Die Corona-Krise in Südtirol: Beobachtungen des Moraltheologen Prof. Martin Lintner
Podcast vom 26. März 2021 | Gestaltung: Andres Pizzinini & Henning Klingen*
Ist es Ihnen aufgefallen? – Im Vorspann unseres Podcasts – und übrigens auch im Abspann – hat sich etwas verändert. Wir haben ein neues Mitglied: die Philosophisch-Theologische Hochschule Brixen, die sich ab sofort mit Beiträgen und Themen einbringen wird. Und zwar "sehr sofort": Denn mein Südtiroler Kollege, der Journalist, Autor und Philosoph Andres Pizzinini, hat mit Prof. Martin Lintner, Moraltheologe an der PTH Brixen, über die Corona-Krise in Südtirol gesprochen. Vor einem Jahr sorgten erschütternde Bilder aus Bergamo in der Nachbarregion Lombardei für weltweites Entsetzen. Unzählige Särge mit Corona-Toten führten Mitte März 2020, als hierzulande gerade der Lockdown begann, vor Augen, dass wir es bei Corona nicht mit einem harmlosen Virus zu tun haben. Hören Sie hier also das Gespräch von Andres Pizzinini mit Prof. Martin Lintner:
Die Tourismusbranche ist in Südtirol ein besonders wichtiger Zweig der Wirtschaft, um die Tourismus Saison im vergangenen Sommer sowie im Winter zu retten, wurden viele Opfer gebracht. Dazu gehörten die Schließung der Schulen, teilweise auch der Kindergärten, keine Gottesdienste und nicht zuletzt Sterbende in Krankenhäusern und Altenheimen, die ohne Angehörige und Freunde, sogar ohne Krankensalbung ihre letzten Stunden verbrachten. Wurde hier die seelische Notwendigkeit einem ökonomischen Kalkül geopfert?
Ich würde da differenzieren zwischen dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 bis zum Frühsommer und dann dem Geschehen ab September, ab Herbst. Denn im Frühjahr, beim ersten Lockdown, da war es tatsächlich so, dass man nicht so sehr ökonomisch gedacht hat. Das negative Beispiel aus Tirol, die sogenannte Ischgl-Affäre, die hat man ja auch in Südtirol beobachtet; und damit hat man gewusst, man darf jetzt nicht irgendwie unvorsichtig sein und einer Branche gleichsam entgegenkommen. Da war es dann tatsächlich eher die Sorge, dass man die Infektionszahlen in Grenzen halten wollte, um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Da denke ich, dass gerade am Anfang eben tatsächlich diese Sorge sehr viel stärker im Vordergrund gestanden hat als ökonomische Kalküle. Denn es war ja schon klar, dass daneben die Wintersaison im Frühjahr 2020 nicht mehr zu retten war, und dass es auch darum ging, die vulnerable Personengruppen, also die sogenannten Risikogruppen, zu schützen. Und gerade auch die Einschränkungen im kulturellen Bereich, im Bildungsbereich und eben auch im religiösen Bereich haben dann doch dem gedient und nicht so sehr den ökonomischen Kalkülen. Anders war das ganz sicher ab Herbst, wo dann eben gewisse Interessensvertreter vor allem auch aus dem Bereich der Wirtschaft meines Erachtens durchaus auch nicht zu Unrecht darauf hingewiesen haben, welche Kollateralschäden eben diese Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ja auch haben. Und man hat sich dann natürlich auch die Frage gestellt, ob möglicherweise dadurch nicht längerfristig größere negative Folgewirkungen in Kauf genommen werden, als man eben unmittelbar durch die Eindämmung der Pandemie erreicht. Und das wissen wir ja mittlerweile alle, dass diese wirtschaftlichen Nachwirkungen und die Langzeitfolgen, die wir haben, sehr viele Menschen treffen. Und natürlich muss man sich die Frage stellen nach der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das, was man eben möchte, nämlich Menschenleben retten durch die Eindämmung der Pandemie bzw. eben das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Im November 2020 hat sich die Südtiroler Bevölkerung einem Massentest unterzogen. Es war ein Moment des Zusammenhalts, der Hoffnung. Italien hat mit Bewunderung auf Südtirols soziale Einheit geblickt. War das Unternehmen rückblickend sinnvoll und finden Sie eine solche gesellschaftliche Geschlossenheit ideal?
