Umstrittener Wanderer zwischen den Welten: 500 Jahre Petrus Canisius
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Podcast vom 18. Mai 2021 | Gestaltung: Henning Klingen*
Schon wieder ein 500. Jahrestag. Schon wieder ein kirchenhistorisches Thema. Schon wieder etwas, das mit der Reformation – konkreter: mit der katholischen (Gegen)Reformation zu tun hat. Aber da müssen wir jetzt durch; denn mit Petrus Canisius geht es nicht um irgendeinen Vertreter dieser Katholischen (Gegen)Reformation, sondern um einen wichtigen und im Blick auf seine Werke bis heute wirkmächtigen, gleichsam umstrittenen Ordensmann, der auch in Österreich wirkte und seine Spuren hinterließ. Spuren, denen wir in diesem Podcast theologisch ein wenig folgen wollen. Und damit herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von "Diesseits von Eden" sagt Henning Klingen.
Hören wir zunächst eine kurze Einschätzung und Positionsbestimmung von Hermann Glettler, Bischof der Diözese Innsbruck, die Petrus Canisius als Diözesanpatron führt und in diesem Jahr in besonderer Weise feiert:
"Petrus Canisius war die zentrale Gestalt der katholischen Reform im 16. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum. Er war der erfolgreiche Katechet und Religionspädagoge, der Prediger, der Volksmissionar und so weiter. So könnte man eine ganze Liste aufführen. Und da gehörte auch natürlich seine Schattenseite dazu: dass er einiges wirklich übertrieben hat; dass er sich in die konfessionelle Polemik ordentlich mit hineinziehen ließ; und vor allem, dass er zum Hexen- und Dämonenwahn seiner Zeit viel zu wenig Distanz eingenommen hat."
Geboren in eine Welt im Umbruch
Doch treten wir zunächst einen Schritt zurück und versuchen wir eine historische Einordnung der Person Petrus Canisius in seiner Zeit: Geboren wurde er am 8. Mai 1521 im holländischen Nijmegen - und damit just an jenem Tag, auf den das Wormser Edikt datiert. Sie erinnern sich? – Wir haben in dem vorausgegangenen Podcast über den Reichstag zu Worms darüber berichtet. Das Wormser Edikt stellte den persönlichen Tiefpunkt Luthers und zugleich den entscheidenden historischen Kick für die Reformation dar: Über Luther wurde die Reichsacht verhängt und der Reformationszug war endgültig abgefahren. Die Welt, in die Petrus Canisius geboren wurde, war also eine Welt im Umbruch. Auch in Österreich, wie die evangelische Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer erklärt:
"Das religiöse Leben war bunt. Es gab religiöse Blüte, die Menschen suchten nach Heil. Auch in Wien gab es ein kräftiges religiöses Leben und auch die frühe Reformation war sehr vital. Die reformatorischen Ideen Martin Luthers fielen auf einen fruchtbaren, vom Humanismus und Kirchenkritik geprägten Boden. Antiklerikalismus und Pfaffenhass waren weit verbreitet und die kirchlichen Missstände - dazu gehörte die kritisierte Lebensweise und Pfründenanhäufung der Priester, deren ungenügende Ausbildung, besonders aber der Ablass, der das Heil der Menschen an die Bezahlung von Geldbeträgen band - wurden offen diskutiert und kritisiert."
Dem Aufstieg reformatorischen Denkens und Glaubens stand ein Niedergang und eine – wohl auch selbst verursachte – Schwächung des Katholischen zur Seite. Noch einmal Astrid Schweighofer:
"Der reformatorischen Aufbruchsstimmung stand der beobachtbare zunehmende Niedergang des katholischen Kirchenwesens gegenüber; das belegen Visitationen zwischen 1544 und 1566. Die katholische Seelsorge schwächelte, althergebrachte Frömmigkeitstraditionen fanden ihr Ende. Viele Klöster waren verwaist und es fehlte vor allem auch am geeigneten kirchlichen Nachwuchs. Weder der Wiener Bischof Johann Fabri noch dessen Nachfolger Friedrich Nausea konnten diesem Zustand mit ihren Reformbemühungen Abhilfe schaffen. Die Berufung der Jesuiten nach Wien im Jahr 1551 durch Ferdinand I., war zumindest aus katholischer Sicht also durchaus berechtigt und ein entscheidender Schritt in Richtung Rückkehr zum alten Glauben. Die Evangelischen waren Mitte des 16. Jahrhunderts nämlich in der Mehrheit. Schätzungen gehen von einem evangelischen Bevölkerungsanteil von bis zu 80 Prozent aus. Es gab also einiges zu tun für die Vertreter der Gesellschaft Jesu."
