sie von mir hören wollten, aber die Differenziertheit dieser Frage ist sehr komplex. Aber ich glaube, es gibt viele Menschen, die mit diesem Begriff nichts mehr anfangen können."
Wenn wir jetzt von dem glücklichen Leben sprechen: Ich glaube, jeder wünscht sich eine Form von Glück, Erfüllung oder ein Leben, in dem man seine Stärken ausleben kann usw. Wie bringt man eine christliche Vorstellung vom geglückten Leben mit säkularen Sehnsüchten zusammen?
Loiero: "Indem man versucht, in der Praxis Jesu Fußspuren neu zu finden. Hier bin ich von meiner Zeit in Fribourg / Freiburg geprägt, wo ich mit einem Pastoraltheologen mit dem Konzept von Christoph Theobald, einem Jesuiten, der in Paris lehrt, gearbeitet habe, der sogenannten "pastorale d'engendrement". Diese wurde im ganz säkularen Kontext Frankreichs entwickelt, und will das Leben erwecken. Mit diesem Ansatz, glaube ich, kann man beide Pole zusammenbringen. Die Pastoral Jesu, wie Theobald das nennt, will, dass der konkrete Mensch ein Gefühl für sich entwickelt, dass er mehr ist als das, was ihm die Welt zuspricht, dass seine Sehnsüchte und Wünsche eine Berechtigung haben. Und wenn diese Ich-Werdung im Menschen zu greifen beginnt, dann geschieht genau das, was wir die Gottesliebe nennen. Das ist kein ekklesiologischen Programm, das auf den nächsten Lektor, die nächste Kommunionspenderin oder die nächste Tisch-Mutter abzielt; sondern Ziel ist ein Interesse an den Menschen und die Hilfe für Menschen, das Potenzial des Ichs zu finden, das ihnen zugesprochen wird von jemandem, der sich letztlich nicht greifen lässt. Wenn ich dieses Leben erwecke, dann glaube ich, kann man auch Glauben erwecken."
Pfarren suchen aber eben genau den Lektor, die Lektorin, die suchen die nächsten Ministranten oder die nächsten Leute, die arbeiten können. Da ist auch ganz viel Angst vor den nächsten Kirchenaustritten, vor der nächsten Kirchenkrise, vor dem nächsten Missbrauchsskandal. Braucht es mehr Gelassenheit von den einzelnen Pfarrgemeinden, um nicht in jedem neuen Kirchenmitglied mögliches "Arbeitsmaterial" zu sehen, die etwas tun könnten?
"Wir müssen uns von einer Rekrutierungsdimension befreien, dass das was wir tun, dazu dienen muss, wieder mehr Leute in die Kirchenbank zu kriegen."
Loiero: "Ja, ein Interesse am Menschen zu haben, ohne ihn zu verzwecken. Und natürlich, eine Gemeinde benötigt Menschen. Aber das geht letztlich nur, wenn Menschen überzeugt, dass sie das auch möchten und von sich aus kommen. Und wenn ich jemanden mit Wertschätzung begegne und nicht gleich kralle, dann entsteht ein Dialog; daraus kommt vielleicht mal jemand und möchte sich engagieren. Also wir müssen uns befreien von einer Rekrutierungsdimension, dass das, was wir tun, dazu dienen muss, wieder mehr Leute in die Kirchenbank zu kriegen. Wir kriegen sie zu uns in die Kirche, wenn Sie merken, dass die Kirche für sie auch eine relevante Rolle im Alltag spielt. Relevanz im Sinne, dass man sich angesprochen fühlt. Auch bei der Taufe geht es nicht darum, die Menschen an die Kirche zu binden, denn eigentlich bindet sich die Kirche durch die Taufe an die Menschen. Damit bekommt man eine ganz andere Option, weil ich dann auch frage, was sich die Getauften wünschen. Also das ist das sogenannte Teilhabe-Prinzip. Partizipation heißt ja nicht nur teilnehmen, sondern auch Teilhabe.
Das kann man in sehr früh in der Elementar-Pädagogik mit Kindern einüben, dass ich die Kinder nicht als Zweckmomente sehe, dass ich sehr früh religiöses Wissen in sie hineindränge, sondern dass ich ihnen eine Möglichkeit der Entfaltung gebe und dass sie merken, dass die Kirche eine positive Rolle, der Ich-Weerdung spielt. Und das geht über die Schulzeit hinaus. Und wenn es eben keine Lektoren gibt, dann muss man eine neue Form finden, aber nicht wieder zurückfallen in die Methoden, dass am Schluss dann alles der liturgische Leiter, die liturgische Leiterin selbst macht."
Die Teilhabe ist auch die Teilhabe der Kirche, am Leben der Menschen und dieses ist durch ein Gefühl der Krise geprägt - wahrscheinlich auch angefeuert durch Corona-Lockdowns, Verschwörungstheorien oder den aktuellen Hamas-Israel-Konflikt usw. Wie kann Kirche dazu einen Kontrapunkt setzen? Es wird vielfach verlangt, dass sich Kirche oder Papst äußern sollen, oder dass der Papst mehr vermitteln soll – aber doch nicht zu viel. Also zu politisch darf's dann doch nicht sein. Das ist ja auch eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen dem, wie politisch Kirche sein und wie sehr nicht. Wo geht es bei dieser Frage im Jahr 2024 weiter?