Ob es sinnvoll war oder nicht, kann ich jetzt nicht beurteilen, denn da gibt es ja unterschiedliche Zugänge, wie die Daten ausgewertet worden sind. Es wurde ja von mancher Seite bemängelt, dass das unmittelbare Ziel, das man erreichen wollte, nämlich die zweite große Welle zu verhindern bzw. die Infektionszahlen wirklich in innerhalb von kurzer Zeit signifikant zu senken, das hat man nicht erreicht. Andererseits weisen Virologen und Statistiker daraufhin: hätte man diesen Massentest nicht gemacht bzw. dann eben viele Infizierte, die es nicht wussten, dass sie infiziert sind, gefunden, dann wären die Infektionszahlen entsprechend höher ausgefallen. Das andere, die Geschlossenheit der Bevölkerung, sehe ich tatsächlich als etwas sehr Positives an, nämlich dass wirklich sehr viele Menschen und tatsächlich sehr viel mehr als beispielsweise in Österreich später, wo man ja auch auf dieses Modell Südtirol in Massentest geblickt hat, sich daran beteiligt haben. Ich weiß nicht, ob man es wirklich als ein Ideal der Geschlossenheit interpretieren kann, aber was ich schon sehe, dass ein Großteil der Bevölkerung die persönliche Verantwortung wahrgenommen hat zu sagen: Ich mach jetzt etwas im Dienste des Gemeinwohls. Die kontroversen Diskussionen, ob das zutrifft oder nicht, das müssen die fachkompetenten Personen führen. Da kann ich mir jetzt kein Urteil erlauben. Aber dass eben ein Großteil gesagt hat 'Wir machen hier mit', um eben für das Gemeinwohl auch etwas zu tun, das erachte ich für positiv.
Und in der Tat gilt Südtirols Bevölkerung als die disziplinierteste Italiens... Dabei hatte sich bis Mitte Januar 2021 nicht mehr als 50 Prozent des Personals im Gesundheitsdienst impfen lassen. Im Rest Italiens waren wir da schon bei mehr als 70 Prozent. Glauben die Südtiroler an einen "Rousseauschen Naturzustand" im Alpenland? War diese Haltung eher eine ablehnende Reaktion gegenüber Rom zu werten - und was sagt die Kirche dazu?
Das mit der Disziplin ist eine interessante Sache, denn wir wissen ja, dass das Infektionsgeschehen hauptsächlich auch deshalb weitergeht, weil Menschen sich auch im privaten Umfeld nicht unbedingt an die Maßnahmen halten. Da bin ich mir, weil ja Südtirol auch Italien-weit eine der höchsten Infektionsraten aufweist, eben nicht so sicher, ob wir tatsächlich die disziplinierteste Bevölkerungsgruppe innerhalb von Italien sind. Ich spüre, dass auch in Südtirol die Skepsis gegenüber den Maßnahmen und auch gegenüber den Testungen teilweise sehr hoch sind. Was mich persönlich überrascht, weil ich sie wirklich auch aus rationalen Gründen für sinnvoll halte. Aber in einem Gespräch mit einem Psychologen, der hat mir mitgeteilt, dass hier sehr viel Emotionen mitschwingen und dass man sehr viel mehr auf die Rücksicht nehmen müsste als auf rationale Gründe. Ich denke tatsächlich, dass bei einer breiten Bevölkerungsgruppe Maßnahmen auch deshalb abgelehnt werden, weil man sie tatsächlich als eine politische Bevormundung aus Rom sieht und weil man es als Möglichkeit angesehen hat zu sagen: 'Jetzt zeigen wir mal den Römern, wer hier wirklich das Sagen hat'. Ich denke, das ist bis zu einem gewissen Punkt vielleicht vergleichbar mit der Situation in Tirol, wo wir erst vor Kurzem gesehen haben, dass sich die Tiroler stark gewehrt haben gegen Maßnahmen und gegen Einschätzungen, die aus Wien gekommen sind: 'Wir Tiroler zeigen jetzt einmal denen in Wien, wer hier bei uns wirklich das Sagen hat'. Das hat man auch hier in Südtirol bei uns so beobachten können. Das ist vielleicht etwas, was in gewissen Gruppierungen oder politischen Bewegungen sich verbündete mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Maßnahmen oder gegenüber Testungen oder Impfungen. Wie sich die Kirche dazu geäußert hat: Sie hat sich eigentlich immer sehr stark dafür eingesetzt, dass die Bevölkerungen sich an die Maßnahmen hält und dass sie sowohl die Vorgaben bzw. die Beschlüsse der Landesregierung, aber eben auch jene auf der gesamtstaatlichen Gebiete einhält. Unser Bischof hat meines Erachtens besonders auch während der während des ersten Lockdown im Frühjahr und Frühsommer 2020 den Akzent sehr stark darauf gelegt, den Leidenden, den Kranken und den Hinterbliebenen von Corona-Opfern nahe zu sein, indem er wiederholt auch über die Medien Gottesdienste gefeiert hat für diese Menschen und indem er auch Friedhöfe besucht hat und dabei besonders der Corona-Opfer gedacht hat. Und ich weiß selbst aus dem eigenen Bekanntenkreis, dass betroffene Menschen das für sehr wohltuend empfunden haben und dass sie das unserem Bischof hoch angerechnet haben.