Ein kirchlicher Scherbenhaufen
Und einer dieser Vertreter der Gesellschaft Jesu war Petrus Canisius. Ein Anhänger dieser damals noch ganz jungen, unbekannten Ordensgemeinschaft, der Jesuiten. Als er 1552 nach Wien gesendet wurde, sollte er dort innerhalb weniger Jahre in einem erstaunlichen Tempo wichtige und nachhaltige Dinge initiieren – wie etwa die Gründung eines Jesuitenkollegs, seine "Summa doctrinae christianae", also seinen Katechismus – und auch an der Universität leistete er Wiederaufbauarbeit. Dazu der Wiener katholische Kirchenhistoriker Thomas Prügl:
"Der Protestantismus hat einen enormen Zulauf in Wien gefunden. Wir dürfen davon ausgehen, dass große Teile der Wiener Bürgerschaft protestantisch geworden sind, also sehr stark dem protestantischen Glauben und der neuen evangelischen Religion zugewendet sind. Die Kirche liegt am Boden, sowohl personell als auch institutionell als auch wirtschaftlich. Die Universität liegt am Boden und allen voran hier auch die Theologie. Mitte des 16. Jahrhunderts, in den vierziger Jahren schon, sind nur noch zwei Theologieprofessoren übrig geblieben von dieser stolzen Universität. Theologiestudenten gehen in den zweistelligen Bereich herunter. Angeblich hat es 1540 oder 1549 nur noch 10 höhere in der Theologie gegeben. Es hat 20 Jahre keine einzige Priesterweihe in Wien gegeben. Das, glaube ich, sind schon Zahlen, die ausdrücken, dass man hier kirchlich vor einem Scherbenhaufen stand."
In dieser Situation erwies sich Canisius als strategisch kluger Kopf, der alle Register zu ziehen vermochte: Er war begehrter und erfolgreicher Prediger, er war ein gebildeter Theologe, er sah früh die Notwendigkeit aktiver Bildungsarbeit und er kannte die Fallstricke kirchlicher Hierarchie gut genug, um das Angebot, Bischof von Wien zu werden, abzulehnen. Er wurde zumindest Administrator – und auch das zeitlich begrenzt. Noch einmal Thomas Prügl:
"Er arbeitete an verschiedenen Fronten: Zum einen an der Universität mit seinen Vorlesungen. Dann war er Rektor des Kollegs. Dann wollte er Seelsorger sein, und das hieß für ihn Prediger. Er predigte regelmäßig in den Kirchen, aber auch bei Hofe und darüber hinaus hatte er ein waches Auge auf die Vorgänge in der Diözese Wien. Die Diözese Wien ist ein kleines Gebilde gewesen in der großen Kirche der frühen Neuzeit. Sie war ja noch relativ jung, 1469 erst als Bistum gegründet, mit einer minimalen Ausstattung. Mitte des 16. Jahrhunderts besteht die Diözese Wien aus 14 Pfarren. Von diesem 14 Pfarren waren bei der Visitation Anfang der 1540er-Jahre nur drei besetzt. Nur drei hatten einen Pfarrer. Also der Priestermangel war eklatant. Wir haben immer jahrelange Sedisvakanzen dazwischen, bis man wieder jemanden gehabt hat. Das Glück für Wien war, dass man von 1531 bis 1551 zwei sehr gute Bischöfe gehabt hat. Einmal den Johannes Fabri und den Friedrich Nausea. Als Nausea stirbt und Canisius nach Wien kommt, war es für Ferdinand schon sehr bald klar, dass Canisius aufgrund seines Charismas, seines Eifers, seiner intellektuellen Qualität ein idealer Bischof wäre; und der bekniet ihn: Du musst Bischof werden. Canisius hat sich vehement dagegen gewehrt, Bischof zu werden, genauso wie Ignatius von Loyola, weil sie wussten: Wenn wir diese Karrierestufe betreiben, ist der Orden am Ende. Wir stehen nicht für die alten Formen der Theologie, wo du nichts bewirken kannst; wir müssen Graswurzelarbeit leisten - und das kannst du als Bischof nicht machen. Sie wehren sich vehement dagegen, so sehr, dass das der Fürst jetzt den Nuntius schon einschaltet. Man will über den Papst erreichen, dass Canisius Bischof von Wien wird. Und mit diesem massiven Geschützen, die hier aufgefahren werden, erklärt sich dann letztlich Ignatius bereit und sagt: Gut, wir stimmen zu. Nicht, dass er Bischofs wird, sondern dass er für ein Jahr die Verwaltung der Diözese übernimmt."