Loiero: "Also ich muss auf diese Frage vielleicht doch erst mal theologisch antworten, bevor ich dann praktisch werde. Ich glaube, wir brauchen eine neue Grundhaltung und die habe ich gerade in der politischen Theologie und der Auseinandersetzung mit Politikerinnen und Politikern, vor allem mit dem US-Wissenschaftler Michael Walzer gefunden. Letzterer hat sich sehr stark mit der Frage beschäftigt, wie und warum Revolutionen in der Geschichte stattgefunden haben. Er hat dabei das "Exodus Moment", also das Exodus-Ereignis, das Freiheitsereignis der Bibel schlechthin, herausgestrichen. Überall dort, wo das geschieht, sind wirklich Freiheitsprozesse entstanden, die aus Unfreiheit in Freiheit führten. Aber wenn man dann in Punkt der Freiheit ist, merkt man muss achtgeben, dass man nicht selbst ein zweites Ägypten wird. Also der Exodus ist ein Auftrag, der immer wieder neu in einem neuen Prozess der Freiheit gibt. Wenn ich Freiheit immer als Prozess verstehe, dann kann ich in keine "Sicherheitsfalle" reingeraten, in der ich mit Unsicherheit nicht umgehen kann. Also Zygmunt Bauman, der große Kultursoziologe, hat schon 2003 gesagt: "Wir leben in einer Gesellschaft, deren Grundmoment revolutionär ist". Wir haben also ein revolutionäres Grundgefühl: immer wieder kommt eine neue Sache, immer kommt etwas Negatives, noch was und noch was. Und wir können letztlich nur damit umgehen, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass es keinen endgültigen Halt gibt, sondern, dass wir immer wieder versuchen müssen, neue Freiheitsprozesse anzugehen. Dazu gehört auch, sich nicht in Freiheit einzulullen, denn das wäre Verbürgerlichung von Religion. Unfreiheiten ergeben sich auch durch Sättigungen - also nicht nur durch Krisensituationen oder Kriege. Wir müssen dagegen alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, ausnutzen, etwa Bildung und Chancengerechtigkeit. Denn auch wir haben trotz unserer Bildung eine "Bildungsfreiheit", die mehr Auseinandersetzung, Reflexions- und Interpretationsvermögen bräuchte; das betrifft auch junge Menschen, die sich für Problemhorizonte und -kontexte erschließen lassen. Außerdem braucht es eine gesunde Spiritualität, die Menschen nicht für ein politisches Ziel missbraucht, sondern die immer wieder neu eine performative Kraft gibt, dass ich mich einsetzen kann. Sie haben auch den Papst genannt und die Kritik an der Diplomatie des Vatikans: Ich glaube, man muss auch aus der Arroganz herauskommen, dass man in Dilemmasituationen immer die richtige Lösung hat. Sondern Dilemmasituationen sind ja so, dass ich meine richtige Flughöhe finden muss. Das hat auch mit Pragmatik zu tun und die ist niemals so, dass ich irgendwie schwarz oder weiß habe, sondern ich muss auch mal durch Grauzonen fliegen, sie muss auch mal das "Entweder oder" einlassen. Aber sie darf nicht nachlassen. Zudem haben wir Christinnen und Christen nicht mehr das Deutungsmonopol für die Welt. Das bedeutet, wir müssen mit denen zusammenkommen und sprechen, die auch Lösungsoptionen anzeigen und im Miteinander versuchen, das Bestmögliche herauszuholen."
Wer bietet nach Ihrer Meinung oder nach Ihrer Ansicht gerade gute Optionen oder gute Gesprächsmöglichkeiten an?
Loiero: "Also ich finde, dass der jetzige Papst aktuell weltpolitisch und auch universal kirchlich überhaupt nicht schlecht hantiert. Im Gegenteil. Ich wundere mich nur manchmal, dass gerade die Leute, die immer sehr papstkritisch waren, nun den Papst als letzte Hoffnung für bestimmte Freiheiten in der Kirche sehen - also hier ist eine Romsicht, die sich manche Päpste früher gewünscht hätten. Wieder andere, die eigentlich immer sehr Rom treu waren, meinen nun, sie haben das Recht, päpstliche Entscheidungen, die die Kirche auf die Welt hin öffnen, mit einer Brutalität anzugehen, wo man sich fragt, wo da noch Kirchentreue ist, wie sie sie sonst einklagen."
Sie haben vorher einerseits die performative Kraft des Glaubens angesprochen, andererseits, dass die Kirche, keine Deutungshoheit mehr hat, sondern dass nun auch "außerkirchliche Kräfte" Hoffnung geben können. Wo sehen Sie diese positiven gesellschaftlichen Kräfte?
Loiero: "Ich würde sagen, ganz aktuell diejenigen, die sich unabhängig von politischer Couleur und unabhängig von radikalen Antworten einsetzen. Beispiele gibt es dort, wo sich Menschen für die Natur, das Klima und Menschen unabhängig von ihrer Herkunft ein setzen. Neben der Klimakrise ist auch die Menschenrechtsfrage ein wichtiges Thema. Das zeigt etwa das kürzlich veröffentlichte Segnungspapier: In Ländern, in denen Homosexualität strafbar geworden ist, werden Frauen marginalisiert, wenn sie ihren Mann verlassen, weil sie die Ehe als Hölle erleben. Als Kirche müssen wir hier an einem neuen Humanismus arbeiten, am neuen Verständnis von Menschsein."