Ende April hat die italienische Bischofskonferenz ihren Unmut über die Entscheidung der italienischen Regierung geäußert, Gottesdienste weiterhin nicht zu erlauben. Was hat die Diözese Bozen/Brixen dazu gesagt?
Meines Wissens hat sie sich dazu nicht geäußert, sondern es war natürlich auch für unseren Bischof ein Anliegen, Gottesdienste wieder feiern zu dürfen. Aber die Argumentationslinie des Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Bassetti, dass es hier nämlich um einen Angriff gegen die Religionsfreiheit ginge, dieses Argument hat sich unser Bischof nicht zu eigen gemacht. Ich denke, man muss diese doch recht scharfe Reaktion von Kardinal Basetti auch dahingehend verstehen, dass einfach die Kirche in Italien, aber auch viele Gläubige selber sehr enttäuscht waren. Die Aussetzung der öffentlichen Gottesdienste während der gesamten Fastenzeit und auch während der Osterzeit, besonders auch während der Karwoche und Ostersonntag: Das war für viele sehr schmerzlich. Auch, dass beispielsweise im Vatikan keine öffentlichen Gottesdienste und Liturgien stattgefunden haben, das ist ein Novum, das es bisher in dieser Form noch nie gegeben hat und das wirklich als sehr schmerzhaft empfunden worden ist. Und als dann eben verkündet worden ist, dass diese Maßnahme verlängert werden, das war zunächst auch ein emotionaler Aufschrei. Das zweite glaube ich, dass gewisse Gruppierungen konservative Kreise nicht nur in Italien, das haben wir ja auch europaweit beobachten können, sich an ihre Bischöfe gewandt haben mit einem Aufruf beispielsweise 'Gebt uns unsere Messe zurück'. Also wir haben als Gläubige ein Anrecht, den Gottesdienst zu feiern. Und die Bischöfe sollten sich jetzt endlich dafür einsetzen, dass Gottesdienste wieder öffentlich gefeiert werden dürfen. Und man hat ja den Bischöfen in Italien den Vorwurf gemacht, sie wären von den Maßnahmen der Regierungen eingeknickt. Und da gab es dann wirklich auch ganz starken Druck auf die Bischöfe, das mögen sie verhindern. Allerdings hat man dieses Argument der Einschränkung der Religionsfreiheit nicht sehr lange gehalten bzw. nicht sehr stark gemacht, weil man eingesehen hat, dass es hier wirklich um Maßnahmen geht, die dem Gemeinwohl dienen und dass die Kirche als eine wichtige gesellschaftliche Institution hier auch eine Verantwortung wahrzunehmen hat, Menschen zu sensibilisieren, die eigene Verantwortung wahrzunehmen und eben auch dazu beizutragen, dass diese Pandemie nach Möglichkeit eingegrenzt werden kann. Und dazu gehörte eben die Vermeidung von Ansammlungen von Menschen. Das Entscheidende war dann eher, dass man es wirklich geschafft hat, auch Rahmenbedingungen auszuverhandeln, unter denen Versammlungen und in dem Sinne dann auch Gottesdienste möglich waren, eben mit Einhaltung von Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Menschen. Und ich glaube, dass dies durchaus auch im Einklang zu bringen mit der Religionsfreiheit ist, denn selbst schon immer in der Erklärung der Menschenrechte, wo eben die Gewissens- und Religionsfreiheit verankert sind, wird ganz deutlich darauf hingewiesen, dass es hier und dort Grenzen gibt, wo die Rechte anderer bedroht sind bzw. wo eben auch das Gemeinwohl bedroht ist. Also Religionsfreiheit ist in diesem Sinne ja nicht eine absolute Freiheit, sondern sie hat sich noch einmal zum Messen am Gemeinwohl bzw. auch an den Rechten der anderen. Und in diesem Sinne halte ich es für richtig, dass man mit diesem Argument dann nicht darauf gedrängt hat, wieder Gottesdienste feiern zu dürfen, sondern dass man das dann eben wirklich in dem Rahmen gemacht hat, als es eben möglich war, Maßnahmen zu treffen, um die Gottesdienste so zu gestalten, dass sie eben nicht zu Infektionsorten werden.