Wanderer zwischen den Welten
Doch das alles berührt noch nicht die eigentliche Frage, das eigentliche Movens, aus dem heraus Canisius handelte: Es war dies seine unerschütterliche Überzeugung von der Wahrheit des Katholizismus – und der Falschheit aller reformatorischen Anliegen. In dieser verbohrten Haltung zeigte sich Canisius theologisch teils engstirnig, teils verblendet – etwa in seiner Verteidigung der Hexenverbrennungen. Der Innsbrucker katholische Theologe und Kirchenhistoriker Mathias Moosbrugger hat in einer aktuellen Publikation Canisius als "Wanderer zwischen den Welten" beschrieben: teils absonderlich mittelalterlich, teils aber auch modern und bis heute faszinierend. Blicken wir zunächst mit Moosbrugger auf den kompromisslos katholischen Denker und Ordensmann Canisius, dessen gesamtes Streben als Antithese gegen den Protestantismus gerichtet schien:
"1543 und damit mit Anfang 20 hatte er in einem Brief an seine Schwester Vendelina festgestellt, wie fatale sei, und ich zitiere ihn hier wörtlich, wie fatal es sei, dass die blinden Menschen sich durch eitles Vertrauen auf die Barmherzigkeit unseres Herrn verführen lassen. Das war natürlich ganz gegen die Protestanten gesagt, die jedwede Leistungsreligiosität durch eine nur auf dem Glauben basierende Gnadenreligiosität ablösen wollten. Als Lebensregel für einen guten Christenmenschen hat Petrus Canisius demgegenüber das Motto aufgestellt: Mit Gottes Barmherzigkeit wollen wir immer so handeln, dass wir seiner Gerechtigkeit entsprechen. Das heißt, man darf sich nicht einfach nur auf die göttliche Barmherzigkeit hinausreden, sondern muss die göttlichen Vorschriften voll und ganz erfüllen. Und was diese Vorschriften sind, das sagt mit verbindlicher Autorität die katholische Kirche. Kompromisslos katholisch zu leben also war das persönliche Lebensziel des jungen Petrus Canisius."
Canisius stand mit seiner ganzen Existenz also in einer enormen Spannung. Der theologische Goldstandard war für ihn der Katholizismus, keine Frage. Zugleich lebte und wirkte er in einer Umgebung etwa in Wien, wo 80 Prozent dem evangelischen Glauben anhingen. Was war die Folge? Verzweiflung? Rückzug in das eigene spirituelle Schneckenhaus? – Nein, im Gegenteil: Canisius lebte eine "Mystik der Weltfreudigkeit", so Mathias Moosbrugger.
"Was ich mit der Mystik der Weltfreudigkeit meine, ist ganz schlicht und einfach, dass dieser Petrus Canisius in seinem Verhältnis zur Welt nicht nur ein hundertprozentiger konfessionalistischer Katholik des 16. Jahrhunderts, sondern auch ein hundertprozentiger Jesuit war. Der Hintergrund ist folgender: Im Mai 1543 hat er sich unter dem umwerfenden Eindruck der ignatianischen Exerzitien beim großen Peter Faber diesem seltsamen neuen Jesuitenorden angeschlossen, der noch keine drei Jahre alt und nördlich der Alpen noch nahezu unbekannt war. Die Jesuiten waren aber in einem kapitalen Punkt so ganz anders als seine bisherigen religiösen Helden, die Kartäuser: Sie wollten sich nämlich nicht aus der Welt zurückziehen, sondern in die Welt hinausgehen und sie gestalten - ganz im Sinne des von Jerónimo Nadal geprägten Mottos: Die Welt ist unser Zuhause."
Karl Rahner und Petrus Canisius in überraschender Nähe
Es ist eine erstaunliche, eine theologisch irritierende Allianz, die Moosbrugger da sieht bzw. schmiedet: Die Allianz von Karl Rahner, dem großen Innsbrucker Jesuiten und katholischen Denker der Moderne – und Petrus Canisius. Moosbrugger zieht diese Verbindungslinie anhand eines Zitats von Karl Rahner:
"In seiner Weltflucht zu Gott muss der Christ bekennen, dass man auch durch die Welt denselben jenseitigen Gott erreichen kann, den zu finden der Christ die Welt versinken ließ. Diese Grundhaltung ist auch das spirituelle Geheimnis der Kraft von Petrus Canisius in seinen konkreten historischen Kontext. Er hat, theologisch gesagt, darauf vertraut, dass Gott auch bei denen Heil wirken kann, deren Wege nicht dem katholischen Goldstandard entsprachen, den er an sich selbst anlegte und für den er unermüdlich arbeitete. Er hat im Vertrauen auf Gott im konkreten Umgang mit ganz konkreten Menschen eine imposante theologische und pastorale Inkonsequenz gelebt: Er ist ganz klar mit großem Nachdruck für seine klaren religiösen Haltungen, die mitunter heute etwas seltsam klingen, eingetreten und hat mit Feuereifer daran gearbeitet, Deutschland wieder katholisch zu machen, und zwar idealerweise zu 100 Prozent."
Ein wichtiges Werkzeug auf diesem Weg wurde Canisius sein Katechismus – ein Lehrbuch, das er in verschiedenen Versionen und für verschiedene Zielgruppen formulierte. Dazu noch einmal Thomas Prügl:
"Luther hat einen Katechismus geschrieben, der enorm erfolgreich war, der auch das Seine dazu beigetragen hat, dass der evangelische Glaube im Volk rasend schnell breite Akzeptanz gefunden hat - weil hier in einfacher Sprache, in deutsche Sprache die fundamentalen Überzeugungen Luthers dargelegt worden sind. Es hat lange gedauert, bis die katholischen Kontroverstheologen gemerkt haben: Wir haben nichts Vergleichbares auf unserer Seite. Canisius gehört hier zu den Ersten, und er beginnt ein sehr einfach gestricktes Buch zu schreiben, in dem er in Frageform damals schon die wichtigsten Themen anschneidet und sie kurz beantwortet. Dieser erste Katechismus ist noch so ein Zwischending zwischen theologischem Lehrbuch und Volkskatechismus. Er ist auf Latein geschrieben, er heißt 'Summa Doctrinae Christianae', also die Summe der christlichen Lehre. Er ist aber so elementar, dass sowohl der Fürst begeistert war als auch der Ordensgeneral Ignatius selbst. Und man bittet Canisius: du musst das auch übersetzen, damit das in der Landessprache verfügbar ist. Und da kommt dann der zweite Schritt neben dem ersten, der dann später Großer Katechismus genannt wird, schreibt Canisius auch einen Kleinen Katechismus in deutscher Sprache, der für die Pfarrer und fürs einfache Volk gedacht war, in die Zeit hinein fürs interessierte Volk. Und sollte schließlich noch ein dritter Katechismus folgen, der noch einmal elementar war, der dann für die Schulausbildung, und zwar für die Grundschulausbildung gedacht gewesen war."
Versuch einer (ökumenischen) Würdigung
Was folgt aus all dem mit dem Abstand von 500 Jahren? Pure Lobhudelei wäre unangemessen; außerdem ist Canisius schlichtweg kein Zeitgenosse mehr. Er bleibt ein Mensch auf der Schwelle der Neuzeit, verhaftet einem uns heute kaum mehr zugänglichen Weltbild und Glaubenshorizont. Und doch kann man – durchaus ökumenisch – einen Brückenschlag versuchen und mit Thomas Prügl drei Aspekte herausdestillieren, die Canisius vielleicht sogar für evangelische Mitchristen heute anschlussfähig machen:
"Wo kann Canisius uns für heute etwas sagen? Ich denke, die Begeisterung für die Bildung, die er hatte, die Begeisterung für die Sprache und nicht zuletzt die Begeisterung für eine Bibel-Frömmigkeit, das wird immer gerne übersehen. Die jungen Jesuiten haben dazu beigetragen, dass auch die Heilige Schrift neu entdeckt wird. Es ist eine Bibel-Frömmigkeit, die ihren Reiz bis in die heutige Zeit hat, eine intensive Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift. Ein zweiter Aspekt, der mir auch nicht unsympathisch ist: eine gewisse Hierarchie-Skepsis. Die Art und Weise, wie er selbst das Bischofsamt abgelehnt hat, weil er gesagt hat, es gibt Wichtigeres zu tun, als zu herrschen, zeugt von einer gewissen Demut, die einer Pastoral immer gut ansteht."
Damit sind wir am Ende der heutigen Folge "Diesseits von Eden" – ich gelobe, der 500-Jahr-Jubiläen ist’s nun genug. Bleiben Sie uns also gewogen – und schalten Sie auch beim nächsten Podcast wieder ein. Vielen Dank fürs Zuhören sagt: Henning Klingen.