Diese Maßnahmen, von denen Sie sprechen müssen, müssen sein. Doch kommen wir nicht um die Frage umhin: Welche Personengruppe sollte eigentlich geschützt werden? Ein Beispiel: Im Dezember 2020 wurde vom Nationalen Institut für Statistik ein Bericht zur neuen Arbeitslosigkeit im Land veröffentlicht. 98 Prozent der Personen, die seit dem Beginn der Pandemie ihre Arbeit verloren haben, sind demnach Frauen. In Italien hat die ohnehin schon rückständige Situation in puncto Frauenbeschäftigung einen herben Rückschlag erlitten. Handelt es sich nicht auch in diesem Fall um eine vulnerable Personengruppe? Und was sagt die Kirche dazu?
Diese Zahl ist wirklich erschreckend! Es ist tatsächlich so, dass wir in der Auseinandersetzung jetzt auch längerfristig mit der Corona-Krise und wie wir darauf reagiert haben, uns diese Frage stellen müssen. Ich möchte zunächst einmal allein auf den medizinischen Bereich hinweisen: Wir wissen mittlerweile, dass gerade während der Phase des ersten Lockdown sehr viele Patientengruppen benachteiligt worden sind, benachteiligt behandelt worden sind, weil man eben kurzfristig alle Ressourcen darauf konzentriert hat und dafür zur Verfügung gestellt hat, um eben Patienten, die an Corona erkrankt sind, zu behandeln und die Krankenhäuser auch entsprechend organisiert hat. Heute wissen wir, dass die negativen Folgen für andere Patientengruppen eben da sind, und dass das Leben auch eine Gerechtigkeitsfrage ist der Verteilung der medizinischen Ressourcen. Ebenso wissen wir um die negativen Auswirkungen auf Patientengruppen, die möglicherweise aufgrund der Corona-Pandemie keine ärztliche Hilfe gesucht haben, wo Diagnosen dann zu spät gestellt worden sind oder wenn Behandlungen verzögert worden sind. Und all das müssen wir jetzt natürlich fragen, ob wir hier nicht auch ganz fundamentale Gerechtigkeitsfragen verletzt haben. Darüber hinaus gibt es negative Auswirkungen der Coronamaßnahmen auf der breiten Ebene, in besonderer Weise auf der wirtschaftlichen Ebene, aber auch auf der kulturellen Ebene, wenn über Monate hinweg Bildungs- und Kultureinrichtungen geschlossen sind. Und ein ganz wesentlicher Aspekt ist tatsächlich der: Die Corona-Krise hat ja wirklich wie unter einem Brennglas soziale Probleme noch einmal deutlich gemacht. Und die Frauen gehören zu den vulnerablen Personengruppen in unserer Gesellschaft. Da gibt es mittlerweile auch ganz detaillierte Studien dazu, dass die Frauen die Hauptlast tragen, auch die Konsequenzen, beispielsweise dass sie Beruf und Familie vereinen müssen, dass sie sich zusätzlich um Homeschooling und so weiter kümmern müssen, und zugleich gerade im Pflegebereich sehr viele Frauen tätig sind und zum Teil wirklich bis zur Überforderung auch Arbeiten müssen. Oder im häuslichen Pflegebereich, der dann nicht entlohnt wird, bis dahin, dass eben viele - 98 Prozent - von jenen, die die Arbeit verloren haben, eben Frauen sind und auch dass es zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt gegen Frauen gekommen ist. Also hier zeigt sich tatsächlich, dass Frauen in unserer Gesellschaft eine äußerst vulnerable und auch benachteiligte Personengruppe sind. Was die Kirche dazu sagt? Meines Erachtens gerade in diesem Bereich wenig. Beschämend wenig.